Die indigenen Rebell*innen der mexikanischen EZLN haben angekündigt, ihre Strukturen im südlichen Bundesstaat Chiapas zu reorganisieren. Die Autonomie lokaler Gemeinden soll gestärkt werden, doch der Schritt hat viel mit der zunehmenden Präsenz krimineller Banden in der Region zu tun.
Die Ankündigung des Subkommandanten Moisés sorgte für Unruhe: „Wir haben beschlossen, die Zapatistischen Rebellischen Autonomen Landkreise und die Räte der Guten Regierung abzuschaffen“, schrieb der Sprecher der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) Anfang November in einem Kommuniqué. Nach einer tiefgründigen und selbstkritischen Analyse sowie Konsultationen mit allen verbündeten Gemeinden sei man diesen Schritt gegangen. Schnell kamen in Mexiko Fragen auf: Werden sich die indigenen Rebell*innen aus dem südlichen Bundesstaat Chiapas nun aus dem öffentlichen Leben zurückziehen? Und was passiert in den autonomen Dörfern, die sie seit Jahrzehnten in Selbstverwaltung regieren? Ohne explizit einen Zusammenhang herzustellen, beschrieb die EZLN zugleich die schwierige Lage in der Region angesichts der zunehmenden Gewalt und der Präsenz krimineller Organisationen. „Die wichtigsten Städte von Chiapas befinden sich im kompletten Chaos“, betonte der Zapatist. Es gebe Straßenblockaden, Überfälle, Entführungen, Schutzgeld- erpressungen, Zwangsrekrutierungen und Schießereien.
Kurz darauf die Entwarnung: In einem weiteren einer ganzen Reihe von Statements, die die EZLN in den vergangenen Wochen veröffentlicht hat, beschrieb Moisés, was sich nun ändern soll: Die Grundlage zapatistischer Organisierung werde künftig noch stärker auf basisdemokratischer Selbstverwaltung, und zwar auf Lokalen Autonomen Regierungen (Gobiernos Autónomos Locales, GAL), liegen. „Die zapatistischen GAL sind der Kern jeder Autonomie“, heißt es in der Erklärung. Diese Einheiten sollen beispielsweise die Ressourcen für Schulen oder Kliniken verwalten, den Kontakt zu nicht-zapatistischen Nachbargemeinden aufrechterhalten und Korruptionsfälle verfolgen. Aufbauend auf den GAL sollen sich weitere Gremien und Vollversammlungen um übergeordnete regionale oder andere übergreifende Themen kümmern, etwa um Alphabetisierungs- und Impfkampagnen, medizinische Ausbildungen oder traditionelle Feste und Sportereignisse.
Tatsächlich spielt die zugespitzte Situation in Chiapas bei den Änderungen eine wichtige Rolle. Die EZLN habe ihre Struktur reorganisiert, um die Sicherheit und die Verteidigungsfähigkeit „unserer Dörfer und der Mutter Erde“ zu erhöhen, erklärt Moisés. Dabei bereiten sich die Zapatist*innen auf ein ziemlich umfangreiches Spektrum von Bedrohungen vor: Angriffe, Epidemien, räuberische Unternehmen, militärische Besetzung, Naturkatastrophen und Atomkriege. „Wir sind darauf vorbereitet, dass jedes unserer Dörfer überlebt, auch wenn sie voneinander isoliert sind.“
Knapp 30 Jahre, nachdem die EZLN mit ihrem „Aufstand der Würde“ weltweit Aufmerksamkeit erregte, suchen die Indigenen damit nun neue adäquate Formen, um ihre Gemeinden weiterhin autonom regieren zu können. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die indigenen Rebell*innen neu strukturieren, seit die EZLN als Guerrilla vor genau 40 Jahren, am 17. November 1983, gegründet wurde. Nach ihrem bewaffneten Aufstand für „Arbeit, Boden, Dach, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden“ im Januar 1994 begannen sie, die von ihnen kontrollierten Dörfer selbst zu organisieren. „Nie wieder ein Mexiko ohne uns“, erklärten sie damals. Lediglich zwölf Tage dauerte der Krieg zwischen den Aufständischen und der Armee, dann einigte man sich auf einen Waffenstillstand.
