Syrien/Kurdistan: „Multiethnische Revolution“

In Syrien stehen die KurdInnen im Kampf gegen den IS an vorderster Front – und bauen nebenbei ein kurdisches Autonomiegebiet auf. Interview mit Kerem Schamberger, der am Donnerstag für einen Vortrag in Luxemburg ist.

Kerem Schamberger ist Medienwissenschaftler und bezeichnet sich selbst als „Kommunisten“. Der Deutsch-Türke betreibt einen Blog zu den Geschehnissen in den kurdischen Gebieten, aber auch zu jenen in der Türkei: 
www.kerem-schamberger.de

woxx: In den vergangenen Jahren sah es so aus, als habe der Kampf gegen den IS die verschiedenen kurdischen Fraktionen vereint. Doch vor einigen Tagen kam es im Sindschar-Gebirge zu Kämpfen zwischen irakisch-kurdischen Peshmerga und PKK-nahen Einheiten.


Kerem Schamberger: Diese innerkurdischen Kämpfe sind nichts Neues. Bereits Anfang der 1990er-Jahre gab es massive kriegerische Auseinandersetzungen zwischen der KDP (Demokratische Partei Kurdistans, irakisch-kurdische Partei) von Massud Barzani und der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Man sieht hier deutlich, dass es nicht bloß um die kurdische Frage geht, sondern auch um Fragen der weltanschaulichen Ausrichtung. Bezeichnend ist, dass dieser neue Angriff kurz nach Barzanis Besuch in der Türkei erfolgt ist.

Ein kurdisches Sprichwort besagt, dass die Kurden „nur die Berge zu Freunden haben“. Zur Zeit sieht es in Syrien aber so aus, als hätten sie ziemlich viele Freunde.


Die USA wollen die Kurden unterstützen, weil sie als einzige in der Lage sind, effektiv den Kampf gegen den IS zu führen. Die Syrian Democratic Forces (SDF), die aus den YPG (Volksverteidigungseinheiten, militärischer Ableger der PKK in Syrien, Anm. d. Red.) hervorgegangen sind, verfügen momentan über 50-60.000 Kämpfer und sind die wirkungsvollste Kraft im Kampf gegen den IS. Auch die russisch-syrische Seite hat ein Interesse daran, die kurdischen Kräfte für ihre Zwecke einzubinden; allein schon, um zu verhindern, dass die Kurden nur noch von US-Interessen geleitet werden. Es gab in dem Sinne jetzt schon zweimal Verfassungsvorschläge der russischen Verhandlungspartner, die explizit eine Föderalisierung Syriens forderten.

Widerspräche eine solche Föderalisierung nicht dem eigentlichen Ziel der PKK, der Errichtung eines kurdischen Nationalstaats?


Ab Mitte der 1990er-Jahre hat es eine zehn Jahre dauernde Diskussion über eine Neuausrichtung der PKK gegeben, in deren Folge es einen Paradigmenwechsel gab: Weg vom starren Verständnis des Marxismus-Leninismus, hin zu einer Bewegung, die an Demokratie, Geschlechterbefreiung und Ökologie orientiert ist. Mit diesem Modernisierungsprozess der PKK ging auch ein Abrücken von der Forderung nach einem eigenen Nationalstaat einher. Die Auffassung der PKK-nahen Kräfte ist die, dass die Idee des Nationalstaats erst im Zuge der imperialistischen Aufteilung der Region aufgekommen ist und dass die nationalstaatliche Organisation zu dem multiethnischen Charakter der Region in einem grundsätzlichen Widerspruch steht. Gerade deswegen ist das Beispiel Rojava (kurdisches de-facto-Autonomiegebiet auf syrischem Territorium, Anm. d. Red.) so interessant: Wir haben es hier mit einer Revolution zu tun, und zwar nicht mit einer kurdischen, sondern einer multiethnischen.

A propos multiethnisch: Die kurdischen Kräfte sind Minderheiten gegenüber traditionell positiv gesinnt. Wie aber sehen die Beziehungen zur sunnitisch-arabischen Mehrheit in der Region aus?


In Rojava ist es gelungen, weite Teile der sunnitisch-arabischen Bevölkerung in das Projekt einzubinden. Schaut man sich die demokratischen Strukturen in der Region an, so stellt man fest: es sind keine rein kurdischen Strukturen. In den Militär- und Stadtteilräten sind es nicht die KurdInnen, die bestimmen, die Zusammensetzung ist gemischt. Trotzdem läuft das alles natürlich nicht reibungslos ab.

(© Kurdish Struggle)

Im Oktober 2015 hat Amnesty International den YPG Kriegsverbrechen vorgeworfen. Unter anderem sollen die BewohnerInnen mehrheitlich arabischer Dörfer vertrieben und die Dörfer zerstört worden sein.


Krieg und Gewalt verändern den Menschen immer, egal wie löblich seine Ziele sind. Natürlich kommt es auch auf Seiten der SDF zu unkorrekten Handlungen und auch zu Verbrechen. Aber erstens geschieht dies in geringerem Ausmaß als bei anderen Gruppen in der Region, und zweitens werden solche Handlungen von der Führung der kurdischen Kräfte klar verurteilt und verfolgt. Auf die Vorwürfe von Amnesty hat die Führung der YPG mit einem 50-seitigen Dossier geantwortet und einen Großteil der Anschuldigungen entkräften können.

Im Zuge des arabischen Frühlings sollen PKK-nahe Kräfte dafür gesorgt haben, dass in den kurdischen Gebieten keine Demonstrationen und Aufstände stattfanden; sie sollen sogar Aufständische inhaftiert haben. Wieso?


Das höre ich, ehrlich gesagt, zum ersten Mal. Die kurdische Bewegung hat keinerlei Grund, dem Assad-Regime positiv gegenüberzustehen. Gerade unter Hafez Al-Assad, Bashars Vater, haben die KurdInnen sehr gelitten. Die Bewegung hat lediglich die Schwäche des Regimes ausgenutzt, um ab Juli 2012, beginnend in Kobane, die Assad-Administration friedlich zu vertreiben – auch wenn es später punktuell zu heftigen Gefechten zwischen Assad-Milizen und der YPG kam. Die Vorwürfe der syrischen Opposition gegenüber der kurdischen Bewegung kamen auch deswegen auf, weil sich diese nicht auf das Spiel „Freund oder Feind“ eingelassen und einen dritten Weg verfolgt hat.

Ihre Konferenz in Luxemburg ist mit „Hoffnung für den Mittleren Osten“ übertitelt. Inwiefern ist das das kurdische Projekt geeignet, eine solche Hoffnung zu begründen?


Ausgehend vom Zusammenbruch der nationalstaatlichen Grenzen, dem wir gerade beiwohnen, schlägt die kurdische Bewegung eine Art föderales System für die Region vor, das wahrscheinlich dem europäischen Begriff einer „Rätedemokratie“ am nächsten kommt. In Rojava gibt es Stadteil-, Stadt-, Gebiets- und Kantonräte, die jeweils VertreterInnen in ein sogenanntes Parlament entsenden. Hört sich utopisch an, aber das Schlimme an unserer derzeitigen Gesellschaft ist ja, dass sie uns das Denken in Utopien geraubt hat.


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