Russland unter Putin
: Die Souveränität der Seilschaften

Als „Vertikale der Macht“ bezeichnet Wladimir Putin das von ihm geschaffene und auf Klientelwirtschaft basierende Herrschaftssystem. Doch er jongliert mit Loyalitäten – und muss aufpassen, dass er dabei nicht die Kontrolle verliert.

Komfortabler als an Bord der Kursk: Der russische Staatspräsident im August 2105 als Teilnehmer einer Expedition der Russischen Geographischen Gesellschaft nahe der im Jahr zuvor annektierten Krim. (Foto: Website des russischen Staatspräsidenten)

„Wenn Demokratie Staatszerfall bedeutet“ sagte Wladimir Putin im September 2003 im Gespräch mit der „Washington Post“, „dann brauchen wir keine solche Demokratie“. Seit er sein Amt als russischer Staatspräsident im Jahr 2000 zum ersten Mal angetreten hat, inszeniert sich Putin als Verkörperung eines starken Staats. Kein Horror scheint ihm größer als der des „failed state“. Das hat er im September 2016 gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg bekräftigt. Der Grund für das russische Eingreifen zugunsten von Bashar al-Assad sei derselbe wie der seiner Ablehnung des militärischen Sturzes der Regimes im Irak und Libyen. „Wir sehen ja, wohin das geführt hat“, so Putin über die westlichen Interventionen: „Zur Zerstörung der Staatlichkeit und zum Aufstieg des Terrorismus.“

Die von Putin propagierte Haltung wird häufig biographisch erklärt: Als er sein Amt antrat, drohte das, was von der einstigen Sowjetunion noch übrig geblieben war, im Kampf der um Beute ringenden Machtfraktionen unterzugehen. Reguläre Wirtschaftstätigkeit und die Aktivitäten der kriminellen Unterwelt seien damals praktisch ununterscheidbar gewesen, so der Historiker Walter Laqueur. Falls Ausmaß und Umstände dieser Auseinandersetzungen jemals publik würden, „könnten sie die Geschehnisse in der Ära der amerikanischen Räuberbarone vergleichsweise wie Gezänk in einem Kindergarten erscheinen lassen“.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stürzte nach 1991 ins Bodenlose: Im Jahr 1998 betrug es nur noch 57,3 Prozent des BIP von 1990. Zugleich hätten sich die einstigen Mitglieder der sowjetischen Nomenklatura binnen weniger Jahre zu den wohlhabendsten Russen gemausert, so der Soziologe Alfredo Schulte-Bockholt, der den damaligen für Privatisierung verantwortlichen Minister mit den Worten zitiert, das frühere Staatseigentum gehöre schlicht denjenigen, die ihm am nächsten seien. Auch die Mafia mischte kräftig mit. Deren Unterwanderung der politischen Machtstrukturen führte nicht nur zur Verzögerung ökonomischer Reformen, sondern auch dazu, dass Unternehmen zur Kooperation mit der Mafia regelrecht gezwungen waren.

Das „System Putin“, so eine geläufige Darstellung in den westeuropäischen Medien, habe mit dem Unwesen der Beuteherrschaft aufgeräumt und die staatliche Souveränität wiederhergestellt. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich Putin jedoch vielmehr als ein Machtpolitiker, der es meisterlich verstanden hat, die Kämpfe der verschiedenen Interessengruppen innerhalb der Russischen Föderation zu seinen Gunsten zu kanalisieren und sich an deren Spitze zu setzen. Geholfen haben ihm dabei sowohl seine Zeit beim KGB als auch die Seilschaften, die er während seiner Tätigkeit in der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg gebildet hat.

„Imitation des Rechtsstaats“

Nach seinem Amtsantritt machte sich Putin daran, das unter Boris Jelzin aller Probleme zum Trotz errichtete System von „checks and balances“ zu zerstören, indem er etwa den Föderationsrat, eines der wichtigsten Instrumente der horizontalen Gewaltenteilung, entmachtete. Nicht nur ordnete Putin das Recht der Politik unter, weil, wie er sagte, die Selbstverteidigung des Staates eben über das Recht zu setzen sei. Das Recht wird von ihm auch nach Belieben instrumentalisiert, wie er in dem Prozess gegen den Unternehmer Michail Chodorkowski zur Schau gestellt hat.

