Vereinigtes Königreich: Weg frei für den Brexit

Am 7. Mai wurde in Großbritannien das britische Unterhaus gewählt. Überraschend gewannen die Konservativen die absolute Mehrheit.

Konnte seine Partei nicht zu einem Wahlsieg führen: Ed Miliband ist vom Vorsitz der Labour Party zurückgetreten. (Foto: IPlashing Vole / FLICKR)

Konnte seine Partei nicht zu einem Wahlsieg führen: Ed Miliband ist vom Vorsitz der Labour Party zurückgetreten. (Foto: IPlashing Vole / FLICKR)

Allen Umfragen zufolge sollte es bei den britischen Unterhauswahlen zu einem „hung parliament“ kommen, einem Parlament ohne absolute Mehrheit. Da erwartet wurde, dass die beiden großen Parteien, die konservativen Tories und die sozialdemokratische Labour-Partei, ähnlich viele Sitze erhalten, wäre die Gestalt der Regierung ungewiss gewesen. Nach der Wahl 2010 hatte sich zum ersten Mal seit 1945 im britischen Parlament eine Koalition gebildet. Die drittstärkste Partei, die linksliberalen Liberal Democrats, die damals hohe Wahlgewinne erzielte, koalierte mit den Tories, die die meisten Sitze erhalten hatten.

Auch bei der Wahl vom Donnerstag vergangener Woche erhielten die Tories unter Vorsitz von David Cameron die meisten Sitze, diesmal reichte es mit 331 von insgesamt 650 Sitzen für eine knappe absolute Mehrheit. Der Ansehensverlust, den die Liberaldemokraten durch die Entscheidung, 2010 mit den Konservativen und nicht mit Labour zu koalieren, unter ihren Wählerinnen und Wählern erlitten hatten, wurde in dieser Wahl deutlich. Sie verloren 49 ihrer zuvor 57 Parlamentssitze. Ebenfalls enttäuschend war die Wahlnacht für die Labour-Partei, die nur 232 ihrer bisherigen 258 Sitze verteidigen konnte.

Die Programme, mit denen die Parteien um Stimmen geworben hatten, waren alle von denselben Themen geprägt: Staatsverschuldung, staatliches Gesundheitssystem, Einwanderung und Wohnungskrise. Das Programm der Tories setzt auf nationale Sicherheit sowie einen möglichen EU-Austritt. Nicht nur verspricht es ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft, sondern auch strenge Einwanderungskontrollen. Was die Wirtschaft betrifft, wollen die Konservativen Steuererhöhungen vermeiden, aber eine Erbschaftssteuer für Häuser im Wert von über einer Million Pfund einführen.

Die Labour-Partei unter Ed Miliband, der am Tag nach der Wahlniederlage als Vorsitzender zurücktrat, versprach dagegen, „die Konten auszugleichen“, und propagierte eine Politik ohne weitere Verschuldung. Insgesamt versuchte sich die Partei als diejenige darzustellen, die am meisten finanzielle Verantwortung übernehmen will. Defizite sollten abgebaut und Schulden gesenkt werden.

Labour versprach außerdem, bis 2019 den Mindestlohn auf über acht Pfund (elf Euro) zu erhöhen. Die Besteuerung sollte so geändert werden, dass das reichste Prozent der Bevölkerung mehr bezahlt als der Rest; Einkommenssteuer, Mehrwertsteuer und Sozialversicherungsbeiträge sollten aber nicht erhöht werden. Gleichzeitig wollte Labour Großbritannien durch Steuersenkungen für Unternehmen attraktiv machen.

Die Einwanderungspolitik der Labour-Partei unterscheidet sich dagegen kaum von den Tories. Auch Miliband propagierte eine strenge Kontrolle von Einwanderung und warf den Tories vor, nichts gegen das seiner Meinung nach durch Einwanderung hervorgerufene Lohndumping unternommen zu haben.

Mit den Tories soll es nun ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft und strenge Einwanderungs-kontrollen geben.

Die Liberaldemokraten versuchten, sich programmatisch zwischen Labour und den Tories zu positionieren. Sie behaupteten, den Staatshaushalt mit weniger Kürzungen als die Tories und mit weniger Ausgaben als Labour zu führen. Das derzeitige Haushaltsdefizit sollte bis 2017/2018 ausgeglichen werden, was zu einer Senkung der Staatsschulden führen sollte. Zudem wollten die Liberaldemokraten den Banken höhere Steuern auferlegen. Was Einwanderung angeht, versprachen sie eine kontrollierte Einwanderung von Fachkräften und deren Integration.

