Artensterben: Systemwechsel nötig

Über eine Million Arten sind weltweit vom Aussterben bedroht. Das Artensterben betrifft auch Luxemburg. Letzte Woche forderten mehrere NGOs ein radikales Umdenken in der Politik.

Landnutzungsänderungen sind einer der großen Treiber des Artensterbens. Ein Beispiel dafür ist Deforestation wie hier in Madagaskar. (Foto: Dudarev Mikhail/Shutterstock.com)

Bereits bei der Einladung zur Pressekonferenz wurde klar, dass es sich um ein ganz besonderes Statement handeln würde. Es kommt nämlich nicht alle Tage vor, dass politische Organisationen wie der Mouvement écologique und Natur & Ëmwelt gemeinsam mit wissenschaftlichen Vereinen wie der Association des biologistes luxembourgeois (Abiol), der Société des naturalistes luxembourgeois (SNL) und gar dem Nationalmuseum für Naturgeschichte (MNHN) gemeinsam vor die Presse treten. Noch seltener kommt es vor, dass Naturwissenschaftler*innen einen Umbau unseres Wirtschaftssystems fordern.

Am letzten Freitag, dem 17. Mai 2019, traf dies alles zu. Zwischen Tierpräparaten im MNHN, die einen Teil der noch bestehenden Artenvielfalt aufzeigen, verkündeten die NGOs und Wissenschaftler*innen ihre wahrhaft apokalyptische Botschaft: Die Menschheit zerstört ihre eigene Lebensgrundlage und wir müssen rasch und radikal handeln, wenn wir dies noch aufhalten wollen. Jeden Tag verschwinden bis zu 180 Arten unwiderruflich – viele davon, ohne je entdeckt zu werden.

Sie wiederholten damit die erschreckende Schlussfolgerung des Berichtes des „Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services“ (IPBES). Dieses Expert*innengremium, das drei Jahre lang Daten aus 15.000 wissenschaftlichen Quellen analysierte, kann man mit dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) vergleichen, das die Klimaberichte für die UN verfasst.

Auch in Luxemburg sinkt 
die Biodiversität

Biodiversität wird gemeinhin als „Artenvielfalt“ verstanden, der Begriff umfasst jedoch weitere Dimensionen. Genauso wichtig ist die genetische Vielfalt innerhalb einer Art oder eines Ökosystems, die Vielfalt an Lebensräumen und auch die „funktionale Biodiversität“, die Vielfalt von ökologischen Funktionen und Prozessen. Alle diese Facetten der Biodiversität greifen ineinander: Gibt es zum Beispiel nur noch wenige Individuen einer Art in einem Lebensraum, sinkt die genetische Diversität und die Art droht, (zumindest lokal) auszusterben.

„Luxemburg bleibt weder vom Artensterben verschont, noch sind wir unschuldig daran. Es gibt klare, messbare Grenzen unseres Planeten, die gerade überschritten werden. Der Biodiversitätsverlust ist eine noch schlimmere Bedrohung als der Klimawandel“, erklärte Jacques Pir vom MNHN.

Die IPBES-Studie hat fünf Hauptursachen für den Artenschwund identifiziert. Das sind die Nutzung und die Nutzungsänderungen der Böden und Meere, die direkte Ausbeutung der Arten, wie sie zum Beispiel bei Überfischung passiert, der Klimawandel, die Umweltverschmutzung und die Zunahme invasiver Arten.

Die Lebensgrundlage der Menschheit ist von dem Verlust der Biodiversität übrigens stark gefährdet. In küstennahen Gebieten könnten bis zu 300 Millionen Menschen durch Überschwemmungen aufgrund des Zusammenspiels von Klimawandel und Absterben der Korallenriffe zur Flucht gezwungen werden.

Arten, die unentdeckt mit tropischen Regenwäldern verschwinden, könnten pharmazeutisch verwendbare Stoffe produzieren – die Gesundheit der Menschheit steht also auch auf dem Spiel.

Und natürlich ist auch die Nahrungsmittelproduktion betroffen: Einerseits weil drei Viertel jener Pflanzen, die wir essen, von Insekten bestäubt werden und andererseits weil die Bodenfruchtbarkeit ständig sinkt. Laut dem IPBES-Bericht ist die Produktivität der Böden weltweit um 23 Prozent gesunken.

Rettet den Tannen-Bärlapp!