Statt der „rule of law“ regiert in der Russischen Föderation Wladimir Putin an der Spitze seiner von ihm so bezeichneten „Vertikale der Macht“, allerdings ohne die Verfassung formal außer Kraft zu setzen. Politikwissenschaftler tun sich schwer damit, diesen Zusammenhang begrifflich zu fassen. So wird mal von der „Imitation eines rechtsstaatlichen Systems“, mal von einem „Para-Konstitutionalismus“ gesprochen, und sogar die von dem Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel einst für die Anfänge des Nationalsozialismus geprägte Rede vom „Doppelstaat“ wird bemüht.

Doch diese Erklärungsansätze werden den Konkurrenzkämpfen innerhalb des von Putin geschaffenen Klientelsystems nicht gerecht. Wie die Politologin Margareta Mommsen und die Juristin Angelika Nußberger schreiben, verläuft das Mit- und Gegeneinander der von Putin mit Macht versehenen informellen Gruppen der Oligarchen und der Silowiki, der hochrangigen Funktionäre in Wirtschaft und Staatsapparat, dynamisch und ohne jede Spielregeln. Putin fungiert als Vermittler der konkurrierenden Machtfraktionen.

Weit entfernt von Brokeback Mountain: Wladimir Putin entlässt russische Wildpferde in die Freiheit. Das Foto wurde im Oktober 2016 im Naturreservat von Orenburg aufgenommen. (Foto: Website des russischen Staatspräsidenten)

Aller Fraktionierung zum Trotz existiert in der Russischen Föderation ein staatliches Gewaltmonopol. Die Einheit des Staates ist allerdings prekär, die von Putin moderierte Souveränität daher fragil und beruht nicht zuletzt darauf, dass es genügend zu verteilen gibt. Putins integrative Funktion ist umso gefährdeter, je weniger dies der Fall ist und sich ein für alle Machtfraktionen akzeptabler Kompromiss erzielen lässt, dem Putin als Staatspräsident sodann die nötige Faktizität verleiht. Doch die Ölpreise sind in den vergangenen Jahren stark gefallen, die Diversifizierung der russischen Wirtschaft ist gescheitert und diese in einer fundamentalen Krise. Auch der „Economist“ stellte im vergangenen Oktober daher fest, dass die Kämpfe der verschiedenen Interessengruppen „um die zu verteilenden Profite brutaler geworden sind“. Dabei zeige sich auch, dass das Eigentumsrecht immer unter Vorbehalt von Putins Gnade stehe, und zwar zuweilen „ungeachtet erwiesener politischer Loyalität“.

Ausbau der Repression

Um seine Position abzusichern, vollzieht Putin derzeit zudem einen Generationswechsel innerhalb seiner Entourage. Die Mitglieder der alten Seilschaften werden sukzessive durch Jüngere ersetzt, die ihren Aufstieg voll und ganz dem Staatspräsidenten zu verdanken haben. Der unmittelbar dem Präsidenten unterstellte Geheimdienst FSB wird zum Nachteil aller anderen Exekutivorgane ausgebaut und akkumuliert sowohl wirtschaftliche als auch politische Macht. Ein Kontrollorgan, das den FSB im Zaume hielte, gibt es nicht.

Gleiches gilt für die im vergangenen April geschaffene und mit schweren Kriegswaffen ausgerüstete Nationalgarde. Sie soll laut Planung 400.000 Kräfte umfassen. Diese werden nicht neu rekrutiert, sondern sie sollen aus einer Umstrukturierung von Polizei und teils kampferfahrenen paramilitärischen Einheiten hervorgehen. Die Nationalgarde ist ein Vollzugsinstrument des Präsidenten ohne polizeiliche Ermittlungsbefugnis. Die Politikwissenschaftlerin Margarete Klein mutmaßt, dass die Truppe zum einen der Bekämpfung möglicher Protestbewegungen, zum anderen jedoch vor allem der Disziplinierung jener Interessengruppen dienen soll, die im Zuge der ökonomischen Entwicklung nicht mehr im selben Maße wie bisher an der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums partizipieren. Mit der Neuschaffung werden nämlich auch Befugnisse und Kapazitäten zugeteilt, was dazu führt, dass Funktionen, die in den anderen Exekutivorganen bereits existieren, dupliziert werden. Dadurch, so Klein, „werden institutionelle Unsicherheit und Konkurrenz geschürt, wodurch es umso mehr eines obersten Schiedsrichters bedarf – und diese Rolle übernimmt der Präsident“. Durch die einseitige Stärkung der Silowiki zuungunsten eher reformorientierter Technokraten seit 2012 habe Putin seinen politischen Spielraum jedoch eingeschränkt.