Da die Regierung jedoch die später ausgehandelten „Vereinbarungen von San Andrés“ über indigene Rechte und Autonomie mehr oder weniger ignorierte, konzentrierten sich die Zapatist*innen auf den Aufbau ihrer Selbstverwaltung. Sie schufen Krankenhäuser, Schulen sowie selbstverwaltete Betriebe und entwickelten eigene Regierungsstrukturen. Immer wieder kam es in diesen Jahren zu Auseinandersetzungen mit paramilitärischen und anderen verfeindeten Gruppen. Doch seit einigen Jahren sind die zapatistischen Gemeinden nun wie viele Dörfer Mexikos zudem mit der organisierten Kriminalität konfrontiert. Schon 2021 erklärte die EZLN, Chiapas befinde sich „am Rande eines Bürgerkriegs“. Im Frühjahr wurden zapatistische Dörfer angegriffen, mehrere Menschen verletzt und Ländereien in Brand gesetzt.
Auch außerhalb der von den Rebell*innen kontrollierten Gebiete haben gewalttätige Angriffe zugenommen. Kaum eine Straße in dem Bundesstaat ist derzeit noch sicher. Paramilitärs und Selbstverteidigungsgruppen liefern sich Kämpfe, in die oft auch staatliche Kräfte involviert sind, und kriminelle Kartelle kämpfen um die Kontrolle der Region. Die Menschenrechtsorganisation „Frayba“ geht davon aus, dass diese Gruppen die Gewalt benutzen, um ihre soziale, politische, wirtschaftliche und territoriale Kontrolle zu sichern und Widerstandsbekämpfung im Interesse des Staats zu betreiben. „Die Zunahme der Gewalt hat zu schweren Menschenrechtsverletzungen wie massiven Vertreibungen, Verschwindenlassen, Landraub, Morden, Folter und anderem geführt“, schreibt die Organisation aus der Provinzhauptstadt San Cristóbal de las Casas.
Schon 2021 erklärte die EZLN, Chiapas befinde sich „am Rande eines Bürgerkriegs“.
Zu den besonders umkämpften Regionen zählt die Grenze zu Guatemala. Für die organisierte Kriminalität hat diese Gegend große Bedeutung: Täglich reisen hier tausende Migrant*innen auf ihrem Weg in die USA illegal nach Mexiko ein. Zudem spielt die Grenzregion beim Schmuggel von Waffen, Drogen und anderen illegalen Waren eine große Rolle. Seit zwei Jahren kämpfen dort die führenden mexikanischen Verbrecherorganisationen, das Sinaloa-Kartell und das Kartell Jalisco Neue Generation (CJNG), um die Hoheit. Für die Bevölkerung hat das katastrophale Folgen. Auf den Straßen patrouillieren Killer auf in Tarnfarben gehaltenen Pickups der „Narcos“ mit Maschinengewehren, regelmäßig kommt es zu Schusswechseln. Autos brennen, auf Häuserwänden stellen Insignien wie „CJNG“ klar, wer hier das Sagen hat.
Immer wieder werden junge Männer von der Mafia zwangsrekrutiert. „Sie holen die Jungs aus ihren Häusern, bringen sie in Lagerhallen und zwingen sie, Waffen zu tragen“, zitiert die unabhängige Nachrichtenplattform „Chiapas Paralelo“ einen Bewohner. Tausende mussten vorübergehend ihre Heimat verlassen. Vertreter lokaler Regierungen oder Organisationen, die die angespannte Lage öffentlich anprangern, laufen Gefahr, verschleppt zu werden. Im September konnten über Wochen hinweg 280.000 Einwohner*innen die Region nicht verlassen. Weder Lebensmittel noch Benzin gelangten in die Dörfer. Menschen wurden gezwungen, sich an den Blockaden des Sinaloa-Kartells zu beteiligen und ihm für Promotionsvideos zuzujubeln. 5.000 Lehrer*innen, die dorthin entsandt worden waren, haben die Dörfer verlassen. „Angesichts der Gleichgültigkeit und Abwesenheit kompetenter staatlicher Vertreter, die den verbrecherischen Taten der kriminellen Gruppen die Stirn bieten könnten“, müsse man den Unterricht vorübergehend aussetzen, schrieben sie.
