Türkei
: „Die Türkei ist der AKP ausgeliefert“

Murat Sevinç ist Staatsrechtler und lehrte bis Anfang 2017 an der Universität von Ankara. Per Notstandsdekret wurde er im Februar 2017 entlassen, 2.585 Menschen verloren allein im Bildungsbereich ihren Arbeitsplatz. Mit der woxx sprach Sevinç über das kommende Referendum, die Ziele der AKP und den Widerstand der „Nein“-Kampagne.

Akademische Unfreiheit: Die Entlassung des Verfassungsrechtlers 
Murat Sevinç (links) wurde von der regimetreuen Universitätsleitung selbst vorbereitet. (Foto: Internet)

woxx: Anfang des Jahres hat das türkische Abgeordnetenhaus die umstrittene Verfassungsreform gebilligt, über die mit einem Referendum am kommenden Wochenende abgestimmt wird. Wie kam es dazu?


Murat Sevinç: Der Entwurf wurde im Parlament von den Abgeordneten der AKP mit Unterstützung der MHP angenommen. Es fand vorher keine öffentliche Debatte über den Inhalt statt. Erst wurde der Entwurf hinter verschlossenen Türen vorbereitet, und nachdem die AKP und die MHP übereingekommen waren, wurde er veröffentlicht. Der parlamentarische Ausschuss hat ihn nicht mal diskutieren können. Er wurde schnell angenommen und der parlamentarischen Vollversammlung vorgelegt. Auch gegen das in der Verfassung garantierte Recht auf geheime Abstimmung wurde dabei verstoßen. Alles geschah in einer enormen Geschwindigkeit. Die türkische Rechte hat schon seit den Sechzigerjahren ein präsidiales System befürwortet. Der erste, der das Thema seriös auf die politische Agenda setzte, war der Vorsitzende der ersten Partei des politischen Islam, Necmettin Erbakan. Er war der Lehrer der heutigen Islamisten. Danach kamen Turgut Özal und Süleyman Demirel, die ebenfalls ein Präsidialsystem favorisierten. Allerdings hatten sie das amerikanische System vor Augen. Das nun angestrebte System ist ein anderes. Weil kein passender Name gefunden wurde, haben sie es präsidentielles Regierungssystem genannt. Es hat aber keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem vorhandenen System.

Was ist das Ziel der Verfassungs
änderung?


Die AKP will die in der Verfassung von 1961 festgeschriebenen, unabhängigen oder zumindest de jure unabhängigen staatlichen Institutionen besser kontrollieren. Das System, das nun zur Wahl steht, besitzt aber nicht die Eigenschaft der üblichen Präsidialsysteme mit Gewaltenteilung und „checks and balances“. Der Präsident möchte die vollständige Kontrolle über die staatlichen Organe. Die Änderung soll endlich das nicht Verfassungskonforme verfassungskonform machen, ein anderes Ziel verfolgt dieser Änderungsvorschlag nicht.

Was wären die wichtigsten Folgen einer Verfassungsänderung?


Wir reden nicht von einem demokratischen Verfassungsänderungsprozess. Wir reden hier von einer offen unter hohem politischem Druck vorgenommenen Änderung der Verfassung. Der Änderungsvorschlag birgt zahlreiche Probleme und innere Widersprüche. Die Ermächtigung des Präsidenten, Dekrete zu erlassen, kann der legislativen Funktion des Parlaments widersprechen. Insbesondere diese Ermächtigung ist kritisch zu betrachten. Außerdem steht die Zuständigkeit des Präsidenten, Militäreinsätze zu erlauben, im Widerspruch zu der parlamentarischen Befugnis, „Krieg zu erklären“. Ein weiteres Beispiel ist, dass die Anzahl und die Befugnisse der vom Präsidenten zu ernennenden Präsidentenberater ungeklärt sind. Auch ist nicht klar, wer den Präsidenten vertreten würde, falls er vor Ablauf der Amtszeit ausscheidet oder erkrankt. In einem Artikel wird zwar festgelegt, dass der Präsident nur zwei Mal gewählt werden darf, allerdings wird an anderer Stelle festgelegt, dass, sollte es zu vorgezogenen Neuwahlen kommen, er erneut antreten darf. Wenn also die Rahmenbedingungen passen, könnte der Präsident mindestens 15 Jahre im Amt bleiben. Der Präsident würde auch die höheren Beamten berufen. Das sind Tausende Verwaltungsbeamte. Das würde auch dazu führen, dass die Verfassung mit anderen Gesetzen in Widerspruch gerät. Auch die geplanten Befugnisse des Präsidenten über die Justiz sind inakzeptabel.

Gab es jemals irgendwo einen ähnlichen Eingriff in eine demokratische Verfassung?


Nicht in der Türkei. Mit den Militärputschen von 1960 und 1980 wurden neue Verfassungen eingesetzt, allerdings nicht das parlamentarische System angetastet. Sogar die Putschisten haben sich damals bemüht, im Rahmen von bestimmten Rechtsnormen zu handeln. In der Geschichte der Türkei ist es das erste Mal seit 1909, als das parlamentarische System angenommen wurde, dass versucht wird, einen Regimewechsel vorzunehmen. Aus Sicht der Opposition ist es daher kein Systemwandel, sondern ein politischer Regimewechsel. In der politischen Tradition der Türkei besteht der Grundsatz, dass das Parlament über allem steht. Die Verfassungsänderung will diese über 100 Jahre alte Tradition einfach aufheben.

