Unterwegs mit dem Seenotkreuzer „Minden“: Dicht an dicht

Die Hamburger Hilfsorganisation „Lifeboat“ kreuzt seit dem Sommer vor Libyen, um Flüchtende aus seeuntauglichen Booten zu befreien. Die Chronologie einer Rettungsfahrt.

Der Seenotrettungskreuzer „Minden“ ist schnell, aber keine Fähre, deshalb ist ein mit Flüchtlingen gefülltes Deck bei rauer See gefährlich. Doch eines weiß die Crew: „In ihren Fluchtbooten hätten sie die Nacht nicht überstanden.“ (Foto: Alexander Stein)

Das Schiff lief acht Grad, fast Nordkurs, Richtung Lampedusa, neun Crewmitglieder und 161 Schiffbrüchige an Bord, die meisten aus Afrika. Kapitän Brensing schaltete den Suchscheinwerfer des alten Kreuzers ein und schwenkte ihn über die schwarze See. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Scheiße“, murmelte er durch die geschlossenen Zähne, „Scheiße.“ Die Wellen bauten sich auf. Wie vom Wetterdienst angekündigt. Und die Nacht hatte eben erst begonnen.

Er dachte an die vergangenen Tage. Vor über einer Woche hatten sie unter dem Banner der Hilfsorganisation „Lifeboat“ den Hafen von Valletta, Malta, verlassen: Er, der nicht nur Kapitän zur See ist, sondern auch ausgebildeter Rettungsmann. Thomas, der junge, fröhliche Maschinist. Und eine Bande hoch motivierter, aber teils unerfahrener Freiwilliger.

Brensings Blick wanderte vom Oberen Fahrstand hinunter auf den Bug. Die Menschen, die sie vorhin aus den Schlauchbooten geborgen hatten, stapelten sich nahezu. Leiber hingen zwischen Reling, Fendern und Ankerwinde, fremde Beine über benachbarte Arme, fremde Köpfe über nackte Füße.

Übelkeit zeichnete die Gesichter, Viele nickten kurz ein, klammerten sich im Schlaf an die Reling. Der Bug hob und senkte sich in kurzen Intervallen, Gischt sprühte über die Körper, Backbord und Steuerbord stritten um den Himmel. Hoffentlich rutscht keiner von Bord. Hoffentlich rutscht keiner von Bord.

Brensing lehnte sich mit dem rechten Arm auf die flache Windschutzscheibe der offenen Brücke, die linke Hand am Hebel. Auskuppeln, Einkuppeln, Gas geben, Gas nehmen. Ständig Wogen und menschliche Ladung im Auge. Sein Gesicht glomm im bläulichen Licht der elektronischen Seekarte. Der Schalk im Nacken war einer Anspannung gewichen, zum ersten Mal auf dieser Reise.

Begonnen hatte sie wie die sechs Törns zuvor. Nahrung, Wasser und Treibstoff für zwei Wochen bunkern, Medizinschränke auffüllen, Rettungswesten zählen und, unterteilt in Erwachsenen- und Kinderwesten, achtern in Big Bags verstauen. Einen Tag und eine Nacht Fahrt durchs Mittelmeer in die Gewässer vor Libyen um dort zu kreuzen, immer darauf bedacht, der Küste nicht näher als zwölf Seemeilen zu kommen – dort beginnt libysches Staatsgebiet. Auf dem Monitor markierte eine Kette kleiner, pixeliger Totenköpfe diese Grenze, darüber waren die beiden Hauptsuchgebiete abgebildet, große Areale westlich und östlich Tripolis‘ – festgelegt aufgrund von Sichtungen und Bergungen von „Flüchtlingsbooten“ der vergangenen Monate.

Auskuppeln, Einkuppeln, Gas geben, Gas nehmen. Ständig Wogen und menschliche Ladung im Auge.

Während die anderen Hilfsorganisationen wie „Sea Watch“, „Jugend rettet“ und „Sea-Eye“ den Westen abfuhren, hatte Kapitän Christian Brensing den Seenotkreuzer „Minden“ auf Weisung der zuständigen Leitstelle, dem MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) Rom, gen Osten gesteuert, zur Unterstützung der „Bourbon Argos“, einem Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“. Wegen des ruhigen Seewetters wurden für den Folgetag Boote erwartet. Und so kam es dann auch.