Einwohner*innen mussten sich, gezwungen von den Kartellen, gewaltsame Kämpfe mit der Armee liefern, um zu verhindern, dass die Soldaten in die Gemeinden vordringen. Je nachdem, ob die kriminellen Gruppen Reibungen oder Vereinbarungen mit Militärs, Polizisten und Nationalgardisten hätten, würden die staatlichen Kräfte durchgelassen oder nicht, erklärt die Journalistin Ángeles Mariscal, die seit Langem in der Region arbeitet. „Die Bevölkerung wird gezwungen, am Krieg zwischen den Kartellen teilzunehmen“, beschreibt Mariscal die Lage. In dieser ländlichen Zone würden sich alle kennen. Das könne zwar einerseits das soziale Netzwerk der Gemeinden stärken, sei aber andererseits zum Kontrollmechanismus für die Mafia geworden. „Niemand bewegt sich hier, ohne dass man es mitbekommt, und jeder Ungehorsam wird bestraft“, sagt sie.
Unter diesen Verhältnissen leiden vor allem Menschen in abgelegenen grenznahen Landkreisen wie Comalapa, La Trinitaria oder Chicomuselo. Anfang November trieben mehrere in Plastiktüten verpackte Leichen den dort gelegenen Grenzfluss Rio Suchiate hinunter. Doch auch in San Cristóbal de las Casas hat die Gewalt stark zugenommen. Immer wieder bekämpfen sich in dem beliebten Touristenort Banden auf offener Straße. Schwarz gekleidete, vermummte Männer auf Motorrädern liefern sich Auseinandersetzungen mit ihren Gegnern. Auch hier geht es unter anderem um Drogengeschäfte, die nach Regierungsinformationen vom Sinaloa-Kartell kontrolliert werden. Die Tourismusindustrie befürchtet, dass angesichts der zunehmenden Unsicherheit weniger Urlauber*innen in die kolonial geprägte Stadt kommen könnten. Zugleich sorgt die Zunahme von Besucher*innen dafür, dass sich die organisierte Kriminalität ansiedelt. Das ist auch im karibischen Cancún und anderen Urlaubsorten so. Hier lassen sich Schutzgelder kassieren, illegale Bordelle betreiben und natürlich Drogen verkaufen.
„Chiapas ist zerrissen vom organisierten Verbrechen“, erklärt die Diözese von San Cristóbal de las Casas und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierung: „Das Schweigen der Behörden gefährdet Menschenleben und zeugt von einem gescheiterten Staat, in dem lokale und regionalen Staatsanwaltschaften, Bürgermeister sowie die bundesstaatliche und die föderale Regierung von kriminellen Gruppen unterwandert sind oder überholt wurden.“
Auch die EZLN ist davon überzeugt, dass die Rathäuser von „legalen Auftragsmördern“ und dem „desorganisierten Verbrechen“ besetzt sind. Sie macht unter anderem den Gouverneur des Bundesstaates, Rutilio Cruz Escandón von der „Morena“-Partei des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador und den Staatschef selbst für die eskalierte Situation verantwortlich. Das Militär und die verschiedenen Polizeieinheiten seien nicht in Chiapas, um die Zivilbevölkerung zu schützen, heißt es in dem Kommuniqué. „Sie sind nur hier, um die Migration einzudämmen.“ Tatsächlich hat sich die Lage in der Region insbesondere für Migrant*innen verschärft, seit López Obrador auf Druck der US-Regierung versucht, die Wanderungsbewegungen einzudämmen. Menschen auf der Flucht oder auf der Suche nach Arbeit sind zunehmend gezwungen, sich in die Hände krimineller Akteur*innen zu begeben, um an die mexikanische Grenze zu den USA zu gelangen.
