Peer Steinbrück
: Der diskrete Charme der politischen Selbstbetrachtung


Vom taffen Schröderianer zum halbherzigen Exponenten linker Sozialdemokratie: Vor acht Jahren zog Peer Steinbrück mit „Unterm Strich“ eine Bilanz seines politischen Wirkens das damals mit seinem Ausscheiden als Bundesfinanzminister ein vorläufiges Ende fand.

Peer Steinbrück im 
Wahlkampf-Sommer 2009. 
Der Noch-Finanzminister unterstützt seine Parteikollegin Monika Simshäuser im nordrhein-westfälischen Hamm.F (oto: Dirk Vorderstraße/flickr.com CC BY 2.0)

Griechenland ist immer noch in höchsten staatspolitischen Nöten, der Niedriglohnsektor der Bundesrepublik brummt auf Hochtouren, politische Divergenzen der europäischen Regierungen über einheitliche Finanzregulierungen – die gleichen Probleme mit denen sich schon Peer Steinbrück rumschlagen musste, sind immer noch akut. Steinbrücks Unterm Strich ist keine Autobiographie voller privater Anekdoten und Nichtigkeiten sondern ein durch und durch politisches Buch: eine Bilanz über das politische Wirken (und Wanken) des knurrig-knorrigen Hanseaten. So werden die wichtigsten Stationen seiner langen politischen Karriere skizziert: persönlicher Referent des ehemaligen Bundesministers Hans Matthöfer in der sozialliberalen Koalition, Hilfsreferent von Ex-Kanzler Helmut Schmidt, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen sowie Bundesfinanzminister der ersten Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel ab Herbst 2005. Der Fokus seines Werkes liegt dabei eindeutig auf seiner Tätigkeit als Bundesminister während der stürmischen Zeit der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007/2008.

So erwähnt Steinbrück zwar im Vorwort, dass er sich mit dem Schreiben eines Buches einen lang gehegten Wunsch erfüllt hat, doch die Frage nach dem wieso bleibt unbeantwortet. Was waren Steinbrücks Motive? Der Versuch eines zusätzlichen Legitimationsfaktors für die Spitzenkandidatenkür der SPD für die Bundestagswahl 2013? Der Plan, eine ehrliche Bilanz zu ziehen im Angesicht einer möglichen Neubewertung der umstrittenen Agenda 2010-Reformen der rot-grünen Jahre? Die intellektuelle Herausforderung, seine wirtschaftspolitischen Ansichten und Gedanken in Buchform kompakt und prägnant zusammenzufassen? Die erste Stufe, um im öffentlichen Wahrnehmungsprozess als Elder Statesman aufzutreten? Die Möglichkeit, seine ohnehin beträchtlichen Nebeneinkünfte noch einmal zu erhöhen? Vielleicht eine Mischung aus alledem.

Was die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 betrifft, so überrascht Steinbrück mit einer durchaus differenzierten Analyse. Er konstatiert, dass das Prinzip des Förderns und Forderns nicht richtig funktioniert hat und spricht sich sogar für die Einführung des allgemein verbindlichen Mindestlohns aus um den Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik – der größte Niedriglohnsektor der Europäischen Union – einzudämmen. Der Mindestlohn, unter Rot-Grün noch heftig umstritten, fand schließlich seinen Weg in die Programmatik der SPD und wurde 2015 eingeführt. War Steinbrücks Einsatz für den Mindestlohn während des Wahlkampfes 2013 das Ergebnis einer persönlichen Meinungsänderung oder nur die Konsequenz des Drucks der mächtigen innerparteilichen Spitzengremien und des erstarkten linken Flügels der Genossen? Diese Frage vermag wahrscheinlich nur Steinbrück selbst zu beantworten, doch leider tut er es nicht.

