Sucht
: „Trinken gehört zum 
guten Ton“

Ob in der Werbung, im Freundeskreis oder beim Familienfest: Alkohol ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Bis irgendwann wirklich nichts mehr geht. Die woxx hat mit Michèle Pisani, Präsidentin der asbl „Alcool Médicaments Addiction“ (Ama) über Suchttherapie und den Stellenwert des Alkohols gesprochen.

woxx: Die meisten Menschen suchen Ama auf, weil sie alkoholabhängig sind. Ist Alkoholismus tatsächlich stärker verbreitet oder wird er einfach nur weniger tabuisiert als Medikamentenabhängigkeit?


Michèle Pisani: Ich bin mir nicht sicher, ob es ein kleineres Tabu ist. Da man jedoch Medikamente oft auf Rezept erhält, wird eine Abhängigkeit meist erst später als solche erkannt. Wenn jemand regelmäßig Schlafpillen einnimmt, bekommt das niemand mit. Bei jemandem, der betrunken durch die Gegend torkelt oder morgens schon nach Alkohol riecht, ist das Problem offensichtlicher.

Ab wann kann man von einer Abhängigkeit sprechen und wie beeinflusst diese den Alltag?


Die Weltgesundheitsorganisation hat Empfehlungen für einen gesunden Alkoholkonsum ausgearbeitet, das sagt aber noch nichts über Abhängigkeit aus. Es gibt Menschen, die nicht jeden Tag trinken und dennoch ein Problem haben. Das ist zum Beispiel beim so genannten “binge drinking“ der Fall, wo es ja darum geht, schnell berauscht zu werden: Manche Menschen können nicht mehr mit dem Trinken aufhören, wenn sie einmal damit angefangen haben. Wenn man sich am Wochenende derart wegschmeißt, dass man am nächsten Tag nicht mehr weiß, was man getan hat, hat man auch ein Problem. Ein weiteres Merkmal einer Abhängigkeit besteht darin, dass man immer größere Quantitäten einnehmen muss, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die Abhängigkeit definiert sich aber nicht nur durch die Quantität, sondern in erster Linie durch die Besessenheit. Von einer solchen ist die Rede, wenn man anfängt, seine Aktivitäten einzuschränken, Kontakte abzubrechen, seinen Alltag um die Sucht herum zu organisieren. Ein typischer Alkoholiker reduziert soziale Aktivitäten, bei denen er nicht trinken kann. Er geht zum Beispiel nicht mehr ins Kino, sondern nur noch ins Restaurant oder in die Kneipe. Man wird unzuverlässig, fängt an zu lügen, den Alkohol zu verstecken. Es gibt auch Menschen, die sich völlig zurückziehen, weil sie sich schämen. Die abhängig machende Substanz hat Priorität gegenüber allem anderen. Wenn also der Partner der eigenen Sucht in die Quere kommt, hat diese Priorität. Sie ist wie ein bester Freund, der irgendwann zum Feind wird und das eigene Leben kaputt macht. Die Sucht hat einen Impakt auf jeden einzelnen Aspekt des Lebens, sowohl professionell als auch privat und gesundheitlich. Das ist auch das Schlimme daran: Am Ende hat man sich völlig isoliert.

„Ein typischer Alkoholiker reduziert soziale Aktivitäten, 
bei denen er nicht trinken kann.“

Gibt es Menschen, die anfälliger sind für eine Abhängigkeit als andere?


Da gibt es ziemlich viele Theorien. Biologisch geht man von einer Prädisposition aus. Es gibt ja Familien, in denen Alkoholismus mehrfach auftritt. Da spielt natürlich auch der soziale Aspekt eine Rolle: Kinder sehen das und empfinden es als normales Verhalten. Insgesamt spielt das soziale Umfeld eine wichtige Rolle: Ist man von Menschen umgeben, die allesamt viel trinken? Oder ist man in einer Gesellschaft, in der mittags mal ein Gläschen Wein getrunken wird, sonst aber nichts? Eine Sucht kann durch viele Faktoren begünstigt werden.

Ist eine Sucht jemals ganz überwunden?


Man muss zwischen körperlicher und psychischer Abhängigkeit unterscheiden. Letztere ist viel schwieriger zu überwinden. Bei der körperlichen reicht eine Entgiftung, die Reha mit einer Therapie und Gruppentherapien sind allerdings notwendig, um die psychische Abhängigkeit überwinden zu können. Viele Menschen werden suchtkrank, weil sie ein Problem haben, mit dem sie nicht klarkommen. Dieses Problem ist natürlich nicht weg, wenn sie mit dem Trinken aufhören. Deshalb ist es wichtig, dass sie andere Bewältigungsstrategien entwickeln. Bei der Frage, ob eine psychische Sucht jemals ganz überwunden ist, gehen die Meinungen unter Addiktologen (Fachärzt*innen für Suchterkrankungen; Anm. d. Red.) auseinander. Es gibt trockene Alkoholiker die behaupten, nach einer Entgiftung und Therapie wieder normal trinken zu können. Ich selbst und meine Mitarbeiter bei Ama glauben aber nicht daran. Jemand der wirklich alkoholabhängig war, verspürt nichts nach einem Glas und trinkt dann gleich eine Flasche. Deshalb glaube ich nicht, dass es möglich ist und ich würde davon abraten.