Mit Gott nach Eurasien

Putin weiß, dass er sich im Ringen um Machterhalt nicht allein auf die Repressionsorgane verlassen darf. Nationalistische und antiwestliche Strömungen der Gegenwartskultur werden daher konsequent unterstützt. Eine besondere Rolle spielt dabei der so genannte Eurasismus. Ursprünglich stammt das Konzept aus den 1920er-Jahren, wo es in russischen Emigranten-Kreisen als Reaktion auf das Ende des Zarenreichs und die Russische Revolution entstanden ist. Wiederbelebt wurde die Eurasien-Idee nach dem Ende der Sowjetunion, also zu einem Zeitpunkt, als abermals ein Imperium auf russischem Boden zerfällt. „Der Eurasismus ist eine Doktrin, die die nichtrussischen Völker der Region, vor allem die turksprachigen, vollkommen integriert“, schreibt der französische Philosoph Michel Eltchaninoff. Sie propagiert eine übernationale, kulturell gegründete Groß-Raumordnung und ist daher besonders gut geeignet, territoriale Ansprüche theoretisch zu begründen.

Eine maßgebliche Figur der ‚eurasischen Renaissance‘ ist der ehemalige Soziologie-Professor Alexander Dugin. Er ist bemüht, die Theorie zugleich in konkrete politische Forderungen zu transformieren. Für den eurasischen Großraum beansprucht er „neben dem Territorium der Russländischen Föderation auch Weißrussland, die Ukraine, den gesamten Kaukasus, Zentralasien und die Mongolei“, wie der Russland-Experte Ulrich Schmid von der Schweizer Universität St. Gallen schreibt. Den Westen identifiziert Dugin als eine auf die Seewege ausgerichtete „Wasserkultur“, weshalb dort auch Handel und Warenproduktion als Grundlage des Kapitalismus entstanden seien. Der Eurasismus hingegen repräsentiere eine „Trockenkultur“, wie Schmid zusammenfasst: „Die Menschen sind in ihren Räumen tief verwurzelt und lassen sich von den importierten Moden nicht beeindrucken.“ Eurasien sei daher sowohl eine „Zivilisationsstruktur“ als auch ein „geopolitischer Pol“, mithin ein „zentraler Raum der Weltgeschichte, den es zu verteidigen gelte“, so Schmid über Dugins Eurasien-Ideologie.

Über den realen Einfluss von Dugin auf die Politik Putins wird gestritten. Belege für direkte Kontakte der beiden sind eher rar. Gleichwohl entspricht die aktuelle Strategie des Kreml Dugins Vorstellungen und ist neoimperial, multipolar und antiwestlich ausgerichtet. Auch die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion im Mai 2014, die bislang neben der Russischen Föderation aus Kasachstan Weißrussland, Kirgisien und Armenien besteht, scheint ein Schritt in die von Dugin angegebene Richtung zu sein. Laut Putin ist die Union der Beginn „der Schaffung eines Pols in einer multipolaren Welt“. Für Dugin ist der Eurasismus außerdem notwendig mit russischer Expansion verbunden. Dieser Gedanke findet beispielsweise in der russischen Annexion der Krim praktische Resonanz.

Dennoch ist fraglich, inwiefern Putin das philosophisch-ideologische Brimborium von Dugin tatsächlich für bare Münze nimmt. Eltchaninoffs Bewertung hierzu fällt skeptisch aus: „Im Grunde praktiziert Putin einen Imperialismus nach eigener Vorstellung. Je nach Bedarf beschwört er die Nostalgie für die UdSSR oder das Russentum, die russische Sprache oder das eurasische Projekt.“ Und der Wirtschaftsexperte Andrej Illarionow meint, Putins Ziel sei es schlicht, ein „effizientes, modernes und zeitgemäßes, auf die Marktwirtschaft gestütztes imperiales System aufzubauen“.

Dagegen steht jedoch wiederum der Unwille der Regierung gegen jede Art von wirtschaftlicher Reform; auch die gescheiterte Diversifizierung und Technologisierung der Produktion sowie ein für ausländische Investoren geradezu feindliches Investitionsklima lassen die These von einer primär marktwirtschaftlich orientierten Strategie fragwürdig erscheinen. Wahrscheinlicher ist, dass Putin den Eurasismus als ideologischen Kitt für eine in Machtgruppen zerfallene Gesellschaft nützt, wobei der gemeinsame Gegner, der „Westen“, die vom ökonomischen Abstieg bedrohte Bevölkerung weiter zusammenschweißen soll.

