Zukunft von einst

60 Jahre nach der Brüsseler Weltausstellung wird das modernistische Spektakel groß gefeiert. Geboten wird nicht zuletzt ein nostalgischer Blick auf den Glauben an eine Zukunft, die ihren Namen noch zu verdienen schien.

Ein Publikumsmagnet: Die Weltausstellung 1958. (Foto: © Expo58)

In der Ausgabe des „Letzeburger Land“ vom 18. April 1958 dominieren zwei internationale Themen das Titelblatt: Ein großer Artikel von Alfons Pütz befasst sich mit Blockkonfrontation und atomarer Aufrüstung angesichts einer geplanten amerikanisch-sowjetischen Gipfelkonferenz. Darunter, recht klein, die Meldung, dass am Vortag in Brüssel die Weltausstellung eröffnet worden sei. Illustriert durch einen Mini-Plan des Ausstellungsgeländes heißt es darin, dass „außer Belgien 53 Staaten und acht supranationale Institutionen (wie UNO, Montanunion, Europarat usw.) beteiligt“ sind. „Fast die Hälfte aller Gebäude beherbergen belgische Ausstellungen“, erfährt man weiter. Und: „Nahe dem Zentrum liegt das 102 Meter hohe Atomium mit seinen 9 Stahl-Hohlkugeln.“

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Margaret Jacquet-Overzier bereits knapp ein Jahr im Dienst der Exposition universelle. „Im Mai 1957, als ich eingestellt wurde, ragten gerademal zwei der Kugeln in die Luft“, erinnert sie sich. Mit 18 Jahren war sie damals die jüngste von insgesamt 280 Hostessen, und mit der Matrikelnummer 18 auch eine der ersten. Vielleicht mehr noch als das Atomium sind die blauuniformierten Betreuerinnen inzwischen zum Symbol der Brüsseler Weltausstellung selbst geworden. In Ostende aufgewachsen, fand Jacquet-Overzier als eine von ihnen bei der „Expo 58“ direkt nach der Schulzeit ihren ersten Job. Dieser bestand anfangs darin, während der Bauzeit Ingenieure und Architekten über das Ausstellungsgelände zu führen.

Pünktlich auf Sendung: Der Luxemburger Pavillon, dessen Innenraum unser Bildmotiv zeigt, war als einer der wenigen zur Eröffnung der Weltausstellung fertiggestellt. (Foto: Wouter Hagens/Wikimedia)

61 Jahre später sitzt die 79-Jährige nun in einem Raum des nahe dem Atomium gelegenen Designmuseums Adam und stellt sich geduldig den Fragen der geladenen Journalisten. Zuvor hatte Karine Lalieux, Kulturschöffin der Stadt Brüssel im Beisein von Bürgermeister Philippe Close den Anlass des gut besuchten medialen Stelldicheins präsentiert, das vergangenen Freitag stattgefunden hat: Unter dem Motto „60 Years Atomium – A Love Story“ wird ab jetzt bis in den Herbst hinein der runde Geburtstag der Weltausstellung zelebriert. Drei Ausstellungen, ein „Back to 58“-Musikfestival, ein „Expo 58“-Flohmarkt, eine Oldtimer-Schau und vieles mehr bietet das auf Nostalgie getrimmte Jubiläumsprogramm.

„Mehr als 42 Millionen Besucher sind zur Weltausstellung gekommen“, so Lalieux, für die das Ereignis nicht weniger markiert als „den Eintritt Brüssels in die Modernität“. Die Stadt habe sich als „belle capitale de l’Europe“ manifestiert, man habe die Rückkehr Europas und des Friedens gefeiert.

Wie das Programm mutet auch dieses Resümee ein wenig schöngefärbt an. Kam doch, was später als „Kalter Krieg“ bezeichnet wurde, 1958 gerade voll in Gang. Nur wenige Wochen vor der Expo-Eröffnung, Ende März, hatte im nahen Bonn der Bundestag die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands und damit die atomare Bewaffnung via Nato beschlossen. Zugleich war das Gezänk um West-Berlin dabei, sich dramatisch zuzuspitzen.

Brüssel umgepflügt

Die belgische Hauptstadt hatte da bereits einen Prozess durchlaufen, den Lalieux als „Stadtentwicklung“ beschrieb und damit zugleich auch euphemistisch verhüllte. Immerhin ist es insbesondere der Expo 1958 zu verdanken, das

s aus dem Namen der „belle capitale“ die „bruxellisation“ als ein in zahlreiche Sprachen übersetzter Terminus technicus hervorgegangen ist. Dieser steht dafür, wie man bei der Stadterneuerung nicht vorgehen soll.