Jetzt darf keine Unruhe aufkommen, sonst droht das Flüchtlingsboot zu kentern: Ein Crewmitglied des Rettungskreuzers «Minden» informiert über den Ablauf der begonnenen Rettungsaktion (Foto: Alexander Stein)

Die Sonne war kaum aus dem Meer gestiegen, da erschien „etwas Stamm-Ähnliches“ am Horizont. Der Blick durchs Fernglas schuf Gewissheit: Ein weißes Schlauchboot, wie üblich überladen, wie üblich 100 bis 150 Menschen auf und zwischen schlecht verklebten Gummischläuchen. Noch fast eine Stunde Fahrt bis dorthin. Wie in ein frisch aufgezogenes Uhrwerk fuhr Leben in die Minden. Thomas, der die halbe Nacht über Maschinenplänen gebrütet hatte, rutschte aus der Koje in seine graue Latzhose, Tom, der das Beiboot steuern würde, kontrollierte die Handfunkgeräte, Lotte, die Schiffsärztin, desinfizierte die Krankenstation und Günther, Günni genannt, besetzte den unteren Fahrstand. „Handsteuerung!“, rief Brensing von oben durch das Sprechrohr. „Handsteuerung liegt an!“ rief Günni in die Decke. Es würde ein langer Arbeitstag.

Damit niemand ins Meer spränge, stoppte Brensing die Minden in gebührender Entfernung. „Manche denken ja, dass sie die letzten sieben Meter über Wasser laufen können“, brummte er. Das Beiboot, ein grau-gelbes Schlauchboot mit festem Rumpf, RHIB genannt, glitt aus dem Heck ins satt blaue Mittelmeer. Dessen dreiköpfige Crew, zusammengesetzt aus Willi, Allison und Tom, näherte sich winkend den Flüchtenden. „Hallo! Bonjour!“, rief Allison, „wir sind hier um euch zu helfen!“ Sie umrundeten das Boot. „Wir werden jedem helfen, bitte bleibt ruhig! OK?“ Die Leute schienen gefasst. Die Crew fuhr an den Spiegel des wabbeligen Schlauchboots, die vergleichsweise stabile Holzplatte, an der dessen Außenbordmotor hängt. „Gibt es Verletzte?“, erkundigte sich Allison. „Schwangere? Wie viele Kinder und Frauen sind an Bord?“ „Fünf Kinder!“, kam es aus der Mitte des Bootes zurück. Keine Schwerverletzten oder Toten. Willi und Allison reichten fünf Rettungswesten mit dem Aufdruck „Child“ hinüber. Die Big Bags gefüllt mit jeweils 30 Schwimmwesten für Erwachsenen holten sie in mehreren Fahrten von der Minden und begannen, sie einzeln über das Heck des „Rubberboat“ auszuteilen. „Gebt die Westen erst zum Bug durch!“, wies Allison an. Als einige sie dennoch überstreiften, kaum dass sie sie in die Finger bekamen, legte die junge Frau mit dem blondierten Haarbüschel Strenge in ihre Stimme: „Durchgeben, wir machen sonst nicht weiter!“

Einzelne erhoben sich vom Boden, um etwas zu sehen. Unruhe kam auf. „Hinsetzen! Bitte setzen!“ Allison und Willi deuteten besänftigend mit ihren Handinnenflächen nach unten. Der Tumult nahm zu, immer mehr Menschen richteten sich auf. Allison drehte sich um zu Tom und zeigte nach achtern: „Go!“ Zügig entfernte sich das RHIB vom Schlauchboot. Aus sicherer Entfernung beobachtete die Crew, wie drei bis vier Männer beschwichtigend auf ihre Mitfahrer einwirkten. Die Situation entspannte sich, innerhalb weniger Minuten nahmen alle Platz. „Ich glaube, wir können wieder hin“, sagte Allison, „OK?“ Willi und Tom nickten.

Nach der Übergabe der restlichen Westen starteten sie die Evakuierung und hoben die ersten zwei Kinder ins RHIB. „Wo sind die Mütter?“ Entkräftet schoben sich die Frauen bäuchlings über die Gummischläuche ihres Fluchtgefährts. Willi und Allison ergriffen ihre Oberarme und zogen sie zu sich.

