Politik & Verbrechen
: Spinne oder Fliege


Mit „Der König der Favelas“ legt der britische Journalist Misha Glenny eine porträtierende Reportage über einen brasilianischen Gangster vor, die spannend ist wie ein Roman.

1370PolBuchDie Szene ist filmreif. Im November 2011 hält die Polizei in Rocinha, einer Favela im Süden von Rio de Janeiro, einen Toyota Corolla an. In dem Auto sitzen drei Anwälte. Sie werden von den Polizisten aufgefordert, den Kofferraum zu öffnen. Darin liegt zusammengekauert ein schlanker Mann in blau-weiß gestreiftem Hemd und schwarzer Hose. Die Polizisten packen ihn an Händen und Füßen und heben ihn aus dem Wagen. Es ist Antônio Francisco Bonfim Lopes, genannt Nem. Sieben Jahre lang war er Herrscher über die Favela, in der rund 120.000 Menschen leben und die in Nachbarschaft zu den Reichenvierteln São Conrado und Gávea liegt.

Die Aktion erscheint wie eine Farce: Drei Polizeieinheiten streiten sich, wer Nem verhaften und in Handschellen legen darf, während das Fernsehen die Festnahme live überträgt. Nem war von 2006 bis 2011 einer der größten Drogenbosse Rios und der meistgesuchte Verbrecher Brasiliens. Laut Staatsanwaltschaft war er der „Boss der Bosse“. Und er war ein Anführer der Gang „Amigos dos Amigos“, die sich in Rio blutige Kämpfe mit verfeindeten Banden lieferte. Unmittelbar nach seiner Verhaftung stürmte das BOPE, eine Sondereinheit der Polizei, die Favela und begann mit der sogenannten Befriedung Rocinhas. Nach dem BOPE kam die Unidad de Polícia Pacificadora (UPP), die Friedenspolizeieinheit, um die Gangs langfristig von der Favela fernzuhalten. Ziel der Befriedung war, die Macht des organisierten Verbrechens zu brechen und die Armenviertel wieder unter staatlich-polizeiliche Kontrolle zu bringen.

Nem sitzt heute im Hochsicherheitsgefängnis Campo Grande im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Angeklagt ist er wegen der Anstiftung zum Mord und anderer Delikte. Misha Glenny hat ihn dort mehrmals besucht und ausführlich interviewt. Der britische Journalist, der für den „Guardian“ und die BBC arbeitete, gilt als Experte für organisierte Kriminalität. In seinem Buch „McMafia. Die grenzenlose Welt des organisierten Verbrechens“ untersuchte der 58-Jährige die globale Ausbreitung von Mafiastrukturen, in „YaberCrime: Kriminalität und Krieg im digitalen Zeitalter“ zeigte er, wie Kriminelle das Internet nutzen. Für „Der König der Favelas“ lernte er Portugiesisch und sprach mit Nems ehemaligen Weggefährten sowie mit Politikern und Polizisten. Er lebte drei Monate in Rocinha. Vor allem aber basiert sein Buch „Der König der Favelas“ auf zehn Gesprächen von jeweils dreistündiger Dauer, die er mit Nem im Gefängnis führte.

Nem ist ein außergewöhnlicher Krimineller, weiß Glenny: „Während ein Normaler Favela-Boss nach höchstens eineinhalb Jahren entweder tot oder im Gefängnis ist, hat Nem fast zehn Jahre durchgehalten. Außerdem ist er relativ spät kriminell geworden“. Mit 24 Jahren braucht Nem dringend Geld, um die Behandlung seiner kranken Tochter bezahlen zu können. Er hat fünf Jahre lang als Teamleiter die Verteilung einer Fernsehzeitschrift organisiert, als seine knapp einjährige Tochter Eduarda eine seltene Krankheit bekommt. Ärzte können das Mädchen zwar behandeln. Doch dafür fehlt Nem, zu dieser Zeit noch Antônio genannt, und seiner Frau Vanessa das Geld.

Misha Glenny zeigt, wie das Fehlen staatlicher Ordnung, Korruption und die extreme Polarisierung zwischen Reich und Arm den Nährboden für das organisierte Verbrechen bilden.

So steigt Antônio auf den Morro hinauf, auf den Hügel. Dort hat der lokale Drogenboss Lulu sein Hauptquartier. Antônio bittet Don Lulu um Hilfe. Dieser leiht ihm zwanzigtausend Reais, damals rund zehntausend Euro. Antônio zahlt den Kredit ab, indem er für Lulus Gang Schmiere steht. Seine Bandenkarriere hat begonnen. Da er über viel Geschäftssinn und über mehr Schulbildung als die anderen Gangster verfügt, steigt er in der Hierarchie der „Amigos dos Amigos“ schnell auf. Zudem gilt er als zuverlässig und diskret. Damit hat er das Vertrauen von Don Lulu, der auf ihn zählt.

In der Folge stirbt ein Boss nach dem anderen. Das Leben eines Gangsters währt kurz. Glenny schildert aus Antônios Perspektive, wie dieser sich in Nem zu verwandeln beginnt – und wie er Herrscher von Rocinha wird.