Das gilt auch für das in den vergangenen Jahren intensivierte Bündnis des Herrschaftsapparats mit der russisch-orthodoxen Kirche, die dem „System Putin“ religiöse Legitimation gewähren soll. Putin nimmt dabei zumindest in Kauf, dass ein Teil ihrer Patriarchen einen aggressiven Antisemitismus befördert. Seine antiwestliche Haltung akzentuiert Putin mit Vorliebe unter Verweis auf die durch „westliche Dekadenz“ hervorgerufene Bedrohung konservativer Werte, worunter er etwa die traditionelle Familie, das religiöse Leben und den Patriotismus versteht. Gegen solche „zersetzenden“ Einflüsse soll die russische Gesellschaft immunisiert werden, weshalb eine entsprechend ausgerichtete Kulturpolitik auch als integraler Bestandteil der nationalen Sicherheitsstrategie begriffen wird.

Dem ungezügelten Hass auf Homosexuelle kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Hatte Putin seine Ablehnung der Homosexualität zunächst noch vorwiegend unter Verweis auf die negative demographische Entwicklung in der Russischen Föderation begründet, poltert er mittlerweile gegen den Verfall der „geschlechtlichen Identität“ und gegen „pädophile Propaganda“ aus dem Westen, die Familie und gleichgeschlechtliche Ehe ebenso gleichstelle wie den Glauben an Satan dem Glauben an Gott.

Bereits seit einigen Jahren ist so genannte „homosexuelle Propaganda“ in mehreren Regionen der Russischen Föderation unter Strafe gestellt, LGBTI-AktivistInnen werden verfolgt und terrorisiert. So hat beispielsweise die Gay-Rights-Aktivistin Irina Fedotowa aufgrund der erlittenen Verfolgung in Luxemburg um Asyl ersucht (woxx 1362). Für Michel Eltchaninoff ist klar, dass im Hass auf LGBTI-Personen nicht allein die eigene Bevölkerung auf ein gemeinsames Feindbild aus dem sogenannten „Gayropa“ eingeschworen werden soll: „Putin hat ein Schlachtross bestiegen, das es ihm erlaubt, das gesamte konservative Europa hinter sich zu vereinen: der Kampf gegen die ‚homosexuelle Kultur‘“.

Außenpolitik als Konterrevolution

Tatsächlich kommt Putins konservative und antiwestliche Rhetorik nicht nur innerhalb der Russischen Föderation gut an. Unter europäischen Rechten verschafft der Staatspräsident sich als Bollwerk des Konservatismus Respekt, wie der Soziologe Cas Mudde sagt: „Sie mögen seine Stärke, also das, was sie als Verteidigung traditioneller Werte verstehen, seinen Nationalismus und seine Gegnerschaft zum Islam“. Nicht wenige Vertreter der europäischen Rechten sind längst offen zum Schulterschluss mit dem Kreml übergegangen, darunter etwa die österreichische FPÖ, die im vergangenen Dezember ein Kooperationsabkommen mit Putins Partei „Einiges Russland“ unterzeichnet hat, oder der Front National unter Marine Le Pen, der laut Angaben des „Economist“ über ein Darlehen von insgesamt 40 Millionen Euro aus einer tschechischen Bank mit Beziehungen zum Kreml verfügt.

Doch auch in der Europäischen Linken trifft Putin mit seiner antiwestlichen Haltung auf Sympathie. Manchen erscheint er als machtpolitische Alternative zur transatlantischen Ausrichtung Europas interessant. So hat sich die Fraktionsvorsitzende der deutschen Partei „Die Linke“ im Bundestag, Sarah Wagenknecht, vor einigen Tagen mit der Forderung nach einem europäischen Verteidigungsbündnis unter Einbindung Russlands hervorgetan. Auch das Verhältnis von Jean-Luc Mélenchon zu Putin darf man wohl zumindest als ungeklärt bezeichnen.

Für Putin geht es bei all dem nicht in erster Linie darum, dass daraus ein handfestes Bündnis mit politischen und gesellschaftlichen Kräften in Europa resultiert. Wie auch hinsichtlich der momentan heiß diskutierten russischen Einflussnahme durch die Streuung so genannter „fake news“ in Europa und den USA ist die Absicht, die gesellschaftliche Verunsicherung zu verstärken und Zwist zu produzieren (woxx 1406). Auf diese Weise hat Putin auch von der erbittert geführten europäischen Flüchtlingsdebatte profitiert. Diese ging auf eine Situation zurück, die nicht zuletzt durch russische Bombardements in Syrien weiter zur Eskalation gebracht worden ist.