Sobald sie backbord saßen, nahmen die Frauen ihre Kinder, deren Volumen sich durch die Rettungswesten fast verdoppelt hatte, auf den Schoß. Die beiden Frauen aus Kamerun strahlten. Sie waren seit einem Monat unterwegs. Und hatten nun auch die Stunden auf dem dünnen Gummiboden überstanden, zwischen leckenden Spritkanistern und wund geriebenen Beinen. Sie stellten sich vor: Claude und Cécile. Aber es blieb keine Zeit, sie näher kennenzulernen.

Bevor alle Afrikaner das feste Aluminium des Rettungsschiffs unter sich spürten, pendelte das RHIB mehr als 20 Mal zwischen „Rubberboat“ und der Minden. Günni, Thomas und Brensing – meist Christian genannt – halfen den Ankommenden mit kräftigem Griff unter die Achseln über die seitlich ausgebrachte Rettungsleiter an Bord. Ärztin Lotte und Polizistin Birgit, die auf der Minden ihren Diensturlaub verbrachte, verteilten Wasserflaschen und Tabletten gegen Erbrechen. Und diese waren nötig.

Das war „der Fluch der Minden“: Als wendiger Rettungskreuzer gebaut, um Nordsee-Stürmen gegebenenfalls durch Durchkentern (komplettes Drehen um die Längsachse) zu trotzen, sträubte sie sich gekonnt gegen Stillstand und Komfort. „Euer Schiff rollt ja schon im Hafen!“, hatte ein Maschinist von „Sea Watch“ während einer Besichtigung im gemeinsamen Dock bemerkt.

„Gibt es Verletzte?“, erkundigte sich Allison. „Schwangere? Wie viele Kinder und Frauen sind an Bord?“

Zehn Stunden später, die Sonne war bereits woanders, wurde auch der letzte Gast, ein Ivorer, den Lotte an den Tropf gehängt hatte, von der „Achterbahn Minden“ erlöst – ein großer ins Suchgebiet vorgedrungener Versorger der NGO „Save the Children“ übernahm und brachte die Geflüchteten nach Sizilien.

(Foto: Alexander Stein)

Die Nacht war kurz. Um 06:02 Uhr unterbrach das Funkgerät die privaten Gespräche der Nachtwache: „Minden, Minden! Golfo Azzurro.“ Das Schiff der niederländischen „Boat Refugee Foundation“ patrouillierte nun offenbar auch in der Nähe. „Golfo Azzurro. Guten Morgen, wir hören!“ antwortete Christian, der gleichfalls wieder wach war. „Wir haben ein Gummiboot auf unserer Steuerbordseite, auf dem Radar befindet sich allerdings noch ein zweiter, ähnlicher Punkt, zwei Seemeilen von hier. Darf ich euch die Koordinaten geben?“ Christian notierte: 33°07,4‘ N; 013°51,5‘ O. Erneut etwa eine Stunde zum Ziel.

Als die Minden dort eintraf, graute der Morgen. In der noch dunkelblauen See waren sowohl die Golfo Azzurro als auch beide Schlauchboote zu sehen. Das RHIB der Niederländer kreuzte hektisch zwischen einem der Boote und treibenden Schatten, Rettungswesten flogen ins Wasser. Menschen schrien.

Das Funkgerät knackte: „Minden! Von dem Schlauchboot, dem mein Beiboot zu Hilfe gekommen ist, sind viele Menschen über Bord gegangen! Viele Menschen über Bord!“ Christian drehte bei und öffnete die Heckklappe. Während Thomas und Günni die erste Rettungsinsel ins Wasser kippten, jagte das RHIB der Minden aufs dunkle Meer und suchte nach treibenden Körpern. Das zweite Schlauchboot voll Afrikaner lag verhältnismäßig stabil im Wasser, ohnmächtig beobachteten seine Passagiere das Spektakel. Es schien glücklich zu enden.

Der Kapitän griff zum Hörer: „Golfo Azzurro, Golfo Azzurro! Minden. Wir bringen jetzt die geborgenen Personen von unserem RHIB in die Rettungsinsel – und lassen eine zweite zu Wasser!“ Begleitet von einem satten Zischen blies sich diese in Form, an ihrer Spitze blinkte sogleich ein weißes Signallicht. Als alle Menschen sicher in den Inseln auf ihren Transfer zur Golfo Azzurro warteten, brachte Christian die Minden an das havarierte Boot. Sein Boden war auf der ganzen Fläche ausgebrochen und hing steil in die Tiefe. Hatten das alle überlebt? Nur wenige konnten schwimmen.