Nicht nur deshalb stehen die Zapatist*innen mit der linken „Morena“-Regierung auf Konfrontation. Seit sich deren Vorgängerpartei PRD 2001 im Parlament für ein Indigena-Gesetz aussprach, das nicht den Abmachungen von San Andrés entsprach, haben die Rebell*innen mit López Obrador und seinen Unterstützer*innen gebrochen. Zudem werfen sie auch dem „Morena“-Gouverneur Cruz Escandón vor, gegen sie vorzugehen. Einige lokale „Morena“-Politiker*innen kooperierten mit paramilitärischen Gruppen gegen die Indigenen, um der EZLN und ihren Gemeinden zu schaden. Zudem seien groß angelegte Sozialprogramme der Regierung für die Spaltung von Dörfern und für Korruption verantwortlich. Scharf kritisieren Zapatist*innen auch den Touristenzug „Tren Maya“ auf der Halbinsel Yucatán, eines der wichtigsten Projekte López Obradors. Mit der Bahn, die auch über von der EZLN kontrolliertes Land rollen soll, übergebe man „die Gebiete dem großen Industrie- und Tourismuskapital, um dort Megaprojekte des Tourismus umzusetzen“.
Ihre radikale Gegnerschaft zu López Obrador und seinen Anhänger*innen hat die Zapatist*innen schon seit Langem viel Zustimmung gekostet. Bereits 2006, als der Politiker erstmals für die Präsidentschaft antrat, gingen die Indigenen auf Konfrontation, während linke Organisationen, Gewerkschaften, Stadtteilverbände und andere große Hoffnung auf López Obrador setzten. Nicht zuletzt deshalb haben die Zapatist*innen derzeit im politischen Leben Mexikos wenig Relevanz. Zugleich ist ihre moralische Bedeutung ungebrochen. Schließlich haben sie mit ihrem Aufstand die Situation der indigenen Einwohner*innen weltweit auf die Agenda gesetzt. In zahlreichen Gemeinden der Mixe, Zapoteken, Nahuas, Rarámuris und weiteren indigenen Gemeinschaften, die sich heute autonom regieren, spielen die Erfahrungen aus Chiapas eine große Rolle.
Doch auch die Zapatist*innen selbst haben sich längst davon verabschiedet, auf die an Parteien orientierte Linke zu setzen. Abgesehen von ihrem Austausch mit indigenen Organisationen und nationalen sowie internationalen Verbündeten aus linksradikalen Grüppchen konzentrieren sie sich darauf, ihre Selbstverwaltung auszubauen. Selbstkritisch blicken sie in einem ihrer Kommuniqués auf die Schwierigkeiten einer Organisierung von unten und die „verflixte Pyramide“ der Hierarchie zurück. Etwa auf die schlechte Kommunikation zwischen Bevölkerung und regierenden Gremien sowie auf die Probleme mit der gerechten Verteilung der Ressourcen.
„Die pyramidische Struktur wie regiert wurde, war nicht der Weg. Er war nicht von unten her, sondern von oben“, erklärt Subkommandant Moisés, der schon seit Langem den Subkommandanten Marcos, den einzigen sichtbaren Nicht-Indigenen in der EZLN, ersetzt. Der auch wegen seiner teilweise poetischen Texte bekannte Marcos, inzwischen zum „Kapitän“ degradiert, dürfte jedoch weiterhin eine wichtige Rolle in der EZLN spielen. Jedenfalls kommt „el Capitán“ in den neuesten Stellungnahmen immer wieder zu Wort. „Jetzt müssen wir erstmal lernen, in der Dunkelheit zu gehen und zu lernen“, schreibt er in einem Essay, und Moisés ergänzt: „Wir werden feiern, dass wir einen Weg begonnen haben, der mindestens 120 Jahre dauern wird, vielleicht noch länger.“ Mit ihren Verbündeten will die EZLN den 30. Jahrestag ihres Aufstands begehen. Die Feste sollen von Weihnachten bis Neujahr stattfinden. Zugleich weisen die Zapatist*innen jedoch darauf hin, dass es sehr gefährlich sei, sich in ihrer Region zu bewegen, und schreiben: „Ja, wir wollen, dass ihr kommt, aber wir empfehlen es nicht.“