Russische Föderation im Blick: Quo vadis, Rossija?


Die Ukraine-Krise trug dazu bei, dass Russland den einen wieder als Bollwerk gegen den „westlichen Imperialismus“, den anderen nunmehr als krypto-faschistisches Regime dient. Zwei Neuerscheinungen zum Thema unternehmen den Versuch, analytische Schärfe in den erbittert geführten Meinungskampf zu bringen. Mit mäßigem Erfolg.

Seine historische Bewertung steht noch aus, doch immerhin hat er’s schon bis zur Pop-Ikone gebracht: Der russische Staatspräsident Putin. (Foto: Flickr)

Seine historische Bewertung steht noch aus, doch immerhin hat er’s schon bis zur Pop-Ikone gebracht: Der russische Staatspräsident Putin. (Foto: Flickr)

Lange konnte es scheinen, als sei das Verhältnis zwischen Russland und „dem Westen“ nach dem Ende der Sowjetunion heute tatsächlich entspannt. Doch spätestens mit den Konflikten um die Ukraine und die Krim tat sich die ängstigende Kluft zwischen den zwei einstmals als Blöcke definierten Einflussbereichen wieder als Gegensatz zweier unterschiedlicher politischer Sphären auf.

Bewertet wird die Politik, die sich aus der einen Sphäre auf die jeweils andere richtet, je nach Standpunkt der Beobachter höchst unterschiedlich. Die einen sehen Russland durch die Nato-Osterweiterung und eine gegen das Land gerichtete Wirtschaftspolitik an die Wand gedrängt. Die anderen erkennen in „Putins Reich“ (so der Titel eines Buches der ehemaligen DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld) ein autoritär-aggressives Regime und betrachten die Unterstützung so genannter Freiheitsbewegungen rund um die Russische Föderation daher als ein Muss.

Für differenzierte Sichtweisen auf die entstandene Dynamik ist, weil ideologische Bekenntnisse gefordert scheinen, meist kein Platz. Die Bücher zweier bekannter Autoren versprechen Abhilfe.

„Wohin treibt Russland?“, fragt der Zeithistoriker Walter Laqueur im Untertitel seines Buches über den – so griffig muss es für Verlag und Autor scheinbar sein – „Putinismus“. „Russland verstehen“, möchte – nein: fordert – die Journalistik-Professorin und einstige Moskau-Korrespondentin des deutschen Fernsehsenders ARD, Gabriele Krone-Schmalz, in ihrem Buch. Es widmet sich, so der Untertitel, neben dem „Kampf um die Ukraine“ vor allem der „Arroganz des Westens“.

Bereits die Titel verraten, dass sich die Zielsetzung der beiden Arbeiten und ihr sprachlicher Stil erheblich unterscheiden. Der mittlerweile 94-jährige Laqueur, „Grand Seigneur“ der Zeitgeschichte, der mit zahlreichen Arbeiten zur Sowjetunion, zum Nahen Osten und zum Phänomen der politischen Gewalt bekannt geworden ist, liefert dem Anspruch nach ein Kompendium aller gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die Einfluss auf den gegenwärtigen Zustand des Landes hatten. Dazu holt er bisweilen weit in dessen jüngere Geschichte aus.

Krone-Schmalz hingegen schreibt nicht zuletzt angewidert von Teilen ihrer eigenen – vor allem der deutschen – journalistischen Zunft. Entsprechend polemisch ist ihr Text, dem man überdies anmerkt, dass sie handwerklich nicht in der geschriebenen Presse beheimatet ist.

Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit steht das Russland-Bild, wie es in den deutschen Medien vermittelt wird. Krone-Schmalz kritisiert das Halbwissen, die Schlampigkeit und die Willfährigkeit vieler Journalisten gegenüber der Politik des „Westens“, die sie der Autorin zufolge unreflektiert zum eigenen Standpunkt machen.

Auf diese Weise motiviert, ist Krone-Schmalz nicht an einer systematischen Darstellung der russischen Verhältnisse gelegen. Stattdessen arbeitet sie sich anhand einiger Beispiele an der aus ihrer Sicht unvollständigen und einseitigen Berichterstattung ihrer KollegInnen ab, etwa wenn sie, ebenfalls recht einseitig, aus ihrer Sicht den Weg in den russisch-georgischen Krieg von 2008 rekapituliert.