Mehr als Rettungswesten auszuteilen war nicht möglich. Die „Minden“ war voll.

Thomas sprang auf den Rand und sprühte mit roter Signalfarbe „Rescued“ auf den hellen Schlauch, damit eine erneute Sichtung keine Rettungsaktion auslöst. Das „S“ spiegelverkehrt. Das war ihm einmal versehentlich passiert, seitdem musste es immer so sein. „Jeder Künstler hat seine Signatur“, erklärte er grinsend und schlitzte mit einem Messer die Luftkammern auf. So oder ähnlich machten es die meisten. Die Boote sollten nicht nach Libyen zurückgelangen, um erneut eingesetzt zu werden.

Die Golfo Azzurro meldete sich: „Ich habe auf Kanal 16 von einer andauernden Rettungsoperation gehört, scheint aber weit weg von uns sein. Könnt ihr bestätigen, dass ihr keine weiteren Boote auf dem Schirm habt? Over.“ Brensing bejahte. Es war im westlichen Suchgebiet – zu groß die Distanz, um helfen zu können. Er beschloss einen Badestopp. Die Crew der Minden sprang ins offene Mittelmeer. 15 Minuten Abtauchen, Kraulen, ein Blick aus den Wellen auf das rollende Schiff.

„Motorvessel Minden!“ Die Stimme hatte einen breiten italienischen Akzent. „Hier spricht Charlie Papa 9-2-0.“ Das Funkgerät rauschte. „Wir haben zwei Leichen aus dem Meer geborgen.“ Der Funker der Guardia Costiera, der italienischen Küstenwache, forderte Unterstützung an bei der Suche nach weiteren Opfern – unweit der Stelle, wo sie am Morgen der Golfo Azzurro zu Hilfe gekommen waren. Christian und seine Mannschaft hielten nach einem vorgegebenen Suchmuster Ausschau bis zum Sonnenuntergang. Andere Ertrunkene entdeckten sie nicht.

Am kommenden Morgen schrillte das Satellitentelefon auf der Brücke. MRCC Rom meldete die Koordinaten zweier neuer „Rubberboats“ in der östlichen Suchzone. Ebenfalls via Satellitentelefon hatten die Insassen um Hilfe gerufen. Die Minden evakuierte das erste Schlauchboot. Routine. Mit Menschen beladenem Deck auf dem Weg zum zweiten. Doch wo war es? Es waren Stunden vergangen, die Positionsangabe war veraltet. Der Kapitän warf einen Blick auf Seekarte und Wellen. Brensing verfügte über 20 Jahre Berufserfahrung als Retter, noch länger fuhr er zur See. Kurz vor Einbruch der Dämmerung fand der 54-Jährige das Boot. Das RHIB legte los. Mehr als Rettungswesten auszuteilen war jedoch nicht möglich. Die Minden war voll. Und das Tageslicht schwand. Brensing drückte die Taste „Nockscheinwerfer Backbord“. Ein konzentrierter Lichtkegel flammte auf. Günni umfasste den Strahler und blieb dem zehn bis zwölf Meter langen Gummikahn auf den Fersen, der schlingerte wie ein Raupenkarussell auf dem Jahrmarkt: Fuhr sein Bug in ein Wellental, reckte sich das Heck auf dem folgenden Kamm, rutschte seitlich weg und rollte in ein anderes Tal. Mal steuerbords, mal backbords. Kiellos und unkontrolliert. Das Beiboot der Minden wich nicht von seiner Seite. Sie würden keinen verlieren.Nach beinahe einer Stunde erhellten Suchscheinwerfer den Horizont. Die Aquarius, ein stattlicher Dampfer der Organisation „SOS Méditerrranée“, nahm alle Flüchtenden an Bord – zuerst vom Schlauchboot, dann von der Minden.

Um Tonnen erleichtert lief der Seenotkreuzer durch die Nacht und den nächsten Tag. Der nächste Anruf aus Rom kam 31 Stunden später: „Zwei Holzboote, auf dem einen 28, auf dem zweiten 13 Personen.“ Doch die Suche wurde durch eine Sichtung torpediert: „Rubberboat!“ – die altbekannte billige Bauart. Mehr als 120 Personen. Christian informierte Rom.

