Zukunft Europas: „Einigung nicht dingfest“

Interview: Thorsten Fuchshuber und Richard Graf

Wie politisch muss die Einheit Europas sein, damit sie dauerhaft ist? Jean-Claude Juncker warnt vor „endgültigen Provisorien“, weil das zur Auflösung des europäischen Projekts führen kann. Zum 30. Geburtstag spendiert die woxx sich und ihren Leser*innen ein Interview mit dem EU-Kommissionspräsidenten. Ein Gespräch über Souveränität, Streitkultur und die Rolle der Medien.

„Wir dürfen nicht erschrecken, wenn es von Zeit zu Zeit gravierende Meinungsverschiedenheiten in Europa gibt“: Jean-Claude Juncker in seinem Kommissions-Büro. (Fotos: Patrick Galbats)

woxx: Seit Ende der 1980er-Jahre hat die Europäische Union eine Entwicklung genommen, die noch während des Kalten Krieges unvorstellbar schien. Hat aber die Osterweiterung Europa letztlich dennoch überfordert?


Jean-Claude Juncker: Das kann nur von einem Ende her beurteilt werden, an dem wir noch nicht angekommen sind. Meine politische Auseinandersetzung mit Europa hat Ende 1982 angefangen, als ich Staatsekretär im Arbeitsministerium geworden bin. Damals gab es einen europäischen Gipfel in Kopenhagen, der sich mit dem Thema „Eurosklerose“ beschäftigte. „Alles steht still, nichts geht weiter…“, so war die Stimmung damals. Dann passierten zwei Sachen, die an diesem Zustand etwas ändern sollten: Zum einen erinnerten sich die Politiker in Europa an den Werner-Plan, der zwölf Jahre zuvor die Einführung einer europäischen Währung skizziert hatte. Das führte dann zum Delors-Bericht über eine einheitliche Währung und 1991 zur Regierungskonferenz über deren Einführung, die ich präsidieren durfte. Zum anderen war es kurz davor zum unerwarteten Umsturz in Mittel- und Osteuropa gekommen. Daraus entstand seinerseits ein Prozess, der im Dezember 1997 in Luxemburg – ebenfalls unter Luxemburger Vorsitz – zum wichtigen Beschluss einer Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft nach Osten hin mündete. Das war eigentlich eine Erfordernis der damaligen Geschichte: Entweder waren wir bereit die neuen Demokratien, aber auch die neuen Wirtschaftsräume, in Europa zu integrieren, oder wir hätten ihnen die kalte Schulter gezeigt. Dann hätten diese Länder ihre neue oder wiedererrungene Souveränität allerdings womöglich gegeneinander ausgetobt, statt miteinander voranzukommen. Deshalb gehöre ich immer noch zu denen, die glauben, dass dies ein Glücksmoment der europäischen Geschichte gewesen ist.

„Menschen wie ich schreiben irgendwann ihre Memoiren und können die Entwicklung dann detaillierter betrachten.“

Und doch gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den neueren Mitgliedern anders.


Bei genauer Betrachtung sind zwischen den alten und den neuen Mitgliedern der EU keine so großen Unterschiede erkennbar. Wir gestalten das europäische Patentrecht und die europäische Staatsanwaltschaft zusammen mit den neuen Mitgliedern, während die alten nicht überall mitmachen. Häufig sind es die neuen Mitglieder, die die europäische Bewegung anführen. Diese Dynamik hat allerdings an Intensität verloren, seit es die sogenannte Migrationskrise in Europa gibt, und Ungarn, Polen, Tschechien und andere sich der europäischen Solidarität verweigern. In Mittel- und Osteuropa hat sich das, was wir „fait étranger“ nennen, langsamer als in Westeuropa entwickelt. Wenn ich manchen erkläre, dass es in Luxemburger 49 Prozent Nicht-Luxemburger gibt, ohne dass das zu größeren Verwerfungen führt – was nicht heißt, dass es keine Integrationsmängel geben würde – dann ruft das oft Staunen hervor. Je weniger Ausländer es gibt, desto leichter lässt sich die Angst vor mehr Ausländern schüren.

„Die Menschen werden immer das Original wählen“: Jean-Claude Juncker über Versuche etablierter Parteien, mit populistischer Rhetorik Stimmen zu gewinnen.