Eine politische Analyse der Verfasstheit der Russischen Föderation liefert Krone-Schmalz also nicht. Stattdessen bestätigt sich das Unbehagen, das sich angesichts des – natürlich bewusst provokant gewählten Titels – „Russland verstehen“ einstellt. Denn die Autorin versucht tatsächlich nicht nur, zu analysieren, sondern sie fühlt sich ein, ergreift Partei für die russische Führung, sie rationalisiert.

Ihr politisches Argument gipfelt darin, dass „der Westen“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Schwäche des Landes ausgenutzt habe, um seine wirtschaftlichen und politischen Interessen rücksichtslos auszunutzen, anstatt mühselige Demokratisierungsversuche nach Kräften zu unterstützen.

Was in beiden Büchern fehlt, ist eine systematische Analyse der gegenwärtigen politischen Struktur der Russischen Föderation.

Krone-Schmalz präsentiert die irre Logik der Kapitalakkumulation als Wesensmerkmal des „Westens“, der sich aggressiv an der Erschließung möglicher Märkte orientiere, anstatt an den Erfordernissen demokratischer Entwicklung. Dafür, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, hat die Autorin wenig Sinn. Diese Verhältnisse werden bei ihr quasi zu persönlichen Charaktereigenschaften der unterschiedenen politischen Sphären. So problematisiert sie unablässig die „Siegermentalität“ nach dem Ende der Sowjetunion als narzisstische Kränkung Russlands durch den „Westen“, den sie meist als monolithischen Block präsentiert.

Widersprüche innerhalb des so konstruierten „Westens“ kann sie, wenn sie ihr auffallen, nicht fruchtbar machen. So stellt sie etwa fest, dass es vor allem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel war, die 2008 einen Nato-Beitritt der Ukraine verhinderte. Dass es hinsichtlich der Beziehungen zu Russland einen fundamentalen Gegensatz geben könnte zwischen den Interessen der USA und jenen Deutschlands, die es auch in der EU durchzusetzen sucht, kommt der Journalistin in ihrem Buch nicht in den Sinn.

Bedeutend nüchterner geht Walter Laqueur zu Werke. Punkt für Punkt handelt er die verschiedenen politischen Machtfaktoren ab: die Oligarchen, die russisch-orthodoxe Kirche, die führenden Denker der russischen Rechten und so fort. Mitreißend ist diese Lektüre nicht. Wie es beim Alterswerk von Experten manchmal zu beobachten ist, hält sich Laqueur zudem nicht mit Fußnoten, Quellennachweisen und sonstigen Belegen der von ihm als Fakten präsentierten Darstellung auf. Das Buch ist also, wie das von Krone-Schmalz, eher dazu geeignet, Fragen aufzuwerfen sowie auf Zusammenhänge hinzuweisen, welche die LeserInnen sodann mit weiterer Lektüre auf ihre Substanz zu überprüfen haben. Als Übersicht über die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte und Personen in der Russischen Föderation funktioniert Laqueurs Zusammenstellung aber schon.

Interessant wird es dort, wo sich der insgesamt zurückhaltend formulierende Autor eine Bewertung erlaubt. So widerspricht er der auch von Krone-Schmalz gegebenen Darstellung, die Abwendung Russlands vom Westen sei allein dessen Schuld, weil dieser das Land von Anfang an bloß als Verlierer des Kalten Krieges gesehen und auch nicht unterstützend in die russische Wirtschaft investiert habe. Nicht Russlands Kurs habe sich verändert. Vielmehr haben sich allein die Umstände gewandelt, unter denen das Land seine schon früh formulierten außenpolitischen Ziele verfolgen kann, so Laqueur. Er meint damit vor allem die aktuelle außenpolitische Schwäche von EU und USA.

Laqueur macht deutlich, dass Putin in der Vergangenheit zwar vielfach eine unipolare Ordnung unter US-amerikanischer Hegemonie kritisiert hatte. Dies bedeute jedoch nicht, dass ihm ein starkes und geeintes Europa gelegen komme: „Ein geteiltes Europa war ein schwächeres Europa, das Russland viele Gelegenheiten eröffnete, die einzelnen Länder gegeneinander auszuspielen“; so der Historiker angesichts der aktuell zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU.