Denn nicht allein die eigene Stärke, sondern auch die Schwächung möglicher Gegner und Konkurrenten ist von Belang. „Die Rolle der nicht-militärischen Mittel beim Durchsetzen von politischen und strategischen Zielen ist gewachsen“, meinte etwa der Chef des russischen Generalstabs, Valeri Gerassimow, bereits im Jahr 2013 über Russlands neue Militärdoktrin. So ist es auch wenig verwunderlich, dass der bulgarische Präsident Rosen Plewneliew im November 2015 warnte, Russland betreibe einen „hybriden Krieg“ mit dem Ziel, die Europäische Union zu destabilisieren. Natürlich entwickeln sich im Zuge der Wirtschaftskrise und der Flüchtlingsdebatte auch ohne russisches Zutun genügend Zentrifugalkräfte, die den Fortbestand der EU fraglich erscheinen lassen. Doch es ist nachvollziehbar, wenn der Historiker Walter Laqueur konstatiert, nicht nur energie-, wirtschafts- oder militärpolitisch bedeute ein geteiltes Europa „ein schwächeres Europa, das Russland viele Gelegenheiten eröffnete, die einzelnen Länder gegeneinander auszuspielen“.

Kommt mit allen Kalibern zurecht: Präsident Putin mit einem Betäubungsgewehr 
auf Tiger-Jagd. (Foto: The Amur Tiger Programme)

Ähnliches dürfte für das Engagement im Nahen Osten gelten, wo Russland keine maßgebliche Rolle mehr gespielt hat, seit der ägyptische Präsident Anwar Sadat seine sowjetischen Berater 1972 des Landes verwies. Zum einen entspricht das militärische Eingreifen in Syrien ganz dem propagierten Ziel einer multipolaren Weltordnung. Russland konnte sich dort als Machtfaktor etablieren. Von den USA und Europa in den vergangenen Jahren in der Region propagierte Werte wie Menschenrechte und Demokratie können auch angesichts leerer Drohungen gegen Assad und einer allgemein repressiven Flüchtlingspolitik der westlichen Nationen als hohle Phrasen abgetan werden. Im Gegensatz behauptet Russland, man habe mit dem Assad-Regime überhaupt eine – wenn auch autoritäre – gesellschaftliche Ordnung anzubieten, jenseits von Chaos und der Herrschaft islamistischer Banden. Zum anderen ist es Russland gelungen, mit Assad, Iran und der libanesischen Hisbollah Kräfte zu protegieren, die radikal antisemitisch und antiwestlich, nun jedoch dem russischen Einfluss unterworfen sind. So müssen nicht nur die Türkei und Israel plötzlich enge Kontakte zu Moskau pflegen, wenn es um die Wahrung ihrer Interessen geht.

Gleichwohl sei es fraglich, ob Putins Augenmerk in der Nahost-Politik tatsächlich in erster Linie aufs internationale Parkett gerichtet sei, schreibt die Nahost-Expertin Emily Tankin. Sie vermutet, dass es Putin vielmehr darum geht, innerhalb der russischen Bevölkerung die Stimmung zu erzeugen, die seinen Verbleib im Kreml garantiert. Nach der Annexion der Krim waren die Zustimmungswerte für Putin in der Bevölkerung zwischenzeitig von 65 auf nahezu 90 Prozent gestiegen. Einen ähnlich massiven Effekt hatte die russische Militärintervention in Syrien nicht. Dennoch sei sie zu einem zusätzlichen Element des „Krim-Narrativs“ geworden, wie Alexej Lewinson, Leiter des russischen Meinungsforschungsinstituts „Levada“ meint: „in der öffentlichen Wahrnehmung hat die Intervention die Vorstellung genährt, dass Russland eine Großmacht sei“.

Schon im Jahr 2011 beurteilte der Politikwissenschaftler Robert Horvath die russische Außenpolitik im Kern daher als „präventive Konterrevolution“: „Es geht darum, die innenpolitische Situation zu pazifizieren“, so Horvath, durch Unterjochung der Opposition, Einhegung der verschiedenen Machtfraktionen und Organisierung öffentlicher Zustimmung. Die globale wie auch die innerrussische Entwicklung zeigen: Das „System Putin“ wird unter den aktuellen Bedingungen wohl noch eine ganze Weile existieren. Innenpolitisch wie außenpolitisch benimmt sich Putin dabei wie ein Bandenchef, der Schutzgeld erpresst: Seine Gegner spielt er gegeneinander aus, während er den ihm Unterworfenen klar macht, dass ihnen nichts übrig bleibt als sein alternativloses „Schutzangebot“ zu akzeptieren.


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