Armut: Wo bleibt die Systemkritik?

Mit zahlreichen Maßnahmen wird hierzulande versucht, das Armutsrisiko zu verringern. Die Praxis jedoch zeigt: Das reicht bei Weitem nicht.

Die meisten staatlichen Maßnahmen vermögen es nicht, den sozial Schwächsten zu helfen. (© Taufiq Klinkenborg/pixnio.com)

Am Montag hat die Chambre de Commerce die Ergebnisse ihrer Publikation „Pauvreté: De la juste mesure aux mesures appropriées“ vorgestellt. Auf 186 Seiten sind zahlreiche Statistiken bezüglich Armut in Luxemburg aufgelistet. Es werden aber auch Vorschläge an die Regierung formuliert, wie etwa zielgerichtete Sozialleistungen, besserer Schutz von Selbstständigigen und ein inklusiveres Schulsystem. Es handelte sich bei der Veranstaltung jedoch nicht um einen bloßen Vortrag: Gäste wie Familien- und Integrationsministerin Corinne Cahen, die Direktorin der Stëmm vun der Strooss Alexandra Oxacelay, die Ökonomistin der Handelskammer Christel Chatelain, und die Liser-Forscherin Anne-Catherine Guio waren ebenfalls da, um sich zur Problematik zu äußern.

Große Probleme

Zunächst ging es in erster Linie um die Frage, nach welchen Kriterien Armut gemessen werden kann. Je nachdem ob das Armutsrisiko nur in Relation zum Durchschnittseinkommen berechnet wird oder Lebenshaltungskosten oder weitere Faktoren einbezogen werden, ändert sich der Prozentsatz derjenigen, die in Luxemburg als armutsgefährdet gelten, stark. Zu hoch ist er jedoch in jedem Fall, darin waren sich alle einig.

Weniger technisch und sehr viel konkreter wurde die Diskussion bezüglich der Faktoren, die am stärksten zur Armut beitragen. Die Sektoren waren schnell benannt: Arbeit, Wohnen und Bildung. Zu den Bevölkerungsgruppen, die besonders armutsgefährdet sind, zählen Mieter*innen. 2016 betraf dies Eurostat zufolge 34 Prozent. Rund zwei Drittel aller Mieter*innen geben mehr als 25 Prozent ihres Gehalts für die Miete aus, ein Fünftel mehr als die Hälfte und 12,5 Prozent sogar mehr als 60 Prozent.

Die hohen Mietpreise wirken sich darauf aus, wie lange Menschen bei ihren Eltern wohnen. 2016 wohnten Eurostat zufolge 28,4 Prozent der 25 bis 34-Jährigen noch „zu Hause“. Damit liegt Luxemburg vor seinen Nachbarländern Frankreich (13,4), Deutschland (17,9) und Belgien (22). Von diesen 28,4 Prozent waren 58 Prozent vollzeitbeschäftigt, nur 24,3 Prozent studierten noch.

Was den Arbeitssektor betrifft, so lag die Zahl der Arbeitslosen 2018 mit 5,7 Prozent bei einem historischen Tief. Mehr als die Hälfte der Arbeitlosen sind jedoch armutsgefährdet. Bei mehr als einem Drittel handelt es sich um Langzeitarbeitslose. Auch in puncto Jugendarbeitslosigkeit sind die Zahlen alarmierend: 14,1 Prozent bei den unter 25-Jährigen (zum Vergleich: in Deutschland sind es 6,5 Prozent). In dieser Altersgruppe sind aber selbst die Beschäftigten armutsgefährdet und zwar ganze 20 Prozent (bei der gesamten arbeitenden Bevölkerung sind es rund 14 Prozent). Damit liegt Luxemburg im EU-Vergleich auf dem traurigen zweiten Platz. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass 41,5 Prozent der 18 bis 24-Jährigen nur in Teilzeit arbeitet.

Wie am Beispiel junger Menschen deutlich wurde, ist die Gefahr, in die Armut abzurutschen, für manche demografischen Gruppen weitaus größer als für andere. Auch der sozio-ökonomische Hintergrund hat einen entscheidenden Einfluss. 44,4 Prozent der Kinder, deren Eltern über ein niedriges Bildungsniveau verfügen, liefen 2016 Gefahr, in die Armut abzurutschen. 15,3 Prozent waren materiell und sozial benachteiligt. Konkret heißt das, dass es ihnen an den nötigen Rahmenbedingungen fehlt, um sich uneingeschränkt entwickeln zu können. Ein Kind, dem es an mindestens 3 von 17 Faktoren, die von altersgerechter Kleidung, über ein geheiztes Zuhause bis hin zu Internetzugang, mangelt, gilt laut Deprivationsindex als benachteiligt.

57 Prozent derjenigen, die als Erwachsene Schwierigkeiten haben, sich finanziell über Wasser zu halten, litten auch schon als Kinder an Existenznot. Das dürfte unter anderem damit zusammenhängen, dass das Bildungsniveau von Eltern und ihren Kindern stark korreliert. 2011 erreichten 79,5 Prozent der 25 bis 59-Jährigen, deren Eltern über ein niedriges Bildungsniveau verfügten, ebenfalls nur ein niedriges Bildungsniveau. Hatten die Eltern ein hohes Bildungsniveau, waren es deren dagegen nur 17,9 Prozent.