Guy Colling vom MNHN betonte, dass der Artenschwund auch viele Pflanzen betreffe. In Luxemburg gebe es mit über 1.323 beschriebenen Arten eigentlich eine große Pflanzenvielfalt, die aber bedroht sei: Über 100 Arten sind schon ausgestorben, 439 Arten sind nach dem Stand von 2005 bedroht. „Ein Drittel unserer Flora ist in einem schlechten Zustand. Und wir können uns nicht darauf ausruhen, dass die Arten im Ausland überleben, denn die Arten, die in Luxemburg Probleme haben, sind auch im Ausland bedroht. Wir haben definitiv eine Verantwortung, unsere Biodiversität zu erhalten“, so der Botaniker. Eine neue Bestandsaufnahme der luxemburgischen Pflanzenwelt ist gerade in Arbeit. Dass es in Luxemburg wenig Ressourcen für solche wissenschaftlichen Arbeiten gibt, ist ein zusätzliches Problem.

Colling nannte auch ein konkretes Beispiel aus der Pflanzenwelt: Die Echte Arnika (Arnica montana), die als Medikament bei Muskel- und Gelenkbeschwerden benutzt wird, wird auch in Luxemburg immer seltener. Dabei enthält die Unterart, die im Ösling vorkommt, viel mehr pharmazeutisch nutzbare Stoffe als ihre Verwandten in den Alpen.

Gerade bei Pflanzen ist der Artenschwund oft nicht sichtbar. Das gilt für Blütenpflanzen, aber auch für eher unscheinbare Gewächse wie Farne, Bärlappe und Moose, die wichtige Funktionen in ihren jeweiligen Ökosystemen übernehmen. Bewusstsein für ihr Verschwinden gibt es jedoch kaum – gerade auch, weil sich viele Naturschutzkampagnen auf sogenannte „Flagship species“ konzentrieren, die oft putzige Säugetiere mit hohem Sympathiepotenzial sind. „Rettet den Fischotter!“ ist halt auch einfach naheliegender als „Rettet den Tannen-Bärlapp!“

Aber auch im Tierreich sieht es nicht besser aus. Ein Viertel aller in Luxemburg vorkommenden Brutvögel sind bereits ausgestorben oder gefährdet, nur etwas mehr als die Hälfte sind überhaupt nicht bedroht. Die Entwicklungen sind teilweise dramatisch: Die Bestände des Raubwürgers sind von 2006 bis 2018 um 94 Prozent zurückgegangen, die des Kiebitz seit 1988 um 97 Prozent. „Vögel sind oft Indikatorarten für ein ganzes Ökosystem“, erklärte die Biologin Lea Bonblet von Natur & Ëmwelt, „in Luxemburg sind es besonders Feuchtgebiete und strukturreiche offene Landschaften, die immer mehr verschwinden und damit den Vögeln die Lebensgrundlage entziehen.“

Foto: Maxim Blinkov/Shutterstock.com

Systemwechsel erforderlich

Das Insektensterben ist, spätestens seit die Resultate einer großangelegten Studie aus Deutschland im Oktober 2017 bekannt wurden, in aller Munde. Gerade markante und beeindruckende Artengruppen wie Heuschrecken und Schmetterlinge sind besonders betroffen. „Man sieht immer weniger Heuschrecken und Schmetterlinge. Der Segelfalter wurde 1986 zum letzten Mal in Luxemburg gesehen. Und das, obwohl er eine der ersten Arten war, die unter Naturschutz standen. Das zeigt, dass dies nicht reicht, sondern dem auch Taten folgen müssen“, mahnte Simone Schneider von der SNL.

Hirschkäfer, Kleine Hufeisennase, viele Amphibienarten – die Liste jener Arten, die in Luxemburg bereits nicht mehr vorkommen oder drohen, bald auszusterben, ist leider lang. Die Lage wirkt hoffnungslos. Sowohl die Wissenschaftler*innen des IPBES als auch ihre luxemburgischen Kolleg*innen mahnen einen Systemwechsel an. Neben Bewusstseinsschaffung für das Problem müssten politische Ziele definiert und konkrete Instrumente zur Umsetzung – zum Beispiel ein Nachhaltigkeitscheck aller politischen Maßnahmen – verankert werden.

„Wir brauchen ein fundamentales Umdenken, sonst geraten wir kurzfristig in eine Katastrophe. Die Erde ist mittlerweile im Anthropozän, dem Menschenzeitalter, angekommen. Wenn es etwas gibt, was wir aus dem Bericht lernen können, dann die Tatsache, dass punktuelle Einzelaktionen nicht ausreichen. Sie sind zwar richtig und wichtig, aber wir brauchen ein anderes Wirtschaftssystem. Gemeinwohlinteressen müssen wieder über individuellen Interessen stehen“, forderte Blanche Weber vom Mouvement écologique.

Der IPBES-Bericht lässt keine Ausreden mehr zu – neben dem Klimawandel ist das Artensterben eine gigantische Katastrophe, deren Bekämpfung konsequentes Handeln erfordert. So unerreichbar eine Abwendung vom globalen Kapitalismus auch wirkt, so nötig wäre sie doch. Bleibt zu hoffen, dass die Aufrufe der Wissenschaftler*innen Gehör finden.


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