Aber auch in anderen Bereichen sind die Differenzen gravierend, wenn man etwa den Umgang eines Viktor Orbán mit der Pressefreiheit betrachtet.


In meiner Rede zu Lage der Europäischen Union habe ich in diesem Jahr auch dazu etwas gesagt, weil die Nonchalance, mit der gegen die Pressefreiheit vorgegangen wird, mir Sorgen bereitet. Die Vorstellung, dass die Presse den Regierenden zu Diensten sein soll, statt sie kritisch zu begleiten, nimmt in einzelnen Ländern der Union zu. Das ist Teil eines weltweiten Phänomens. Die Animosität gegenüber jenen, die Kritisches zu Papier bringen, gibt Anlass zur Sorge. Die Kommission hat eigentlich die Rolle, den Erfordernissen der europäischen Grundrechte-Charta Gehör zu verschaffen und dazu gehört auch die Pressefreiheit.

Ein weiterer „Meilenstein“ der europäischen Entwicklung war die Einführung des Euro. Sind im Nachhinein betrachtet die wirtschaftlich schwächeren Länder die Leidtragenden der jetzigen Euro-Konstruktion?


Als wir 1991 die Regierungskonferenz zur Währungsunion abhielten, wurden auch die Beitrittskriterien festgelegt. Bis 1995 war Luxemburg das einzige Land, das diese Kriterien erfüllte. Damals fand eine heute fast vergessene Debatte statt, die wir dann 1997 unter luxemburgischer Präsidentschaft regeln konnten, nämlich wie viele Länder eigentlich in den Startblöcken standen, um die Währungsunion von Anfang an mitzutragen. Damals herrschte die Meinung vor, dass die südlichen Mitgliedsländer nicht dabei sein sollten. Ich empfing damals einige Regierungschefs, die radikal sagten, falls Italien oder Spanien teilnähmen, wären sie nicht mit von der Partie. Das konnten wir alles in geduldigen Gesprächen, von denen keiner weiß, dass sie stattgefunden haben, überwinden. Aber Menschen wie ich schreiben ja irgendwann ihre Memoiren und dann können solche Entwicklungen detaillierter betrachtet werden. Jedenfalls gab es dann Länder, die am Euro beteiligt waren und sich zwar konform zum Stabilitätspakt verhielten, aber eine andere wirtschaftliche Entwicklung genommen haben – besonders im Süden von Europa. Wir haben dann sehr viel Mühe darauf verwandt, dass beispielsweise Griechenland im Euro verbleiben konnte. Dann kommt die ganze Austeritätspolitik – und wenn hier gesagt wird, die Kritik daran sei von links, dann bin ich deutlich links. Ich hatte als Präsident der Eurogruppe nicht nur mit rechtskonservativen, sondern auch mit sozialistischen Regierungen zu tun, von denen sich manche noch fanatischer gegen griechische Sonderwege ausgesprochen haben. Zum Schluss der Verhandlungen 2015 habe ich dann noch einmal die Zahlung von 35 Milliarden Euro vorgeschlagen, um die soziale Infrastruktur in Griechenland zu stärken. Auch im Umgang mit Italien haben wir Flexibilitätslinien vorgesehen, die von den Mitgliedsstaaten formal übrigens nie akzeptiert worden sind.

„Ich halte es für einen Fehler der klassischen Parteien, dass sie mancherorts in den populistischen Gesang einstimmen.“

So konnte Italien in den letzten zwei Jahren 30 Milliarden mehr ausgeben, ohne dass die Sanktionen des Stabilitätspaktes zum Einsatz gekommen wären. Wir haben im Falle Griechenlands versucht, den direkten Link zwischen dem Schuldenstand und dem jährlichen budgetären Gebaren zu brechen. Griechenland hat große Anstrengungen gemacht, unter Inkaufnahme größter Opfer, was die ärmeren Teile der Bevölkerung angeht. Das Land wächst wieder, es wird von den Finanzmärkten heute freundlicher betrachtet als während der Krise. Ich finde schon, dass die Griechen wieder Kontrolle über den eigenen finanzpolitischen Hoheitsraum erreicht haben.

Das dürften Kritiker der Austeritätspolitik wie der Nobelpreisträger Joseph Stieglitz wohl anders sehen.