Keine der drei Parteien bot eine radikale Änderung der bisherigen Politik. Die Green Party, die nur einen Sitz erhielt, grenzte sich in ihrem Programm wesentlich stärker ab. Obwohl die Partei für Umweltschutz und „nachhaltiges Wirtschaften“ steht, ist die Green Party mit den Grünen in Deutschland nicht vergleichbar. Ihre Forderungen im Wirtschaftsbereich sind im Vergleich zu den anderen Parteien radikal. Nicht nur argumentieren sie gegen jegliche Form von Kürzungen, sondern wollen auch die Idee des Wirtschaftswachstums generell hinterfragen. Die Partei möchte das Bruttoinlandsprodukt als Wachstumsindikator abschaffen, stattdessen soll ein „Adjusted National Product“ berechnet werden, das den Wertverlust von Kapital und Umwelt sowie den Wert unbezahlter Arbeit mit einbezieht.

Nicht nur sollte es unter der grünen Partei keine Kürzungen geben, sondern sogar noch mehr Schulden gemacht werden – mehr als doppelt so viele wie unter der derzeit noch regierenden Koalition. Einwanderung soll nicht kontrolliert werden, da reichere Staaten nach Ansicht der Partei dafür verantwortlich seien, Menschen aus ärmeren Ländern zu helfen.

Diese teils progressiven Ideen machten die Green Party bei ehemaligen Wählerinnen und Wählern radikaler linker Parteien beliebt. Doch vertritt sie auch fragwürdige Positionen gegenüber islamistischem Terrorismus sowie einen deutlichen Antizionismus. Unter dem Vorsitz von Caroline Lucas (2008–2012), die jetzt für den Bezirk Brighton Pavilion ins Parlament einzieht, wurde auf vergangenen Parteitagen beispielsweise ein Boykott israelischer Waren beschlossen.

Auf der rechten Seite gibt es die United Kingdom Independence Party (Ukip), die bei der Europawahl im vorigen Jahr stärkste Partei geworden war, wegen des Mehrheitswahlrechts nun aber trotz 12,6 Prozent Stimmenanteil nur einen Sitz im Unterhaus erhielt.

Das Hauptinteresse der Ukip ist das Thema Einwanderung. Nicht nur wollte Nigel Farage, der am 8. Mai als Vorsitzender seiner Partei zurücktrat, dass Großbritannien die EU verlässt, wichtig war ihm auch, dass Einwanderung streng geregelt wird. Er vertritt ein Punktesystem wie in Australien, nach dem nur ausgebildete Fachkräfte einwandern können, aber höchstens 50.000 Menschen pro Jahr. Migranten sollen nach dem Willen von Ukip außerdem nicht das kostenlose öffentliche Gesundheitssystem in Anspruch nehmen dürfen, sondern sich privat versichern und erst nach fünf Jahren Anspruch auf Sozialleistungen haben.

Nicht nur will die Partei die Erbschaftssteuer abschaffen und die persönlichen Steuerfreibetrag von 10.000 auf 13.000 Pfund erhöhen, sondern auch die Einkommensteuer senken. Finanziert werden soll dies durch den Austritt aus der EU sowie eine Reduzierung des Haushalts für Schottland und der Ausgaben für Entwicklungshilfe.

Die überraschendste Wahlgewinnerin ist jedoch die Scottish National Party (SNP) unter Vorsitz von Nicola Sturgeon. Sie ist die Nachfolgerin von Alex Salmond, der nach der Niederlage im schottischen Unabhängigkeitsreferendum vergangenes Jahr zurückgetreten ist. Obwohl sich die Wahlbevölkerung Schottlands entschieden hat, die Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich nicht aufzukündigen, scheint sie mit neuem Nationalstolz aus dem Referendum hervorgegangen zu sein. Während das Land bisher hauptsächlich „Labour-rot“ eingefärbt war, gewann die SNP mit 56 die meisten Sitze für Schottland, 50 mehr als bei der vorigen Wahl. Die SNP vertritt eher sozialdemokratische Positionen, steht aber vor allem für eine Quasiunab-
hängigkeit Schottlands. Zu ihren Programmpunkten gehört die Umverteilung des Reichtums durch eine Besteuerung von Luxuswohnungen und Banker-Boni.

Während Miliband und Farage sowie Nick Clegg von den Liberal-demokraten nach der Wahl zurücktraten, stimmt sich Cameron auf seinen nächsten Kampf ein, den potenziellen Austritt aus der EU. Das angekündigte Referendum muss bis Ende 2017 stattfinden, der rechte Flügel der Tories wird sicherstellen, dass dies passiert. Camerons eigentliches Ziel ist nicht der EU-Austritt, sondern eine EU-Reform. Den EU-Vertrag neu zu verhandeln, wird schwierig, aber nach dem Wahlsieg befinden sich die Konservativen in der Position, den anderen Mitgliedern zumindest viele Zugeständnisse abzuringen. Ob das den rechten Hinterbänklern der Partei reicht, bleibt abzuwarten.

Doerte Letzmann arbeitet als Wissenschaftlerin und freie Autorin in Cambridge.

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