Momente kritischer Selbstreflexion

Gleichwohl distanziert sich Steinbrück politisch nicht komplett von der Agenda 2010, die grundsätzliche Herangehensweise der Hartz-Reformen findet er nach wie vor richtig. So verteidigt er stellenweise die Reformen mit der Behauptung, dass damit die Verwaltungskosten und die Sozialausgaben erfolgreich gesenkt worden seien. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Aufgrund der schwammig formulierten Gesetzestexte, welche große Teile der Sanktionspolitik der Arbeitsämter und deren konkreten Funktionsweisen nicht klar genug definierten, und aufgrund klagefreudiger Betroffener sind die Verwaltungskosten nach der strukturellen Umorganisation der Hartz-Reformen explodiert. Selbst die Sozialausgaben trugen nicht zur Entlastung des staatlichen Haushalts bei. So schrumpften zwar im Einzelfalle für viele Arbeitslose die staatlichen Stützungsleistungen, doch in der Quantität des staatlichen Gesamtvolumens sind die Sozialausgaben seitdem kräftig gestiegen.

Was die SPD-interne Debatte über die Hartz-Reformen angeht, hält Steinbrück sich weitgehend bedeckt. Auch erkennt er in dem arbeitsmarktpolitischen Umschwung der damaligen sozialdemokratischen Führungsspitze von der traditionellen Programmatik der Partei keinen Grund für die massive Abwanderung der Wähler und der Stammklientel. Derlei Bedenken wischt er mit dem Argument zur Seite, dass es schon seit den frühen 1990er-Jahren kontinuierliche Abwanderungstendenzen sozialdemokratischer Wähler gegeben habe. Ein Argument was freilich hinkt: Ein Blick in die Statistiken belegt zwar, dass die SPD in den 1980er- und 1990er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder leichte Einbußen bei den Wahlen erfuhr, doch erst seit der Schröder-Ära haben die Sozialdemokraten ungefähr die Hälfte ihrer Wähler verloren, auch das schlechteste Wahlergebnis der Nachkriegszeit fällt in diese Zeit.

Dennoch muss man Steinbrück zugutehalten, dass er der einzige Sozialdemokrat der rot-grünen Reformer ist, der wenigstens ansatzweise versucht eine ehrliche Diskussion über die Agenda 2010 mit seiner Partei zu führen. Franz Müntefering hat sich weitgehend zurückgezogen, Frank-Walter Steinmeier versteckt sich hinter präsidialen Redefloskeln auf Schloss Bellevue, Peter Struck ist tot, Wolfgang Clement hat mit seinem FDP-Beitritt seinen jahrelangen Gestus der politischen Provokation perfektioniert und Gerhard Schröder hat sich ebenfalls weitgehend ins Privatleben zurückgezogen, in welchem er alle paar Monate den teuren Rotweinkeller aufstockt und in routinierter Regelmäßigkeit die Pipeline-Schecks abheftet. Steinbrück unterscheidet sich von diesen Leuten durch die in seinem Buch durchaus vorhandenen Momente kritischer Selbstreflexion. Damit bildet er eine wohltuende Ausnahme für die Politikergeneration der Basta-Politik der Schröder/Fischer-Ära.

Unterm Strich, 
Peer Steinbrück, Hoffmann und Campe Verlag, 2010, ISBN 3455307213, 9783455307214, 480 Seiten.

Gemeinhin gilt Steinbrück als Wirtschaftsfachmann und geistiger Nachfolger Helmut Schmidts; kühl, rational – ein Mann mit Durchblickgarantie in Zeiten globaler ökonomischer Interdependenzen. Bei einer näheren Analyse seines Buches zeigt dieses Bild jedoch Risse. Dies fängt gleich im Vorwort seines Werkes an. Peer Steinbrück erwähnt die Eurokrise als er über die wirtschaftlichen Probleme der Eurozone referiert. Jeder sachverständige Ökonom weiß, dass dieser Begriff der Eurokrise fundamental falsch ist, denn wie unter anderem Helmut Schmidt schon einst treffend schrieb, handelt es sich hierbei nicht um eine Eurokrise, da die Währung an sich nie ernsthaft infrage gestellt wurde oder bedroht war, sondern um eine Refinanzierungskrise einzelner Euroländer. Eine währungs- und wirtschaftspolitische Tatsache, die auch der aktuelle Kommissionspräsident der Europäischen Union, Jean-Claude Juncker, nicht müde wird zu betonen. Für einen Mann wie Peer Steinbrück, der seine Weihe zum sozialdemokratischen Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2013 öffentlichkeitswirksam sogar durch Altkanzler Schmidt himself im SPIEGEL-Magazin empfangen hatte, ein ärgerlicher Anfängerfehler.