Hat die Verfassungsänderung auch eine religiöse Dimension?


Im Rahmen der Änderungen nicht. Allerdings wird die Verfassungsänderung von politischen Islamisten vorgenommen, und sollte sie angenommen und Erdogan gewählt werden, ist er auch derjenige, der diese außerordentlichen Befugnisse nutzen wird. Verfolgt Erdogan ein religiöses Ziel oder nicht? Ich denke, die Antwort auf diese Frage kennen die Länder im Westen genauso wie wir.

Kommt bei den Wahlberechtigten an, welche Auswirkungen die Verfassungsänderung haben würde?


Diejenigen die mit „Nein“ stimmen werden, sind sich der Konsequenzen bewusst. Jene die mit „Ja“ stimmen werden, haben kein großes Interesse an den Inhalten der Verfassungsänderung. Sie handeln vielmehr aus Liebe zu Erdogan. Ich würde fast sagen, dass fast alle mit „Ja“ Stimmenden das tun, weil Erdogan es so will. Die Verfassungsänderung ist so ein schlechter Vorschlag, dass die mit „Ja“ Stimmenden wirklich Mühe haben zu erklären, warum sie die Änderung unterstützen. Aus diesem Grund hören wir derzeit öfter absurde Sätze wie: „Die ‚Nein‘-Sagenden sind Terroristen“. Das liegt daran, dass es im Grunde keine Möglichkeit gibt, der Bevölkerung die Inhalte zu erklären und diese zu rechtfertigen. Die AKP-Propaganda geht nicht auf die Inhalte ein. Stattdessen sagt sie, dass eine Annahme des Referendums wirtschaftliche Stabilität brächte. Sie sagt, der Terror werde enden. Sie behauptet Dinge, die nichts mit der Verfassungsänderung zu tun haben.

Wie wird das Referendum in der Türkei diskutiert?


Es wird nicht viel diskutiert. Auf die Protagonisten der „Nein“-Kampagne wird viel Druck ausgeübt. Sie versuchen unter sehr schweren Bedingungen aufzuklären. Fast alle Medien sind auf der Seite der AKP, sowohl die Printmedien als auch das Fernsehen. Die AKP setzt öffentliche Gelder für die Kampagne ein. Es gibt ein enormes Ungleichgewicht. Die Grundvoraussetzungen für eine demokratische Auseinandersetzung sind nicht erfüllt. Die Türkei ist der AKP und Erdogans Propaganda ausgeliefert.

„Es handelt sich nicht um einen demokratischen Verfassungs-änderungsprozess.“

Was tun die Protagonisten des „Nein“, die immerhin die Hälfte oder mehr der Bevölkerung ausmachen?


Es gibt viele zivilgesellschaftliche Initiativen, die versuchen, unter sehr ungleichen und sehr schwierigen Bedingungen zu erklären, warum mit „Nein“ gestimmt werden muss. Sie sind auf den Straßen präsent und verteilen Broschüren an den Straßenecken. Aber es gibt kaum „Nein“-Plakate, während fast überall „Ja“-Plakate zu sehen sind. Entweder gibt es keine Erlaubnis für die „Nein“-Plakatierung oder die Plakate werden gleich wieder heruntergerissen. Nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch die oppositionellen Bürger sind sehr engagiert. Aus diesem Grund kam folgender Slogan zustande: „‚Ja‘ ist die Wahl der Regierung, ‚Nein‘ ist die Wahl der Bürger“. Es ist ein zutreffender Slogan, weil viele Türken sich trotz der ganzen Hürden und Verbote für ein „Nein“ einsetzen. Auf die AKP-Anhänger hat es keinen Einfluss, dass Journalisten und kurdische Politiker im Gefängnis sitzen. Sie interessieren sich nicht dafür. Allerdings sind auch Tausende Staatsbedienstete aufgrund von Terrorismusvorwürfen und der vermeintlichen Nähe zu Fethullah Gülen aus dem Dienst entlassen oder verhaftet worden. Sie stammen aus religiösen Kreisen und sind auch AKP-Wähler gewesen. Aus diesem Grund kann es sein, dass AKP-Anhänger nun zum ersten Mal aus ihrem Bekanntenkreis Menschen kennen, die staatliches Unrecht erfahren haben. Das wird ohne Zweifel eine Wirkung haben. Wir sehen diese Menschen nirgends und hören ihre Stimme auch nicht. Aber sie sind da, und zwar zu Hunderttausenden.

Sie waren bis Februar Dozent für Staatsrecht an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara und wurden mit weiteren Kollegen entlassen. Was war der Grund dafür?


Ich wurde gleichzeitig mit 329 Universitäts-Kollegen, von denen die meisten regierungskritisch oder Unterzeichner einer Friedenserklärung waren, durch das Notstandsdekret am 7. Februar entlassen. Es gab keine Ankündigung, keine Untersuchung, kein gerichtliches Urteil. Das verstößt nicht nur gegen die Verfassung, sondern auch gegen existierende Rechtsnormen. Speziell an der Universität Ankara war die Rolle des Rektors Erkan Ibis und der regierungstreuen Universitätsleitung entscheidend. Alle Universitäten haben die Listen für die zu entlassenden Kollegen selbst vorbereitet. Wenn es in Europa immer noch Leute gibt, die nach diesen Entlassungen mit diesen Universitäten zusammenarbeiten oder sie anerkennen, dann ist das heuchlerisch oder dumm. Wir werden noch immer daran gehindert, neue Stellen zu finden oder ins Ausland zu gehen.


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