Ist es möglich, dass regelmäßiges Trinken zu einer Sucht führt? 


Eine Sucht kann auf diese Weise entstehen, sie wird dann aber irgendwann zu einem psychischen Problem. Sicherlich gibt es Menschen, die kein Problem haben, nur gerne regelmäßig etwas trinken und irgendwann merken sie, dass sie damit nicht aufhören können. Manche reagieren ja auch sensibler auf Alkohol als andere: Die einen können an einem Abend eine Flasche trinken und spüren davon am nächsten Tag nichts. Die anderen wachen mit einem heftigen Kater auf, sind dadurch in gewisser Weise aber auch vor übermäßigem Konsum geschützt.

(Foto: Pixabay)

Handelt es sich in dem Moment um eine rein körperliche Abhängigkeit?


Eine Abhängigkeit kann durchaus entstehen, ohne dass zuvor ein psychisches Problem vorlag. Dieses tritt dann aber später zutage. Das merken die Betroffenen spätestens dann, wenn sie einmal etwas trinken wollen, aber kein Alkohol greifbar ist. Ich denke, dass es in unserer Gesellschaft sehr viele Menschen gibt, die abhängig sind, ohne es zu wissen.

Wie wichtig sind Gruppentherapien?


Im Rehazenter ist es verhältnismäßig einfach, nicht zu trinken, weil es sich dabei um ein geschütztes Umfeld handelt. Im richtigen Leben ist das allerdings nicht mehr so leicht. Da sind dann wieder die alten Freunde, die Kneipe und die Tankstelle, die man regelmäßig aufgesucht hat. In dieser Phase ist es wichtig, einer Gruppe beitreten zu können, um die nötige Unterstützung zu erhalten. Damit man die Erfahrung machen kann, dass ein Leben ohne Alkohol und Medikamente möglich ist. Im Austausch mit anderen lernen Betroffene, mit der Situation umzugehen. Wir bieten auch Aktivitäten an, um zu helfen, soziale Kontakte außerhalb des alten Trinkmilieus aufzubauen. Unser Angebot umfasst unter anderem Sophrologie- und Entspannungskurse. Bei ersteren erlernt man dynamische Entspannungstechniken, die Atem- und entspannende Übungen miteinander verbinden. Menschen haben besonders in stressigen Situationen den Impuls, zur Flasche oder zum Medikament zu greifen, um sich zu beruhigen. Darauf kann man präventiv reagieren, indem man ihnen andere Mittel zur Hand gibt, um mit dem Stress umzugehen. Manche Menschen besuchen die Gruppensitzungen ein paar Wochen lang, andere über Jahre hinweg. Wir empfehlen, solange wie möglich zu kommen. Jemand, der seit 10, 20 Jahren trocken ist, vergisst gerne, wie es war. In den Gruppen wird man durch Neuzugänge immer wieder daran erinnert. Das ist wichtig, um der Versuchung zu widerstehen, der Suchtdruck kann nämlich auch noch nach 15 Jahren wiederkehren.

Ist es nicht frustrierend, wenn die eigenen Bemühungen tagtäglich durch die gesellschaftliche Verherrlichung des Alkohols konterkariert werden?


Es ist in der Tat sehr frustrierend. Erstens weil ein extremer sozialer Druck besteht, zu trinken. Keine Feier, kein Geschäftsessen, auf dem nicht getrunken wird. Unsere ganze Gesellschaft dreht sich darum. Auf jedem Empfang gibt es ein Glas Sekt und wenn man nicht trinkt, ist das irgendwie nicht normal. Alkohol wird ja zum Beispiel viel stärker verherrlicht als Tabak. Trinken gehört einfach zum guten Ton. Genauso wie unsereins respektiert, dass andere trinken, sollten diese wiederum respektieren, dass wir das nicht möchten. Das ist aber nicht der Fall, auch wenn die Akzeptanz immer größer wird. Wir begrüßen, dass das Gesundheitsministerium mittlerweile Kampagnen wie 2017 die Aktionswoche „Alkohol. Manner ass besser“ ins Leben gerufen hat. Oft zielt die Sensibilisierung allerdings nicht so sehr auf Alkoholkonsum an sich als auf Autofahren in nüchternem Zustand. Es wird auch immer noch der Mythos verbreitet, dass ein Glas Wein am Tag die Gesundheit fördert. Da sollte man immer aufpassen, von wem die entsprechenden Studien gesponsert wurden.

Brauchen Mitarbeiter*innen von Ama eine spezifische Ausbildung?


Nein. Ich selbst bin zwar Psychologin aber eigentlich braucht man keinen spezifischen Background. Man sollte nur Erfahrung mit der Abhängigkeitsproblematik haben, ob persönlicher Natur oder durch Angehörige. Meist ist es auch so, dass Menschen, die sich dafür interessieren, in diesem Bereich zu arbeiten, entweder selbst oder Angehörige von ihnen einmal betroffen waren. Wir alle tun das freiwillig, aus persönlicher Überzeugung, weil wir wissen, wovon die Rede ist, wie es ist und wir anderen damit helfen wollen.

Ama asbl bietet Online-Informationen, telefonische Beratung, Einzel- und Gruppen-
gespräche sowie soziale Aktivitäten an. Weitere Informationen unter www.ama.lu

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