Weitere Faktoren, die das Armutsrisiko erhöhen, sind mangelnde Sprachenkenntnisse, schlechter Gesundheitszustand und Migrationshintergrund. Das Armutsrisiko war 2016 bei Einwohner*innen mit luxemburgischer Staatsbürgerschaft nur halb so groß wie bei anderen Bevölkerungsgruppen aus einem EU-Land.

Das Risiko variiert stark je nach Familienform: Einelternfamilien stellen in Luxemburg die Haushaltsform dar, die am stärksten von Armut betroffen ist. Als arm gilt ein Elternteil hierzulande, wenn bei einem Kind ein Nettogehalt von maximal 2.231 Euro oder bei zwei ein Gehalt von 2.745 Euro zur Verfügung steht. Bei den Alleinerziehenden waren im Jahr 2017 Eurostat-Zahlen zufolge 46,2 Prozent einem Armutsrisiko ausgesetzt (33,8 Prozent sind dies sogar trotz Arbeit). Damit liegt Luxemburg im EU-Vergleich hinter Litauen (48,4 Prozent) an zweiter Stelle. Der EU-Schnitt beträgt 35,3 Prozent. 30 Prozent der Kinder alleinerziehender Eltern sind in ihrem Alltag materiell benachteiligt.

Zu viel Reaktion, 
zu wenig Prävention

„Où on a parfois un désaccord: Avant de pouvoir distribuer les fruits de la croissance, il faut d’abord les produire et les récolter“, erklärte der Geschäftsführer der Handelskammer Carlo Thelen – eine Formulierung, die den illusorischen Anschein erweckt, dass Profite in unserer Gesellschaft gleichmäßig verteilt werden. Wie auf der Table ronde immer wieder betont wurde, hält die Handelskammer nichts davon, Sozialleistungen „mit der Gießkanne“ zu verteilen. Die hohen Wohnkosten betreffend rät sie, statt Mietsubventionen, das Bautempo zu erhöhen. Immerhin, so die Erklärung, seien die Wohnpreise gestiegen, weil die Nachfrage das Angebot weit übersteige.

Und was sagt die Familienministerin zu den Befunden der Broschüre? Die aufgelisteten Statistiken bestätigten nur, was man schon wisse. Zahlreiche Maßnahmen seien bereits ergriffen worden: Sozialwohnungen, Angebote zum Lifelong Learning, Revis, gratis Kindertagesstätten und Schulbücher, Mietsubventionen, ein differenziertes Bildungsangebot, öffentliche Europaschulen. Man müsse bedenken, dass die Auswirkungen rezenter Maßnahmen wie dem Revis noch nicht in die aktuellen Statistiken eingeflossen seien, die sich lediglich auf das Jahr 2017 beziehen. Andere Maßnahmen, wie die progressive Einführung eines Steuermodells, das verheiratete oder gepacste Paare nicht gegenüber Alleinerziehenden bevorzugt, seien noch für diese Legislaturperiode vorgesehen. Wie Corinne Cahen deutlich machte, mangelt es weder an Ideen noch am Geld – damit Hilfe auch wirklich ankomme, müssten jedoch eine ganze Reihe logistischer Voraussetzungen erfüllt sein. „Es reicht nicht, wenn eine Organisation Instrumente spendet, wenn nicht auch entsprechende Kurse und Transportmöglichkeiten gewährleistet sind“, illustrierte sie ihre Überlegungen.

Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wurde besonders an den Redebeiträgen von Alexandra Oxacelay deutlich. Es gebe in Luxemburg immer mehr Menschen in Not, es dauere aber zu lange, bis politische Maßnahmen greifen würden. „On crie alarme depuis des années. On remarque que le gouvernement nous soutient très bien, on est très écouté. […] Mais on remarque que les problèmes au terrain augmentent plus rapidement que les solutions qui sont apportées“, schilderte Oxacelay ihren Eindruck. Immer, wenn es um administrative oder bauliche Angelegenheiten gehe, müsse man sehr lange auf Ergebnisse warten. Was sie ebenfalls feststellen musste: Wirklich arme Menschen suchen die Stëmm vun der Strooss nicht auf. Stattdessen eher kleinere Strukturen, von denen es allerdings nicht genug gäbe.

Christel Chatelain erklärte, wie die Verzögerungen zustande kommen: Wird eine Zunahme an Armutsgefährdeten festgestellt, gelte es zunächst, die Ursache dafür zu ermitteln, was viel Zeit beanspruche. Anschließend müssten sich die Ministerien koordinieren, was weitere Verzögerungen mit sich bringe. Diese Erklärung wirkt zwar logisch, legt jedoch die Schwächen einer Herangehensweise offen, die auf unliebsame Entwicklungen reagiert, statt diese präventiv zu verhindern.