Tom kletterte ins RHIB und betätigte den Anlasser. Nichts. Noch einmal. Wieder keine Reaktion. Thomas musste her. „Das Kellerkind“ kroch sofort mit Zange und Schraubenschlüssel unter die Verkleidung – aber keine Chance: Das RHIB war tot. Stattdessen gaben die Afrikaner Gas und flüchteten vor der Minden. Hatten sie den Kreuzer trotz den „Lifeboat“-Bannern nicht als Hilfsschiff erkannt? Hielten sie ihn für die libysche Küstenwache? Das Boot war schnell eingeholt, die redliche Absicht erklärt. Aber wie sollten sie die Menschen risikoarm evakuieren ohne RHIB? Christian überlegte kurz: „Lasst das Rettungsfloß zu Wasser!“ Sie befestigten es mit einer Leine am Bug, die eben so lang war, wie der Abstand vom Bug zur seitlich herabhängenden Rettungsleiter. Das machte es dem Kapitän möglich, das Floß durch behändes Wenden an das Schlauchboot zu schleppen, um es danach durch Beschleunigen an den Noteinstieg der Minden klappen zu lassen. „Das wird als ‚Brensing-Manöver‘ in die Lehrbücher eingehen“, lachte seine Crew. Christian lächelte.

Charlie Papa neun-vier-null, ein weißer Gigant der Guardia Costiera, näherte sich und entsandte zwei seiner RHIBs. Zügig und herb füllten die Beamten ihre Boote mit Flüchtlingen. Nach weniger als einer Stunde war das Deck der Minden leer, wie Zeugnisse eines Spuks lagen nasse Hosen, Brechbeutel und leere Wasserflaschen umher.

Tauchten bis zum Mittag keine weiteren Boote im Suchgebiet auf, ginge es zurück nach Valletta, kündigte Christian am Folgetag an. Das RHIB brauchte eine neue Steuerelektronik. Besser noch wäre zwar ein neues RHIB, eines mit Jet-Antrieb, aber das konnten sie sich nicht leisten. Trotz des geglückten Einsatzes des Floßes war ihm ohne das Beiboot nicht wohl.

Eine drohende Katastrophe im westlichen Areal jedoch durchkreuzte seinen Plan. Die Informationen flossen zunächst spärlich. Viele Schlauchboote voll Flüchtender. Sämtliche Hilfsschiffe voll. Darunter Charlie Papa neun-vier-null. Die Minden müsse helfen.

Als die Minden den Funkbereich des Einsatzortes enterte, beschallte ein babylonisches Sprachgewirr die Brücke, darunter Spanisch, Italienisch und Arabisch. Auch die englischen Mitteilungen waren wenig erhellend. Christian verdrehte die Augen. Er versuchte, das Wesentliche zu filtern. „Wenn‘s gut läuft, gibt es nur kurze, sachliche Infos“, erläuterte er, „aber die sind alle überfordert.“ Sein Ziel stand inzwischen fest: Die „Sea-Eye“. „Rom will, dass wir alle Migranten irgendwie an Bord nehmen“, informierte der Kapitän seine Mannschaft. Hilfe in Form eines Versorgers käme später.

Kapitän Brensing 
wusste, dass es keinen Schlaf für ihn geben würde. Hauptsache, niemand geht über Bord. 
Niemand geht über Bord!

Als die Minden die Sea-Eye erreichte, dümpelten in der Nähe der driftenden Gummiboote noch zwei kleine Motorboote. Möglicherweise sogenannte „Engine-Fishers“, die – meist nach den Evakuierungen – versuchen, in den Besitz der Motoren zu gelangen. Vermutlich, um diese zurück zu den Schleppern zu bringen.

Die Männer auf den Schlauchbooten waren von der Sea-Eye bereits mit Westen versorgt worden, Frauen und Kinder schon geborgen. Kapitän Brensing wollte keine Zeit verlieren. Es briste auf. Er brachte die Minden in Wurfweite des ersten Boots. Eine Leine flog, das „Rubberboat“ ging längsseits. Alle rein über die Rettungsleiter. „Den Bug füllen, dicht an dicht“, bestimmte Brensing. Fertig. Auf zum zweiten Havaristen. Leine. Längsseits. Rettungsleiter. Heck.