Zudem vermittelt Laqueur zumindest eine Ahnung davon, wie sehr die Vorstellung, Russland könne sich innerhalb einer post-liberalen kapitalistischen Weltgesellschaft in eine demokratisch verfasste bürgerliche Gesellschaft transformieren, von „Wunschdenken“ geprägt ist. Als unsinnig und wenig zielführend bewertet er die Analyse, die Russische Föderation sei ein faschistisches Regime. Gleichwohl bezeichnet er die aktuelle politische Verfasstheit des Landes als autoritäre Herrschaftsform.

Wieso das so ist, arbeitet der Historiker leider nicht präzise heraus. So begnügt er sich mit Andeutungen darüber, inwiefern dieses autoritäre Regime auf dem prekären Ausgleich der Interessen verschiedener Gruppen der russischen Gesellschaft beruht. Ein System, indem Putin keinesfalls als „charismatischer Herrscher“ (Max Weber) oder gar als Führerfigur, sondern eher als Mittelsmann fungiert. Eine detaillierte politische Analyse dieser öl- und gasrentengestützten Klientelwirtschaft, in der Loyalität als oberste Tugend gilt, liefert Laqueur jedoch nicht.

Im Unterschied zu Krone-Schmalz fächert der Autor hingegen relativ sorgfältig die verschiedenen Ideologien und Wahnvorstellungen auf, die in der Russischen Föderation wirkmächtig sind, darunter die russisch-orthodoxe Kirche, der Antisemitismus und die Idee von „Eurasien“ als gegen den Westen gerichteter einheitlicher politisch-kultureller Sphäre.

Anders als die Journalistik-Professorin nimmt Laqueur die politische Funktion des vom Regime noch angefachten Hasses auf „Kaukasier“ und Homosexuelle ernst. Krone-Schmalz begnügt sich diesbezüglich mit dem verkommenen Hinweis, die Strafverfolgung von Homosexualität sei schließlich auch in Deutschland erst 1994 endgültig abgeschafft worden.

Was in beiden Büchern komplett fehlt, ist eine systematische Analyse der gegenwärtigen politischen Struktur der Russischen Föderation, also jener „Vertikale der Macht“, wie Präsident Putin das von ihm geschaffene System selbst nennt. Man erfährt beispielsweise nichts über die Unterordnung der Justiz unter die Politik, wie sie von Putin, begleitet von einem untätigen Verfassungsgericht, ins Werk gesetzt worden ist.

So machte sich Putin den Russland-Expertinnen Margareta Mommsen und Angelika Nußberger zufolge nach seinem Amtsantritt „unverzüglich daran, die Macht der wichtigsten politischen Vetoakteure zu schleifen“ und das noch junge System von „checks and balances“ zu zerstören, wie sie in ihrem Buch zum „System Putin“ von 2009 schreiben. Unter anderem wurde der Föderationsrat, neben der Duma die zweite Kammer des russischen Parlaments und das wichtigste Instrument der 
horizontalen Gewaltenteilung, entmachtet. Dessen Rolle umfasste neben der Aushandlung des Budgets und der Benennung der Richter des Obersten Gerichts vor allem die Möglichkeit, das Veto des Präsidenten gegen Gesetzesbeschlüsse der Duma aufheben zu können, war also das wesentlichste Kontrollorgan präsidialer Macht.

Heute hat der einstmals als regionale Interessenvertretung konzipierte Rat nur mehr die Rolle eines Forums für Wirtschaftslobbyisten, in dem Klientelismus, Korruption und Nepotismus herrschen.

Mit der Schaffung von Parallelstrukturen, welche die formal noch erhaltenen rechtsstaatlichen Strukturen faktisch ersetzen, hat nach Meinung der Politologin Lilia Shevtsova ein „Regime der politischen Zweckmäßigkeit […] seine formelle Legitimation erhalten“, das es den konkurrierenden Elitegruppen erlaubt, innerhalb eines „bürokratischen Autoritarismus“ ihre Interessen durchzusetzen.

Die Darstellung solcher expliziteren Zusammenhänge hätten es erlaubt, einen dezidierteren Einblick in die aktuelle politische Struktur der Russischen Föderation zu erhalten.

Gabriele Krone-Schmalz – Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. C.H. Beck Verlag, 176 Seiten.
Walter Laqueur – Putinismus. Wohin treibt Russland? Propyläen Verlag, 300 Seiten.

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