Eigenverantwortliches Problemlösen

So wichtig es auch ist, schnell auf akute Probleme zu reagieren: Solche Lösungen sind letzten Endes vergleichbar mit einem Pflaster auf einer klaffenden Wunde. Eine Frage ist, wie den sozial Schwächsten geholfen werden kann, eine andere, wie eine Gesellschaft aufgebaut sein muss, damit so große Ungleichheiten gar nicht erst entstehen. „La pauvreté est un ennemi de notre société“, meinte der Moderator der Konferenz, der Journalist Thierry Nelissen, zu Beginn. Doch gerade darin liegt ein Denkfehler: Armut ist kein Fremdkörper, sondern die logische Konsequenz unseres Wirtschaftsmodells. In einem System, das auf Konkurrenz aufbaut, muss es zwangsläufig auch Verlierer*innen geben.

Es wurde von staatlicher Seite durchaus viel getan in den letzten Jahren, doch gehen die Maßnahmen nicht weit genug. Was sich nämlich wie ein roter Faden durch die großen Reformen der Regierung zieht, ist die Eigenverantwortung der Betroffenen. Beim Revis ist es nur möglich, den vollen Betrag der Subventionen zu erhalten, wenn zuvor an einer sogenannten Aktivierungsmaßnahme teilgenommen wurde. Die reformierte Bildungslandschaft, in der die Regierung auf „unterschiedliche Schulen für unterschiedliche Schüler“ setzt, operiert ebenfalls nach diesem Prinzip. Es obliegt den jeweiligen Schüler*innen, das Bildungsangebot ausfindig zu machen, das ihren Bedürfnissen am ehesten entspricht. Wurde eine passende Schule gefunden, gilt es, auch dahin zu kommen – was nicht so einfach ist, wenn die Schule sich im Minette befindet, der eigene Wohnsitz jedoch im Ösling liegt. Erst wenn alle diese Hürden eigenverantwortlich überwunden wurden, kommen die Schüler*innen in den Genuss eines Bildungsangebots, zu welchem der Staat verpflichtet ist. Staatliche Hilfe, so die Botschaft, muss man sich erst erkämpfen. Wem nicht geholfen werden konnte, ist selber Schuld, denn die nötigen Maßnahmen sind ja da.

Teilweise werden die Probleme auch nur verlagert, indem Arbeitslosigkeit durch prekäre Beschäftigungsstellen verschleiert wird. „Arbeit ist der beste Garant zur Bekämpfung von Armut und sozialer Unsicherheit“ heißt es im Koalitionsabkommen. Das stimmt aber nur, wenn mit „Arbeit“ nicht Mini-Jobs, befristete Verträge, kurzzeitige Aktivierungsmaßnahmen oder schlecht bezahlte Praktika gemeint sind. Das hilft zwar vielleicht, die Statistiken aufzupolieren, am grundlegenden Problem ändert es jedoch nichts.

Diskussion für die Katz?

Immer wieder hatte man das Gefühl, die Diskussion drehe sich im Kreis. Wurde über bezahlbaren Wohnraum gesprochen, wurde darauf verwiesen, dass dazu eine gesicherte Einkommensquelle nötig sei. Stand die Arbeitswelt im Fokus der Diskussion, kam der Verweis, dass es doch auch Einkommensarmut gebe; daneben dann der Hinweis, dass erst die Kinderbetreuung gewährleistet sein müsse, bevor es sich lohne, über Vollzeitarbeit zu sprechen.

Geht es um Armut, ist eine Pauschalisierung schwierig. Alleinerziehende sind mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert als Obdachlose, Erwachsene mit anderen als Kinder oder Jugendliche. Keine einzelne Maßnahme kann allen Betroffenen zugute kommen. Dessen waren sich alle Diskussionsteilnehmer*innen auch bewusst.

Woran es jedoch fehlte, war fundamentale Systemkritik. Dass größere gesellschaftliche Umstrukturierungen nötig wären, damit bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht mehr systematisch benachteiligt sind, wurde mit keinem Wort erwähnt. Der Titel des Dokuments der Handelskammer vermittelt den Eindruck, als gäbe es einen Unterschied zwischen gerechten und angemessenen Maßnahmen. Der Unterschied scheint der Chambre de Commerce nach darin zu liegen, dass nicht alles, was auf sozialer Ebene notwendig wäre, auch der Wirtschaft guttäte. So ist die Handelskammer beispielsweise gegen ein Anheben des Mindestlohns, da eine solche Maßnahme der Wettbewerbsfähigkeit schade. Niemand in der Runde stellte die dadurch zum Ausdruck gebrachte primäre Orientierung an Wirtschaftsinteressen radikal in Frage. Die Diskussion war symptomatisch für eine Herangehensweise, die auf kleine isolierte Nachbesserungen abzielt und am Ende die Schwächsten unserer Gesellschaft im Stich lässt.

Korrektur: Die Regierung plant, progressiv eine Individualbesteuerung einzuführen, nicht die Steurklasse 1a abzuschaffen.

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