Stieglitz war nie für den Euro. Wenn wir die Verschuldung als Maß aller Dinge nehmen, hätten wir Griechenland aus dem Euroraum entlassen müssen. Die Verschuldung war ja das Resultat einer verkorksten Politik der unterschiedlichen Regierungen. Ich mache aber einen Unterschied zwischen den Regierungen und der griechischen Bevölkerung. Ich kenne Griechenland recht gut und während meiner Eurogruppen-Zeit habe ich dreimal pro Woche zum Hörer gegriffen und Leute in Griechenland angerufen – Leute die mir bekannt waren, aber auch andere. Von denen wollte ich wissen, was konkret vor Ort auf der Straße passiert – in Athen, auf dem Peloponnes, in Thessaloniki, im Norden und so weiter. Da hat man mir zum Beispiel erzählt, dass man für einen chirurgischen Eingriff einen gut gefüllten Umschlag mit Geld ins Krankenhaus mitbringen muss. Korruption war in Griechenland auf allen Ebenen der Gesellschaft anzutreffen. Solche Gespräche waren für mich wichtig, weil ich mich nicht nur auf das verlassen konnte, was uns die europäischen Botschafter oder die griechische Regierung vorgetragen haben. Die griechische Lohn- und Pensionssituation hat sich laufend verschlechtert. Nicht, weil die EU das verlangt hätte, sondern weil es den Griechen nicht gelungen ist, Einsparungen dort zu machen, wo es notwendig ist. Ich habe mit Herrn Tsipras, im Übrigen ein guter Freund von mir, darum gestritten, die griechischen Reedereien stärker zu besteuern. Das haben die Linkskommunisten und die Gewerkschaften radikal abgelehnt.

Letztlich hat sich die linke griechische Regierung dem Druck jedoch gebeugt; hinter der rechtspopulistischen Regierung in Italien steht aber nicht zuletzt ein größeres ökonomisches Gewicht.


Man hat es auch mit Griechenland nie leicht gehabt. Was Italien betrifft, wird derzeit der Eindruck erweckt, als sei es an der Kommission, die armen, geschundenen Italiener zu befreien und die Rechtspopulisten wieder aus den römischen Regierungspalästen zu verjagen. Die Kommission ist überhaupt nicht zuständig für die Zusammensetzung der nationalen Regierungen. Das Problem, das wir jetzt haben, ist die Ankündigung der derzeitigen italienischen Regierung, sich bewusst nicht an die europäischen Haushaltsregeln halten zu wollen. Wir hatten mit der Vorgängerregierung ein Defizit von 0,8 Prozent ausgehandelt, die jetzige hat 2,4 Prozent vorgesehen, was beim derzeitigen Schuldenstand Italiens nicht konform mit dem europäischen Regelwerk ist. Dabei sind wir bereits auf die italienischen Belange und die dortige soziale Lage eingegangen. Die jetzige italienische Regierung kann daher jetzt nicht einfach erklären, es interessiere sie nicht, was Europa von ihr verlangt. Was auf dem Spiel steht, ist nicht die italienische Währung, sondern die gemeinsame Währung von 19 Mitgliedsstaaten. Exzessiv ausgetretene Sonderpfade sind nicht zulässig.

Die jetzige italienische Regierung lässt hier einen gewissen Nihilismus erkennen.


Das ist meine Sorge, kann aber nicht Ausgangspunkt unseres Handelns sein. Die Italiener haben diese populistischen Parteien an die Macht gebracht, welche die Empfindlichkeiten Italiens mit sonderbarer Zuverlässigkeit bedienen. An sich habe ich überhaupt kein Problem im Umgang mit Euroskeptikern. Die stellen zulässige Fragen und mit denen muss man reden. So zu tun, als ob alle Euroskeptiker Populisten wären, ist nicht korrekt. Populisten hingegen sind Menschen, die das sagen, was viele hören möchten, ohne sich zu fragen, zu welchen Auswüchse das führen kann. Viele Nationalisten – das geht oft mit Populismus zusammen – sind Verführer, die vorgeben, ihr Land zu lieben. Sein Land lieben darf man. Wir können Europa nicht gegen die Nationen aufbauen. Aber Nationalisten sind welche, die das Eigene so sehr steigern, dass sie und jene die ihnen folgen, spontan und automatisch, aber auch bewusst dazu gebracht werden, andere nicht zu mögen: Diejenigen, die eine andere Hautfarbe haben, die aus der Ferne kommen, die auf der Flucht sind, werden zu Feinden des eigenen Landes erklärt. Ich halte es für einen groben Fehler der klassischen Parteifamilien, dass sie mancherorts in den populistischen Gesang einstimmen. So werden die klassischen Parteien zuerst zu U-Booten des stupiden Nationalismus, dann zu veritablen Nachahmerinnen, und schließlich selbst zu Populisten. Doch die Menschen werden immer das Original wählen. Man muss dagegen angehen, dass Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sich in Europa ungestört Gehör verschaffen können.