Nem ist beliebt. Der Autor macht keinen Hehl daraus, dass er den Gangsterboss bewundert und beschreibt ihn als sympathischen Drogenboss. Sein Geschäftssinn kommt Nem zu Gute. Die Favela erlebt einen wirtschaftlichen Boom, die Gewalt lässt nach – es gibt weniger Diebstähle und Vergewaltigungen. Nem ist eine Art Bürgermeister von Rocinha. Die Gewinne aus dem Drogenhandel investiert er wieder in sein Viertel. Er verteilt Lebensmittel an arme Familien und vergibt günstige Kredite. Und er besitzt das Gewaltmonopol. Das Tragen von Waffen auf der Straße ist unter seiner Herrschaft verboten. Zugleich unterhält er seine eigene Armee aus 100 bis 150 bewaffneten Leuten. Der Leser erfährt aber auch, dass Nem seine Ehefrau schlägt. Das sind Schattenseiten, die beiläufig erwähnt werden.

Einer der Vorzüge des Buches sind die vielen Detailschilderungen und Fakten, die zum Verständnis der Drogen-, Banden- und Gewaltproblematik in Brasilien beitragen. Dennoch verliert der Autor, trotz des Detailreichtums und des stellenweise an einen Thriller erinnernden reißerischen Stils, nie den Blick fürs Ganze.

Glenny beschreibt nicht nur den Drogen- sondern auch den Waffenhandel. Feuerwaffen gelangen größtenteils aus den USA nach Brasilien. Und er zeigt, wie das Fehlen staatlicher Ordnung, Korruption und die extreme Polarisierung zwischen Reich und Arm den Nährboden für das organisierte Verbrechen bilden. Brasilien scheint im Würgegriff von Drogendealern und deren Anwälten, korrupten Politikern und der nicht minder korrupten Polizei zu stecken. Nem habe in einer der „ungerechtesten Gesellschaften der ganzen Welt“, die von Verbrechen und Korruption durchdrungen ist, seinen eigenen Weg gefunden, schreibt der Autor und fragt: „Ist Nem die Spinne oder die Fliege?“

„Unter Nem war Rocinha keine besonders gefährliche Gegend“, sagt José Mariano Beltrame, Rios Sicherheitschef. Nem sei zwar „kein Vorbild, aber er ist auch nicht der Teufel“, heißt es in dem Buch. Er habe in Rocinha „für Ruhe und Frieden“ gesorgt und die Gewalt eingedämmt. Unter ihm ist die Mordrate in der Favela tatsächlich gesunken. Dabei beruht seine Herrschaft auf drei Säulen: auf Gewalt, Abschreckung und Korruption. Und eben auf der Vergabe von Lebensmitteln und Medikamenten und Krediten an die Bewohner. Nem war kein Psychopath wie beispielsweise der Drogenboss Elias Maluco, der den Fernsehreporter Tim Lopes mit einem Samurai-Schwert enthauptet haben soll. „Nem hat immerhin versucht, sich moralisch zu verhalten, in einer Gesellschaft, in der Moral kaum einen Stellenwert hat“, schreibt Glenny.

Der Autor versucht, zu Nem auf Distanz zu gehen. Doch es gelingt ihm nicht immer, und so ist das Buch von Verklärung und romantischer Überhöhung des Gangsters nicht frei. Hat Nem seine Verhaftung gar selbst arrangiert?, fragt Glenny einmal sein Gegenüber. Nem antwortet mit einem verschmitzten Lächeln.

Der Autor erzählt auch, wie das Kokain vor etwa 30 Jahren nach Rio kam: „1984 begann es in Rio zu schneien, und seitdem hat es nicht mehr aufgehört.“ Mit dem Drogenhandel eskalierte die Gewalt. Glenny zeigt die Hintergründe auf, die zum Auftauchen großer Drogenbanden in Rio und São Paulo führten. Einige entstanden zum Teil als Reaktion auf die unmenschlichen Haftbedingungen in Brasiliens Gefängnissen, und manche hatten anfänglich durchaus soziale Anliegen – bevor sie zu professionellen Verbrecherbanden wurden.

„Der König der Favelas“ ist eine Mischung aus Reportage und historischer Abhandlung und zugleich eine politische Analyse. Als Studie eines Gangsterlebens ist das Buch zwiespältig, aber auch realistisch. Nem wird als ein Robin Hood der Favelas und „aufgeklärter Despot“ dargestellt, aber auch als Schwerverbrecher. Die Frage, ob der Gangster die Fliege oder die Spinne ist, kann Glenny letztendlich nicht beantworten. Wer die Guten wer die Bösen sind, bleibt unklar. Die Gangster sind zugleich ängstliche Teenager ohne Perspektive und kaltblütige Killer. Auch die Rolle der Polizei ist ambivalent: Einige Polizisten verrichten treu ihre Arbeit, andere foltern und töten brutal.

Seit fünf Jahren ist Rocinha befriedet, damit während der bereits zurückliegenden Fußball-WM und bei den bevorstehenden Olympischen Spielen Ruhe herrscht und die Touristen in Sicherheit sind. Wiederum werden zehntausende Polizisten im Einsatz sein. Doch mittlerweile kehren trotz des Befriedungsprozesses in Rocinha die Waffen zurück. Die positiven Maßnahmen scheinen zu verpuffen. Glenny hält die Befriedung der Favelas sowieso nur für Kosmetik. Seine Bilanz ist nüchtern. Und sein Buch trotz kleiner Schwächen lesenswert.

Misha Glenny: Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption. Aus dem Englischen von Dieter Fuchs. Tropen Verlag, Stuttgart, 409 Seiten.

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