Unmittelbar nachdem Belgiens Hauptstadt Ende 1953 den Zuschlag für die „erste Weltausstellung des atomaren Zeitalters“ bekommen hatte, konnte man dort infrastrukturelle Umwälzungen gigantischen Ausmaßes beobachten. Innenstadt und Peripherie wurden voll auf den Autoverkehr abgestimmt. Unter anderem war dies die Geburtsstunde des Brüsseler Rings und seiner zahlreichen Tunnel. In der Innenstadt wurden historische Gebäude abgerissen, um Besucherparkplätze und Platz für großflächige Neubauten und vor allem Büroraum zu schaffen. Das Quartier Nord wurde dazu regelrecht umgepflügt.

Für Margaret Jacquet-Overzier stand all dies damals nicht im Vordergrund. „Wir blickten ja noch auf einen monströsen Konflikt zurück, der gerade einmal zwölf Jahre her war“, ordnet sie die Expo 58 in ihr eigenes historisches Empfinden ein. „Die Begeisterung in Belgien angesichts der ersten Weltausstellung nach dem Krieg war einfach sehr groß. Ich dachte mir: Das darfst du auf keinen Fall versäumen!“

Dazu musste sie allerdings erst einmal die Eltern überzeugen. Die stimmten schließlich zu, und so zog die junge Frau nach Brüssel, unweit der Rue de la Loi. Nicht weit entfernt befand sich damals das Zentrum der Hostessen, genau dort, wo heute die EU-Institutionen sind. Und wo Jacquet-Overzier anfangs allmorgendlich ihren Dienst begann.

Die Weltausstellung war für sie „eine Erfahrung fürs Leben“: „Was mich umgehauen hat, waren die Ausmaße des Ganzen, damals in meinem Alter. Ich war stolz, auch als Belgierin“, so die im flämischen Teil des Landes aufgewachsene Frau.

Diese Begeisterung wurde damals von vielen Menschen auch außerhalb Belgiens geteilt. Scharen von Besucherinnen und Besuchern pilgerten nach Brüssel. Aus Deutschland, Frankreich, Holland, England, eigentlich von überall her. Die Hostessen waren auch in Infozentren in den Grenzregionen postiert, um für die Ausstellung zu werben und dafür zu sorgen, dass alle gut zu dem zwei Quadratkilometer umfassenden Gelände auf dem Heysel-Plateau gelangten. „Andere haben sich in der Stadt um die Gäste gekümmert, die auf der Suche nach Unterkünften waren“, so Jacquet-Overzier. „Und jede Woche wurden die Posten gewechselt, man hat also nicht die ganze Zeit dasselbe gemacht.“

Weil sie schon sehr er

fahren war, hat man Jacquet-Overzier allerdings auf dem Expo-Gelände behalten – und zwar zur Betreuung im VIP-Bereich. „Da habe ich mich zusammen mit 39 anderen um die Stars und Politiker gekümmert.“ So traf sie etwa Juliana, die damalige Königin der Niederlande, den Fürsten von Monaco, Sophia Loren – „Sie war fantastisch!“ –, sowie den Regisseur und Schriftsteller Jean Cocteau.

Spaß mit dem Sputnik

Noch immer routiniert im Präsentieren: Die ehemalige Expo-Hostesse Margaret Jacquet-Overzier mit John Christian Kavakure, dem Braumeister des Atomium. (Foto: Thorsten Fuchshuber)

Auch an Ilja Ehrenburg erinnert sich Jacquet-Overzier noch gut. Der berühmte russische Schriftsteller hatte die Ausstellung im August 1958 besucht. Und der sowjetische Pavillon war damals die Attraktion schlechthin. Sechs Monate zuvor war mit dem Sputnik erstmals ein Satellit erfolgreich ins All befördert worden, und nun konnte man in Brüssel originalgetreue Modelle bestaunen. Dafür nahmen die Leute Wartezeiten von bis zu zwei Stunden in Kauf, ehe sie sich, von einer enormen Lenin-Statue überragt, ihren eigenen kleinen „Sputnik-Schock“ abholen und die Wunder der Raumfahrt aus der Nähe bestaunen konnten.

Nicht weniger neugierig waren die anwesenden Geheimdienst-Agenten. Sie hatte man sogar ins Ausstellungspersonal eingeschleust, um das Treiben der jeweils anderen Seite genauestens auszuspähen. Auch auf der Expo 58 herrschte nämlich Kalter Krieg. Angesichts solch schwelender Konflikte flüchten sich die Menschen damals nicht weniger gerne als heute in die Nostalgie. Daher wurde die Schau „Brüssel 1900“ zu einem Riesenerfolg. Sie erlaubte es, durch ein nachgebautes Mini-Brüssel zu flanieren, das eben jenen Esprit aufleben ließ, dem in der städtebaulichen Realität soeben ein empfindlicher Schlag versetzt worden war.

