Wählerwille!?

Eine funktionierende Demokratie braucht keinen Wählerwillen. Betrachtungen über eine kollektive Fiktion.

Hat Lydie Polfer recht, wenn sie auf 100,7 erklärt, sie wolle den Koalitionspartner aus Respekt für den Wählerwillen wechseln? Die hauptstädtischen Grünen ihrerseits pochen verständlicherweise darauf, dass sie Stimmen dazugewonnen haben – dass die Bevölkerung also die grüne Politik unterstützt. Das ist mehr, als die DP-Bürgermeisterin von ihrer Partei sagen kann. Den Rückgang um 3,6 Prozentpunkte könnte man als Aufforderung an die DP verstehen, das Feld zu räumen.

Keine Partei könne von sich behaupten, den Wählerwillen zu respektieren, schreibt Dhiraj Sabharwal im Tageblatt. Alle rechneten herum, um das eigentliche Wahlergebnis zum eigenen Vorteil umzudeuten. Dieser Eindruck drängt sich allerdings auf, wenn man sieht, wie die Parteien je nach Sachlage mal die eigene Stärke, mal den Stimmengewinn und mal die Einzelstimmen für den Spitzenkandidaten als Grund anführen, an Koalitionsgesprächen teilzunehmen. Allerdings hat Sabharwal eine klare Vorstellung davon, was „der eigentlich Wählerwille“ ist: Er drückt sich in der Prozentstärke aus.

Diese Definition hat einiges für sich, allerdings ist einem nicht wohl bei der Vorstellung, dass vorzugsweise die stärksten Parteien die Koalition bilden sollten. Nach dieser Regel hätte die DP in der Nachkriegszeit nur 1999 Anrecht auf eine Regierungsbeteiligung gehabt – den Rest dieser Zeitspanne hätte Luxemburg unter Groko-Herrschaft verbracht. Immerhin deutet Sabharwal an, dass nach dieser Logik die Gambia-Regierungsbildung 2013 auch ein Verrat am Wählerwillen war. Ansonsten liefert er aber vor allem Beispiele, bei denen die LSAP Anspruch auf einen Platz im Schöffenrat hätte. Außerdem unterstellt er der DP und den Grünen, es nicht mit der CSV verscherzen zu wollen und sie als Koalitionspartner zu privilegieren, um „die Weichen für 2018 zu stellen“.

(Foto: Wikimedia commons/CSV/woxx)

Diese neue Attraktivität der CSV meint auch Nico Graf auf RTL-Radio zu erkennen, allerdings zählt er auch die Sozialisten zu den Verehrern. Und sinniert: „Wir lernen also: Der Wählerwille ist das, was Politiker nach den Wahlen machen wollen, ganz gleich, was in der Wahlkabine geschehen ist.“ Eine wohltuende Dosis Sarkasmus in diesen Zeiten, in denen der Innenminister Dan Kersch mit einem pathetischen Facebook-Eintrag in die Koalitionsverhandlungen in Schëtter eingreift: Dort sei eine „Magouille“ geplant, die dem demokratischen Wettbewerb einen Bärendienst erweise – der Minister meint die Viererkoalition, die sich gegen die stärkste Partei, die DP, zusammenfinden wollte. Per Gesetz wolle er solchen Entwicklungen ein Ende setzen. Peinlich, dass von einem solchen Gesetz nicht nur die Schëtter DP profitieren würde, sondern zahlreiche LSAP-Sektionen … unter anderem Monnerich, wo der Ex-Bürgermeister Kersch immer noch als Präsident amtiert.

Demokratie heißt, dass es so viele Willensbekundungen gibt wie WählerInnen. In den – den demokratischen Idealen am nächsten kommenden – Proporzwahlsystemen werden VertreterInnen bestimmt, die anstelle der BürgerInnen Rat halten und politische Entscheidungen treffen. Regierungen und Schöffenräte werden auf der Basis einer Mehrheit – und nichts als einer Mehrheit – gebildet. Und das ist gut so, denn es erlaubt eine Mehrheitsbildung aufgrund der Programmatik – und nicht aufgrund der Rangordnung der Parteien oder der Kandidaten. Eine funktionierende Demokratie wird der Vielfalt der Wünsche der WählerInnen gerecht, sie braucht keine Exegese des „Wählerwillens“.


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