Ist es angesichts dessen nicht an der Zeit, über einen Kurswechsel in Europa nachzudenken, damit solche populistischen Bewegungen nicht weiter erstarken?


Ich denke, wir machen oft einen Fehler: Wir dürfen nicht erschrecken, wenn es von Zeit zu Zeit gravierende Meinungsverschiedenheiten in Europa gibt. In Luxemburg haben wir eine Verfassung, doch auch die verhindert nicht, dass es weiterhin Streit zwischen den Parteien gibt. Und auch in Europa haben wir einen Vertrag, dem jeder verpflichtet ist, der aber nicht bedeutet, dass es keine Kontroversen geben darf. Ich bin darüber weniger erschrocken, mit Ausnahme der populistischen und nationalistischen Trends, die es zu bekämpfen gilt. Europa ist kein Meinungsfriedhof, sondern eine lebendige Demokratie. Unterm Strich bleibt Europa eine große Erfolgsgeschichte. Nach der Eurosklerose der 1980er-Jahre haben wir es in den 1990er-Jahren verstanden, den gemeinsamen Markt zu verankern. Es bleibt der große Mangel, dass die Sozialunion sich noch nicht so entwickelt hat, wie es für den gemeinsamen Markt und die Währungsunion der Fall ist.

„In 20 oder 30 Jahren wird kein einziges Mitgliedsland der EU mehr unter den sieben größten Volkswirtschaften zu finden sein“: Für den scheidenden Kommissionspräsidenten ist europäische Souveränität unabdingbar, um global Einfluss zu behalten.

Aber liegt in dieser schwach ausgebildeten Sozialunion nicht eine Ursache für die schwindende Akzeptanz der europäischen Idee?


Nicht jeder hat die gleichen Vorstellungen von Sozialpolitik wie ich. Da muss man um Erfolge ringen. Wir haben im November vergangenen Jahres die Göteborger Erklärung für soziale Rechte in der EU verabschiedet, eine Handlungsanweisung für zukünftige Sozialpolitiken. Man muss Stück für Stück darum kämpfen, dass das, was man für wichtig und zukunftsorientiert hält, sich auch durchsetzt. Bereits im Juli 2014 habe ich entgegen der Mehrheitsmeinung der Kommissare, der Mitgliedstaaten und der politischen Mehrheiten im Europaparlament dafür plädiert, dass die Entsenderichtlinie für Arbeitnehmer noch einmal überdacht werden sollte, um Sozialdumping zu bekämpfen. Das ist uns trotz aller Vorbehalte letztlich gelungen. Jetzt gilt das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Wenn nun die Abkehr der Arbeitnehmerschaft von Europa durch eine mangelnde soziale Ausrichtung erklärt wird, dann ist das richtig und gleichzeitig auch falsch. Auch in der Gewerkschaftsbewegung gibt es große Widerstände gegen das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Die Behauptung, es gäbe mangels sozialen Fortschritts ein wachsendes – und es wächst tatsächlich – negatives Gefühl der Arbeitnehmerschaft gegenüber Europa, greift zu kurz.

Kritiker monieren, dass mangels einer politischen Einheit der Europäische Gerichtshof (EUGh) mit seinen Urteilen eine wichtige Funktion bei der ökonomischen Liberalisierung zu Ungunsten sozialer Grundrechte einnimmt.