Mit Menschen an Deck aus mindestens zehn Ländern, darunter Mali, Guinea und Sudan, verließ die Minden die libysche Seegrenze – auf der Flucht vor schwerem Wetter. Das Licht war versunken. Sie liefen acht Grad, fast Nordkurs, Richtung Lampedusa. Neun Crewmitglieder und 161 Schiffbrüchige. Kapitän Brensing schaltete den Suchscheinwerfer des alten Kreuzers ein und schwenkte ihn über die schwarze See. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Scheiße“, murmelte er durch die geschlossenen Zähne, „Scheiße.“ Die Wellen bauten sich auf. Wie vom Wetterdienst angekündigt. Und die Nacht hatte eben erst begonnen. Einige schliefen, andere starrten im gleißenden Licht der Deckstrahler ins Leere.

Brensing wusste, dass es keinen Schlaf für ihn geben würde. Die Verantwortung konnte und wollte er nicht abgeben. Der Blick des Seemanns mit den Jolly-Roger-Tätowierungen auf Brust und Rücken wurde zunehmend stoisch, seine Gesichtszüge und sein Körper verhärteten sich. Hauptsache, niemand geht über Bord. Niemand geht über Bord!

Die Weite des nächtlichen Meeres würde das Wiederfinden einer Person ohne Blinklicht an der Weste schon nach kurzer Verzögerung unwahrscheinlich werden lassen. Er behielt alles im Blick. Alles im Blick. Alles im … Das Funkgerät riss ihn aus der Eintönigkeit von Motorenlärm und Wellenklatschen: „Minden, Minden, this is Sea Watch 2 calling!” Eine vertraute klare Stimme. Ingo und er kannten sich von diversen Einsätzen und dem Port in Valletta. „Christian, erzähl mal eben …“ Und Christian berichtete. Von den „östlichen Winden von 5-6“, die zu erwarten waren, von den Wellen, die ihn zum Kurs auf Lampedusa nötigten. Und vom Diensthabenden der Seenotleitstelle, der nicht mehr zu erreichen war, trotz zugesicherter Hilfe für den gleichen Abend. „Ich lande ab und zu mal bei der Putzfrau“, knurrte der Kapitän, „aber die legt gleich wieder auf.“ Brensing verfluchte den Dilettantismus. Er wünschte sich On-Scene-Koordinatoren (Leiter der Einsätze vor Ort) sowie Vertreter von MRCC Rom im Suchgebiet. Auch Rettungsfrau Susanne Salm-Hain, die Initiatorin der Organisation „Lifeboat“, sehnt sich nach besser aufeinander abgestimmten Einsätzen, am besten in Form eines Zusammenschlusses der einzelnen NGOs zu einer gemeinsamen zivilen Rettungsflotte.

Die Minden ist schnell, dadurch ragt sie heraus. Aber sie ist keine sichere Fähre, deshalb hatte es Christian nie gewollt: Das volle Deck bei rauer See. Zu eingeschränkt sei die Manövrierfähigkeit. Aber eines sei gewiss, sagte er und betrachtete das Menschenknäuel auf dem Vorschiff: „In den Booten hätten sie die Nacht nicht überstanden.“ Sobald die Sonne längsseits des 23,3 Meter langen Seenotkreuzers aufging, huschte ein Grinsen über Brensings Gesicht, der Schalk in ihm war wieder wach. Sie hatten es geschafft. Das Einlaufen in Lampedusa würde zwar am italienischen Außenministerium scheitern, aber dank zahlreicher Anrufe von Salm-Hain beim MRCC waren mehrere Schiffe auf dem Weg zu ihnen: Die „Topaz Responder“, ein Versorger der maltesischen MOAS (Migrant Offshore Aid Station), ein Schnellboot der italienischen Küstenwache für den Transfer – und der eigens abkommandierte Tanker Valdaosta, um dafür Wellenschatten zu spenden.

Ein letztes Winken, dann nahm die „Lifeboat“-Crew Fahrt auf in Richtung Valletta, um die Minden auf ihren nächsten Einsatz vorzubereiten. In ein paar Tagen ginge es wieder raus, zumindest für Christian, Günni und Thomas.

Alexander Stein ist LeserInnen der woxx bisher als Fotograf der Reportagen unseres Korrespondenten Tobias Müller bekannt. Mittlerweile jedoch ist Stein auch selbst mit Stift und Schreibblock unterwegs. 
Weitere Infos zur Organisation „Lifeboat“ unter www.lifeboatproject.eu

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