Öffentliche Schulen
: „Der aktuelle Lösungsweg ist der falsche“

Vergangene Woche startete der OGBL eine Kampagne gegen die Privatisierung Luxemburger Schulen. Wir haben mit Patrick Arendt, Präsident des SEW-OGBL, über gegenwärtige Entwicklungen und die Sinnhaftigkeit differenzierter Lernangebote gesprochen.

Sew-Präsident, Patrick Arendt, zeigt sich besorgt über gegenwärtige Entwicklungen 
im Schulwesen.
 (Foto: © privat)

woxx: Worum geht es bei Ihrer Kampagne?


Patrick Arendt: Wir haben festgestellt, dass durch die strukturellen Reformen von Herrn Meisch, die bereits unter Frau Delveaux begannen, die öffentliche Schule in den letzten Jahren geschwächt wurde. Die Autorität der öffentlichen Schule und die Lehrkräfte wurden von der Politik in Frage gestellt. Eltern haben das Gefühl, dass nichts mehr funktioniert und fangen an, sich nach Alternativen umzuschauen – auch wenn diese kostenpflichtig sind. Da sind wir dann beim neoliberalen Geist: Es wird in die eigenen Gene investiert. Von der Politik wird das verstärkte Aufkommen von Privatschulen damit gerechtfertigt, dass eine Nachfrage dafür bestehe. Dabei hätte man sich auch dafür entscheiden können, öffentliche Schulen soweit zu stärken, dass der Bedarf an Privatschulen gar nicht erst aufkommt. Wir haben die Parteien damit konfrontiert, diese wollen das Problem allerdings nicht als solches anerkennen. Wir sind dann an den OGBL herangetreten, da dieser sich ja bekanntlich für diejenigen Bevölkerungsschichten einsetzt, die am meisten unter der Privatisierung der Schulen leiden.

Wer soll mit der Kampagne angesprochen werden?


Uns geht es in erster Linie darum, jetzt vor den Wahlen die Politik zu sensibilisieren. Die Regierungsparteien neigen dazu, der DP die gesamte Verantwortung zuzuschieben. Wir fordern deshalb, dass alle Parteien vor den Wahlen zu dieser Thematik Position beziehen. Es geht uns aber auch darum, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Das ist allerdings schwierig, weil die meisten Eltern auf das Wohl ihrer eigenen Kinder konzentriert sind und sich wenig für die generellen Probleme interessieren, die eine Privatisierung mit sich bringt.

Worin bestehen denn die generellen Probleme?


Die öffentliche Schule hat im Grunde zwei Ziele: Das eine besteht darin, jedem einzelnen die bestmögliche Bildung zu ermöglichen, das andere darin, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zur Integration beizutragen. In einer Gesellschaft, in der der Einzelne nur nach sich schaut, hat die öffentliche Schule die Aufgabe, Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit zu vermitteln. Im Kontrast dazu stehen die Privatschulen, wo nur nach dem Einzelnen geschaut wird. Sie fördern Egoismus und Konkurrenzdenken. Privatschulen stellen ein auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittenes Programm bereit, was aber nicht im Interesse der gesamten Gesellschaft liegt. Kinder reicher Eltern besuchen Privatschulen und bleiben unter sich, und alle anderen Schulen werden 
zu Ghettoschulen. Chancengleichheit ist überhaupt nicht mehr gegeben. Dadurch driftet die Bevölkerung auseinander. Genau diese Entwicklung können wir im Moment in Großbritannien und in den USA beobachten. Hierzulande werden zurzeit die Weichen dafür gestellt und deshalb ist es wichtig, schnell zu reagieren.

Ist nicht auch ein Anspruch der öffentlichen Schule, ein differenziertes Angebot zu schaffen, das an individuelle Bedürfnisse der Schüler*innen angepasst ist?


Was Sie gerade gesagt haben, würde natürlich sofort jeder unterschreiben. Das ist das offizielle Ziel, das der Minister vorgibt. Das entspricht aber nicht der Realität. Auch Frau Delveaux hatte schon den Anspruch, „Kinder dort abzuholen, wo sie stehen“. Der zweite Teil des Satzes ist aber der Wichtigste: Wir verfolgen für alle das gleiche Ziel. Das ist aber nicht der Fall. Im Moment differenzieren wir nur, indem beispielsweise einzelne Schulfächer fallen gelassen werden können. Ist jemand nicht gut im Französischen, wählt er nur englischsprachige Kurse. Auf diese Weise werden die Schwächen der Kinder nicht behoben. Resultat davon ist, dass unterschiedliche Abschlusszeugnisse nicht mehr miteinander vergleichbar sind. Je nachdem für welchen Kurs sich ein Schüler entschieden hat, hat er schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wer die französische Sprache nicht beherrscht, kann beispielsweise nicht im öffentlichen Dienst arbeiten. Überhaupt ist das Ideal der Differenzierung in der Praxis nur sehr bedingt umsetzbar. Es ist nicht möglich, für jedes Kind ein individuelles Programm auszuarbeiten. Stattdessen soll versucht werden, Schülern, die es am nötigsten haben, am meisten zu helfen. Und nicht, wie es immer wieder gefordert wird, alle Kinder gleichermaßen zu fördern. Wenn starke Schüler genauso gefördert werden wie schwache, überwiegen Egoismus und Konkurrenzdenken. Das spaltet die Gesellschaft.