Doch der sozialdemokratische Elefant tapst in seinem Buch weiter durch den wirtschaftspolitischen Porzellanladen. So kritisiert Steinbrück zwar nach Ausbruch der Krise zu Recht den bankeninternen Handel mit den Kreditderivaten, welche es ermöglichten die Ausfallrisiken von Krediten und Anleihen zu verwischen – dabei waren Steinbrück und sein damaliger Staatssekretär Jörg Asmussen vorher stets gewichtige Befürworter der Deregulierung des Finanzplatzes und des weiteren Ausbaus des Verbriefungsmarktes gewesen. Im Koalitionsvertrag von 2005 war die Rede von Produktinnovationen, welche den Finanzort Deutschland stärken sollten.

Ökonomische Widersprüche

An einer Stelle seines Werkes doziert Steinbrück über die chronisch schwache Binnennachfrage in Deutschland, an einer anderen Stelle rühmt er sich seines Einsatzes zur Durchführung der Mehrwertsteuererhöhung von 16% auf 19% für das Jahr 2007. Dabei ist es eine volkswirtschaftliche Trivialität, dass eine ohnehin sehr schwache Binnenkonjunktur (in der Bundesrepublik ausgelöst unter anderem durch die von Rot-Grün politisch gewollte, jahrelange prinzipielle Lohnzurückhaltung der deutschen Arbeitnehmerschaft) durch eine kräftige Mehrwertsteuererhöhung weiter abgewürgt wird. Doch dieser ökonomische Widerspruch, den jeder Student im diesbezüglichen Studiengang bereits im Erstsemester zu erkennen vermag, kommt dem Spitzenökonomen Peer Steinbrück nicht in den Sinn.

Was die Griechenlandproblematik betrifft, so gelingt Steinbrück jedoch tatsächlich das Kunststück einer ökonomisch-sachlich fundierten Beschreibung der Lage. Hier verknüpft er die Debatte um die griechischen Staatsschulden mit einer progressiven, europapolitischen Grundüberzeugung, indem er leidenschaftlich für den Verbleib Griechenlands in der Eurozone kämpft. Eine währungs- und europapolitische Position, die in der damaligen und heutigen politischen Lage der Bundesrepublik keineswegs selbstverständlich ist. Hier tappt Steinbrück nicht in die populistische Falle, die Art von billigen Anti-Euro Polemiken zu produzieren, welche den deutschen Büchermarkt auch heute noch überfluten. Steinbrück zeigt tatsächlich ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen für die griechische Bevölkerung und verkneift sich sämtliche Zuchtmeisterphrasen.

Pöbelnde Töne gegenüber des griechischen Schuldendebakels sucht man in seinem Werk Gott sei dank vergebens. Kein pseudowissenschaftlicher Währungsrassismus à la Thilo Sarrazin, kein kläffender Einpeitscher wie Volker Kauder („Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen“), keine Ratschläge von Markus Söder in seiner ihm eigenen unnachahmlichen Mischung aus Ignoranz und Arroganz („An Athen muss ein Exempel statuiert werden“), keine Einreihung in den Chor der Apologeten der währungspolitischen Apokalypse wie Bernd Lucke, Peter Gauweiler oder Hans-Olaf Henkel, die schon bei Erscheinen des Buches gefühlt einmal pro Woche den Tod des Euro ausriefen, keine stumpfe Hetzkampagne wie die BILD-Zeitung („Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleitegriechen“) – die Liste ist endlos. Peer Steinbrück gebührt hier das Verdienst, die wirtschaftspolitische Debatte auf ein vernünftiges Niveau ohne offene (und unterschwellige) Ressentiments herunterzubrechen und sich gegen den Zerfall der Eurozone und der Europäischen Union konsequent zu wehren.

Raphael Lemaire studiert Soziologie und Politikwissenschaften in München.

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