Man sollte in der veröffentlichten Meinung die Urteile des EUGh vielleicht intensiver analysieren. Prinzipiell hat der Gerichtshof das soziale Europa eher gefördert als gebremst. Ich habe darauf gedrängt, dass die Kommission sich bei ihren Auftritten vor dem EUGh deutlich für soziale Rechte ausspricht. Auch der Rechtsdienst der Kommission, der zwar nicht weisungsgebunden ist, verhält sich so. Es ist nicht so, dass der EUGh mit seiner Rechtsprechung eine neoliberale Agenda umgesetzt hätte. Ein Beispiel: vor ein paar Jahren hat es Streit um die Mitbestimmung in den Betrieben gegeben. Bei einigen Mitgliedsregierungen und auch beim Gerichtshof gab es eine Tendenz, Mitbestimmungsregeln einzelner Mitgliedsstaaten als nicht konform mit der liberalen Wirtschaftsausrichtung der EU anzusehen. Die Kommission hat damals verhindert, dass sich diese Sichtweise durchsetzt.

„Es bleibt der große Mangel, dass die Sozial-union sich noch nicht so entwickelt hat wie der gemeinsame Markt.“

Sie haben in diesem Jahr anlässlich der Erklärung zur Lage der Union dem Thema Souveränität großen Raum gelassen. Schwingt in dieser Betonung die Angst mit, dass es wohl nicht so einfach wird, eine europäische Souveränität jemals zu realisieren?


Ich hab das Thema Souveränität nicht nur in diesem Jahr angesprochen. Das ist permanent ein Thema. Ich bin nachdrücklich der Auffassung, dass man die Union nicht stärkt, indem man die nationalen Eigenarten einebnet. Europa ist kein Schmelztiegel und ich war während meiner gesamten politischen Karriere gegen den Begriff der Vereinigten Staaten von Europa. Dadurch würde der Eindruck vermittelt, Europa sei auf dem Wege der Verstaatlichung, was es nicht ist. Hier spielt das Thema der Souveränität eine wichtige Rolle, denn wir müssen Europa nüchtern betrachten: Europa ist der kleinste Kontinent, und die EU stellt derzeit 22 bis 23 Prozent der globalen Wertschöpfung dar, in zehn Jahren werden das lediglich noch 17 bis 18 Prozent sein. In 20 oder 30 Jahren wird kein einziges Mitgliedsland der EU mehr unter den sieben größten Volkswirtschaften zu finden sein. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren 25 Prozent der Weltbevölkerung Europäer, am Ende dieses Jahrhunderts werden es noch vier Prozent sein. Wir sind auf dem Weg einer objektiven Verzwergung. Es ist daher nicht hinnehmbar, dass sich jetzt die Stimmen jener durchsetzen, die den Rückmarsch in den Nationalstaat predigen. Daraus ergibt sich für mich, dass wir bestimmte Souveränitäten teilen müssen, um unseren Einfluss auf dem Kontinent und somit auch die jeweilige nationale Souveränität aufrechtzuerhalten. In Luxemburg braucht es dafür kein langes Plädoyer, weil wir wissen, wie alleine wir ohne Europa wären. Aber jene EU-Mitglieder, die sich für so groß halten, wissen nicht wie klein sie in Wahrheit sind. Wir benötigen eine geteilte europäische Souveränität, damit wir als Ganzes Einfluss behalten. Beispielsweise haben wir Europäer 26 Galileo-Satelliten ins All geschossen. Noch vor Jahren waren drei Viertel der Mitgliedstaaten aus Kostengründen gegen das Galileo-Projekt und wären lieber vollkommen abhängig von den USA verblieben. Wir haben rund 400 Millionen Verbraucher in Europa, die Galileo nutzen. Würde das abgeschaltet, wären wir in Europa allesamt blind. Als Einzelstaat hätte keiner ein eigenes Satellitennetz schaffen können. Wenn wir also Souveränität teilen, sind wir stärker und souveräner.

Teamgeist im Erinnerungsfoto: Jean-Claude Juncker mit Martin Schulz und Donald Tusk.

Entwickelt sich die EU noch immer in die richtige Richtung – vom Brexit einmal zu schweigen?


