Un-friending refugees: Herzen brauchen Hirne

Am Anfang waren Gefühle. Mitleid und Großzügigkeit der Bevölkerung haben die Politik mitgerissen. Terror und Gewalt lassen jetzt die Stimmung umschlagen. Zeit zum Nachdenken.

1354edito 20 INTERNET„Flüchtlinge sind bei uns willkommen“, titelte Ende Oktober 2015 das Tageblatt und berief sich auf eine Umfrage, bei der sich etwa zwei Drittel der Befragten für eine großzügige Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen hatten. Das stand im Einklang mit der Welle der Solidarität, die nach dem Sommer durch zahlreiche Länder Europas ging, bis hinauf in die Sphären der Berufspolitiker. Eine erfreuliche Entwicklung, da in den vergangenen Jahrzehnten die EU, was den Umgang mit Flüchtlingen angeht, ein eher hässliches Bild abgegeben hatte.

Bewirkt hatten diese Mobilisierung allerdings vor allem die Fernsehbilder von ertrunkenen Flüchtlingskindern und notleidenden Menschen im Nahen Osten. Gefühle waren es, die das Beste in den Menschen hervortreten ließen, und nicht etwa die seit Jahrzehnten bekannten Sachargumente: die Prinzipien der Genfer Flüchtlingskonvention, die westliche Mitschuld an Chaos und Krieg, die Idee, dass Europa ein Einwanderungskontinent sei usw. Was die Politiker und Politikerinnen angeht, so war die Begeisterung bei vielen ohnehin gedämpft. Manche betonten, dass man die neuen, „guten“ Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen, die „schlechten“ dafür umso schneller abschieben müsse. So, als ob von Mali bis Afghanistan nirgendwo sonst Not, Krieg und politische Verfolgung herrschten.

Das war vorher. Vor den Pariser November-Attentaten und vor den Übergriffen gegen Frauen in der Sylvesternacht in Köln. Wieder ist es nun die emotionale Beteiligung, die den Stimmungsumschwung bewirkt hat: Die bedrückenden Fernsehbilder aus Paris und die Vorstellung von dem, was die Frauen am Kölner Hauptbahnhof erlitten haben. Letzteres wurde zum Teil verstärkt durch online verbreitete – und meist gefälschte – „Schnappschüsse“. Welche Relevanz haben diese Ereignisse für die Ausrichtung der Flüchtlingspolitik? Bei der Terrorismusbekämpfung lässt sich geltend machen, dass offene Türen für Asylsuchende aus Nahost die Einschleusung von Attentätern ermöglichen, eine Personenkontrolle also wünschenswert ist. Was die Übergriffe angeht, so braucht man eine gehörige Dosis an Vorurteilen, um sie als spezifische Verhaltensweise von Flüchtlingen zu deuten. Sie als Teil eines generellen Männerproblems zu interpretieren, wäre mindestens ebenso logisch.

„Will man Lager vor den Toren Europas errichten? Will man möglichst viele umkommen lassen?“

Im Namen der Sicherheit müsse „anders“ mit den Flüchtlingen umgegangen werden, heißt es von rechten Politikern. Sollen also straffällig gewordene Migranten in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden? Etwa, weil dort die Frauen besser vor ihnen geschützt werden? Oder lautet der Plan, nur noch Frauen Aufnahme zu gewähren?

Auch die Diskussion um die Obergrenze gewinnt an Dynamik – in Deutschland, denn Luxemburg hat, bei aller Großzügigkeit, bisher darauf spekuliert, dass die großen Flüchtlingsströme das Land nicht erreichen. Das von manchen vorgebrachte Argument, eine Obergrenze könne es nicht geben, weil man laut Genfer Konvention Asylsuchende unter allen Umständen aufnehmen müsse, ist nicht richtig. Jahrzehntelang haben die Länder des Nordens unerwünschte Flüchtlinge mit der Begründung abgewiesen, dass es „innere Fluchtoptionen“ (Rückzugsgebiete in ihren eigenen Ländern) gebe oder dass nur politisch Verfolgte, nicht aber Kriegsflüchtlinge, einen Rechtsanspruch auf Asyl haben. Aber wie will man eine Obergrenze durchsetzen? Will man Lager vor den Toren Europas errichten? Will man zwecks Abschreckung möglichst viele schon auf dem Weg nach Europa umkommen lassen, wie schon die Praxis der EU-Operation Triton im Mittelmeer argwöhnen lässt?

Es gibt keinen Plan, und deshalb gibt es keine Diskussion darüber. Nur Gefühle, und mittlerweile vor allem negative. Von der nationalen politischen Stimmung gesteuerte Alleingänge werden den Umgang mit den Asylsuchenden bestimmen. Am Ende könnte Europa noch hässlicher dastehen als vor der Flüchtlingswelle und der Woge der Willkommenskultur.


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