Beliebt war auch das so genannte „Congorama“. Die Unabhängigkeit des Kongo lag noch zwei Jahre in der Zukunft, und die Organisatoren der Weltausstellung sahen offensichtlich keinen Grund für einen Bruch mit der kolonialen Tradition des „zoo humain“. So gab es dort neben sieben Pavillons zum Thema „Cinquante années d‘oeuvre civilisatrice au Congo belge“ auch zu sehen, was dem Publikum als „Nachbau“ eines kongolesischen „village indigène“ samt seiner Bevölkerung verkauft wurde, die bei ihrem angeblichen Tagwerk zu beobachten war.

Doch viele Besucherinnen und Besucher beließen es nicht beim exotistischen Bestaunen. Sie warfen Bananen und Erdnüsse über den Zaun in das „Gehege“ und forderten die kongolesischen Darsteller*innen auf, ihre Zähne zu zeigen. Nachdem bereits Hunderttausende die Schau bestaunt hatten, regte sich schließlich Protest, und zumindest das „Dorf“ blieb am Ende verwaist. Die Vorher-Nachher-Ausstellung zu den Segnungen der Kolonisation konnte allerdings weiterhin bewundert werden.

Der Job der Hostessen indes blieb eine „weiße“ Angelegenheit. Odette Fontaine-Mot gesteht, dass viele der Frauen eher wegen ihres Aussehens als wegen ihrer Bildung und sprachlichen Qualifikationen eingestellt worden waren. Als einstige Koordinatorin der Expo-Begleiterinnen stellt auch sie sich im Designmuseum der Presse.

Respektiert in Uniform

„Wir hatten immer die Füße wund, weil man so viel laufen musste“, erinnert sich Fontaine-Mot, „und das mit den hohen Absätzen.“ Bevor es jedoch daran ging, den 25 Kilometer langen Ausstellungsparcours zu beschreiten, mussten alle einen dreimonatigen Kurs durchlaufen. Dort wurden Benimmregeln vermittelt, die Pflege des Äußeren und daneben natürlich auch Expo-Basisinformationen. „Sogar wie man die Beine übereinanderschlägt oder für Fotos posiert, war vorgeschrieben“, erinnert sich die heute 90-jährige Frau.

„Damals gab es nicht viele Berufsmöglichkeiten für Frauen, insbesondere nach dem Krieg – man wurde Sekretärin oder Krankenschwester“, gibt Fontain-Mot zu bedenken, wenn man sie auf das von ihr und ihren Kolleginnen vermittelte Frauenbild anspricht. Für die damals 18- und 25-jährigen Hostessen war die Weltausstellung eine Riesenchance. „Wir wurden respektiert, wegen der Uniform. Die war ja sehr seriös und vielleicht auch ein wenig streng“, fügt Margaret Jacquet-Overzier hinzu.

Odette Fontaine-Mot wurde nach dem Ende der Weltausstellung Leiterin des frisch gegründeten Brüsseler Tourismusbüros, Jacquet-Overzier war in der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Noch immer haben die beiden Frauen

guten Kontakt zueinander und auch zu zahlreichen anderen ihrer damaligen Kolleginnen.

Dass insbesondere das Atomium nun gefeiert wird, darüber freuen sich die ehemaligen Hostessen. Schließlich sollte das 2.400 Tonnen schwere Ungetüm ursprünglich nach Ende der Weltausstellung wieder abgerissen werden. Doch dieser Plan war schnell passé. 2006 wurde die Aluminium-Außenhaut der längeren Haltbarkeit wegen gar durch Edelstahl ersetzt.

Von Ingenieur André Waterkeyn entworfen, stellt das Atomium kein einzelnes Atom, sondern die Struktur eines Eisenmoleküls dar. Als Kristallisationspunkt für die 60-Jahr-Feier der Weltausstellung ist es ganz gut gewählt. Denn das Bauwerk, das Brüsseler wie Touristen gleichermaßen ins Herz geschlossen haben, lässt sich zweifellos unverfänglicher vermarkten als eine Ausstellung, deren konfliktreicher gesellschaftlicher Hintergrund sich nicht so ohne Weiteres glatt polieren lässt. Da hilft auch keine Rückprojektion des Wunsches nach einer ungetrübten Zukunft in die Vergangenheit.

An den Luxemburger Pavillon von damals kann sich Margaret Jacquet-Overzier übrigens höflich erinnern: „Er war recht klein, aber schön.“ Vor allem jedoch zählte er „zu den wenigen Pavillons“, die am „Tag der offiziellen Eröffnung“ fertig waren, wie das „Letzeburger Land“ berichtete.

Detaillierte Informationen zum 
Programm von „60 Years Atomium – 
A Love Story“ finden sich unter 
http://atomium.be/Activities.aspx?lang=fr

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