Schüler*innen verfügen über ganz unterschiedliche Dispositionen und Sprachkenntnisse. Ist es da realistisch zu fordern, dass alle die gleichen Kompetenzen erlangen sollen?


Nein, das ist nicht realistisch. Aber wir müssen definieren, was wir wollen. Das Wichtigste ist, dass wir in unserer Gesellschaft alle miteinander reden können. Zu sagen, die einen machen Englisch, die anderen Französisch, noch andere Deutsch, ist keine Option. Dreisprachigkeit muss ein Ziel bleiben. Wir sind dabei, es aufzugeben. Es stimmt nicht, dass die englischen Schulen nur von Kindern besucht werden, die kurzfristig im Land sind: Bei mehr als einem Drittel handelt es sich um Luxemburger oder Schüler, die ihre gesamte Schullaufbahn in Luxemburg durchlaufen haben. Für sie stellen solche Schulen eine Ausweichmöglichkeit dar. Das ist der falsche Weg. Wir haben eine komplexe Sprachensituation und darauf müssen wir reagieren, indem wir uns die nötigen Mittel, und Schülern eine adäquate Unterstützung geben. Das muss unser Ziel sein, auch wenn dieses natürlich nicht immer erreicht werden kann. Im Moment werden in der Grundschule diejenigen aussortiert, die schwach im Deutschen sind, und im Classique, diejenigen, die schwach im Französischen sind. Das ist natürlich auch ein No-Go und dagegen müssen wir etwas unternehmen. Der aktuelle Lösungsweg ist allerdings der falsche. Man muss die jeweiligen Sprachen zwar nicht unbedingt auf dem gleichen Niveau beherrschen, es ist aber wichtig, sie zumindest alle sprechen können.

Was ist problematisch daran, wenn öffentliche Schulen zueinander in Konkurrenz gesetzt werden?


Jedes Lyzeum versucht, möglichst viele Schüler anzulocken. Es gibt mittlerweile Eliteschulen. Die meisten wissen, dass die guten Schüler ins Athenäum kommen. Eltern schicken ihr Kind beispielsweise dahin, um dort den Chinesischen Kurs zu besuchen. Das aber nicht, um chinesisch zu lernen, sondern weil sie wollen, dass ihr Kind mit den Besten des Landes in einer Klasse ist. Die Lyzeen im ländlichen Raum versuchen diejenigen einzusammeln, die dann noch übrig bleiben, was hauptsächlich Schüler mit schwachem sozio-ökonomischem Hintergrund sind. Früher ging man in das nächstgelegene Lyzeum, heute wird auf Basis der Schülerpopulation entschieden. So entstehen Ghettoschulen. In der Hauptstadt besuchen mittlerweile 54 Prozent der Schüler eine Privatschule.

Wie bewerten Sie das Classique-Technique-Modulaire-System in diesem Zusammenhang?


Wir stehen immer noch für eine Gesamtschule. Das heißt nicht, dass wir alle in einen Klassensaal setzen wollen, um dann zu schauen, was dabei herauskommt. Da stehen ganz weitreichende Überlegungen dahinter. Wir werden diese Diskussion aber jetzt nicht wieder anstoßen, das würde nur einen zusätzlichen Vertrauensverlust bewirken. Ich glaube, dass sich die Probleme, die ich eben angesprochen habe, auch ohne Gesamtschule lösen lassen.

Sie haben sich dagegen ausgesprochen, Schulprogramme nach den Erfordernissen des Arbeitsmarktes auszurichten, ist das richtig?


Gegen eine ausschließliche Ausrichtung nach dem Arbeitsmarkt, ja. Es kann nicht sein, dass alles dem Arbeitsmarkt unterworfen wird. Wir müssen junge Menschen zu kritischen Bürgern erziehen. Wir brauchen einen ganzen Bürger, der die Gesellschaft tragen kann. Die Alternative sind Menschen, die die politische Situation nicht einschätzen können, und sich bei Wahlen für Extreme entscheiden. Ein Rechtsruck wird auch dadurch begünstigt, dass Bürger nicht in der Lage sind, die politische Lage zu analysieren und anfangen, nach einfachen Lösungen suchen.


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