Diskutieren mit dem Virus

Die Möglichkeit einer zweiten Infektionswelle ist zurzeit ein Tabuthema. Dabei kann nicht früh genug mit präventiven Vorbereitungen begonnen werden.

Regulärer Unterricht fällt für mindestens ein Jahr aus“, schrieb der deutsche SPD-Politiker und Gesundheitswissenschaftler Karl Lauterbach Anfang des Monats auf Twitter und löste damit einen regelrechten Shitstorm aus. In Lauterbachs Thread ist vor allem eine wesentliche Forderung herauszulesen: Es soll allen Schüler*innen ermöglicht werden, potenziell auch von zuhause aus lernen zu können. Er schrieb dies mit Blick auf eine mögliche zweite Infektionswelle im Herbst. Statt erst einmal abzuwarten und auf das Beste zu hoffen, sei es wichtig, die Sommerferien zu nutzen, um „modernes Unterrichtsmaterial und die Technik vorzubereiten“. Im Sinne eines gleichberechtigten Bildungszugangs und qualitativ hochwertigen Unterrichts müsse, so Lauterbach, sichergestellt werden, dass alle Schüler*innen über die nötige Hardware und einen guten Internetzugang verfügen.

Die negativen Reaktionen auf Lauterbachs Äußerungen, deuten eine gewisse Stimmung in der Gesellschaft an: Viele sind überzeugt, dass die schlimmste Phase der Pandemie hinter uns liegt. Wer über eine potenzielle Verschlechterung spricht, wird als unnötig pessimistisch kritisiert. Lauterbach ist mit seiner Ansicht, jetzt bereits in präventive Maßnahmen zu investieren, allerdings nicht alleine. Am vergangenen Montag sprach Hans Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, in einem Interview mit der britischen Zeitung „The Telegraph“ über die Notwendigkeit, sich auf eine zweite Infektionswelle einzustellen – möglicherweise sogar eine „doppelte Welle“, da im Herbst üblicherweise auch Grippe- und Maserninfektionen wieder steigen. Es sei jetzt die Zeit für Vorbereitungen, nicht für Feierlichkeiten, so Kluge. Die nächsten Monate müssten genutzt werden, um unter anderem das Gesundheitswesen auszubauen und Krankenhauskapazitäten zu erhöhen.

Doch auch hierzulande ist man zurzeit nicht gut auf eine potenziell zweite Infektionswelle zu sprechen. Am 15. Mai antwortete Bildungsminister Claude Meisch, auf präventive Vorbereitungen auf eine zweite Infektionswelle angesprochen, er hoffe, weiter in Richtung Normalisierung gehen zu können. Bei Bedarf könne das Tempo jedoch angepasst werde. Man habe aus den Erfahrungen der letzten Monaten gelernt und werde, was Fernunterricht betrifft, in Zukunft besser aufgestellt sein. Dann sagte er noch: „Ech ka mer net virstellen, dass mer am Hierscht eng Rentrée hunn, déi ënnert dem Zeechen vun engem Apprentissage à distance oder engem apprentissage en alternance steet wéi mer e lo hunn“. Das klingt erst mal beruhigend. Eine weitere, monatelange Homeschooling-Phase wünscht sich sicher niemand.

Noch beruhigender wäre es, wenn das Bildungsministerium über die notwendige Vorstellungskraft und Voraussicht verfügen würde, um das Schul- und Betreuungswesen optimal auf den Fall einer zweiten Infektionswelle vorzubereiten. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, was es dabei zu verlieren gibt. Immerhin werden entsprechende Maßnahmen – mehr Weiterbildungen für Lehrkräfte, bessere technische Ausstattung der Schüler*innen – den Kindern zugute kommen, egal ob die Schulen noch einmal schließen müssen oder nicht. Digitale Lehr- und Lernmethoden werden in Zukunft ohnehin immer wichtiger werden.

Etwas optimistischer stimmte dann schon die gemeinsame Pressekonferenz von Arbeitsminister Dan Kersch, Transportminister François Bausch und Finanzminister Pierre Gramegna am vergangenen Mittwoch. Danach befragt, ob die Regierung bereits an einem Plan für den Fall eines zweiten Lockdowns arbeite, verwies Kersch auf eine entsprechende Arbeitsgruppe. Diese befasse sich mit dem Szenario, dass wieder weitere Restriktionen nötig seien. Details gab es zwar keine, aber es ist genau diese Information, die zurzeit zuversichtlich zu stimmen vermag.

Manche Formulierungen wirkten angesichts der Sachlage jedoch befremdlich. Während seiner Ausführungen wiederholte Kersch wieder und wieder, die Regierung hoffe, dass es zu keiner neuen Infektionswelle komme. Man fasse Holz an, betonte er. Gramegna seinerseits benutzte immer wieder das Wort „Optimismus“. So, als lasse sich das Virus durch eine positive Einstellung und Daumendrücken bezähmen. Und so, als habe man Angst es zu bestärken, indem man ihm eine zweite Welle zutraut. Die Möglichkeit einer Pandemie, wie wir sie zurzeit durchleben, war bereits seit langem bekannt. Damals war man wohl auch zu „optimistisch“, um sich auf ein solches Szenario vorzubereiten. Dabei wäre doch im Grunde zu erwarten, dass alle nun gelernt haben, wie wichtig Prävention ist.

Die Konnotation von präventiven Maßnahmen mit negativen Auswirkungen war bei Transportminister François Bausch noch expliziter: „Et huet jo kee Wäert, dass mer an däer Situatioun, wou mer haut sinn, wou mer gutt geschafft hu bis lo, dass mer deen nächste Katastrophenzeenario un d’Wand molen.“ Dabei geht es doch gerade darum, die Katastrophe, von der Bausch spricht, durch Vorarbeit zu verhindern. Den restlichen Teil seiner Intervention verbrachte Bausch damit, gegen einen weiteren Lockdown zu argumentieren. Es ist unklar, mit wem er diskutierte. Dem Virus ist es immerhin egal, ob eine Gesellschaft die Konsequenzen eines Lockdowns tragen kann oder nicht.

Niemand erwartet, dass uns Politiker*innen die Zukunft voraussagen können. Es darf und muss aber von ihnen erwartet werden, dass sie die Gesellschaft für diese wappnen.


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