Es wäre eine zu freundliche Betrachtung der europäischen Geschichte, wenn man davon ausginge, dass sich alles immer in eine Richtung bewegen muss. Noch nie hat es soviel Gemeinsamkeit in Europa gegeben wie innerhalb der Europäischen Union. Deshalb stimme ich in die pessimistische Stimmungsmache zur Zukunft Europas nicht ein. Ich schöpfe Hoffnung aus der Vergangenheit, ohne dass ich die Unionsgeschichte durch die Fehler der Vergangenheit erklären will. Die waren schlimm und was wir aus dem geschundenen Kontinent gemacht haben, ist einmalig und hat überall in der Welt Bewunderung hervorgerufen. Wir müssen das auch hinsichtlich der Zukunft betrachten, wobei die sich verschiebenden Größenordnungen ins Spiel kommen, über die ich vorher gesprochen habe. Als ich Ende Juli Herrn Trump in Washington besucht habe, um in der Handelsfrage zu verhandeln, habe ich eine für mich nicht erstaunliche Erfahrung gemacht. Denn vor mir waren eine Reihe europäischer Staatschefs ebenfalls in dieser Angelegenheit vorstellig geworden. Jedoch war ich derjenige, der ein Resultat erreicht hat, weil ich im Namen Europas gesprochen habe, was ein einzelner Regierungschef nicht kann. Wie lange die Vereinbarung hält, wird die Geschichte zeigen. Doch da, wo wir geschlossen auftreten können, tun wir es. Insofern ist der Lissaboner-Vertrag alles andere als ein kleiner Mückenschiss in der Geschichte der institutionellen Entwicklung von Europa.

Kann es denn europäische Souveränität geben, ohne nötigenfalls verbindlichen Zwang auf die einzelnen Mitglieder auszuüben? 


Wir bringen hier pausenlos Vertragsverletzungsverfahren auf den Weg, die die nationale Souveränität einschränken. An die 1.500 Verfahren sind zur Zeit offen – zumeist gegen Deutschland. Die Kommission ist Hüterin der Europäischen Verträge und es obliegt ihr, solche Verfahren einzuleiten, wenn gegen EU-Recht verstoßen wird. Geteilter Souveränität muss man auch durch Klagen vor dem EUGh zum Durchbruch verhelfen. Wir sind kein Tiger, aber auch keine zahnlose Katze.

„Noch nie hat es so viel Gemeinsamkeit in Europa gegeben wie innerhalb der EU.“

Bei Ihrem Amtsantritt als Luxemburgischer Premier hatten Sie die Entwicklung einer „Sträitkultur“ gefordert, für die auch die Medien wichtig sind. Diese geraten jedoch derzeit – Stichwort Lügenpresse – vermehrt unter Druck. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?

Ich bin ein Zeitungs- und Radiomensch. Ich wehre mich dagegen, alle Formen und Techniken der öffentlichen Mitteilung gleichzusetzen. Für mich ist die geschriebene Presse und die Rundfunkpresse – ich beziehe da das Fernsehen nicht mit ein – der noble Teil des Journalismus. Dagegen halte ich die Irrungen und Wirrungen der sozialen Medien für fast gemeingefährlich. Zum Entsetzen meines Teams nehme ich an dieser Welt auch nicht teil, weil ich mich weigere, komplexe Realitätsgehalte auf 140 Zeichen zu verkürzen. Komplizierte Inhalte setzen die Geduld der Lektüre voraus. Wir leben in einer Zeit, in der sach-adäquate Erklärungen und Analysen, die notgedrungen zu etwas umfangreicheren Artikeln führen, weder gelesen noch zur Kenntnis genommen werden. Wir sind auf einfache Botschaften eingestellt und setzen auch solche ab, anstatt die Zusammenhänge zu beachten. Man sagt mir hier im Hause, ich sei „old fashioned“, weil ich keine sozialen Medien benutze. Und ich bin es gerne, weil ich will, dass die politische Debatte ein gewisses Maß an Seriosität erreicht. Es ist die Aufgabe der geschriebenen Presse, nicht nachzugeben, gründlich zu recherchieren und sich nicht in die eigenen Überschriften oder in den Namen zu verlieben, der unter oder über dem Artikel steht.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Europas?


Wenn ich davon ausgegangen wäre, dass in Europa alles so verlaufen muss, wie ich es mir wünsche, hätte ich besser etwas anderes gemacht. Zum Beispiel lange Briefe und lange Bücher schreiben. Das wäre ertragreicher und interessanter gewesen. Meine Angst ist, dass die europäische Einigung nicht endgültig dingfest gemacht wird. Jede Generation muss dazu ihren eigenen Beitrag leisten. In Europa ist nie etwas endgültig, es darf aber auch nicht endgültig provisorisch bleiben, weil es sonst zur Auflösung führt.


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