Informationsrecht für Frauen: Kristina Hänel und der §219a

Weil sie auf ihrer Website Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen bereitstellte, wurde die Gießener Gynäkologin Kristina Hänel 2017 zu einer Geldstrafe verurteilt. In ihrem Tagebuch „Das Politische ist persönlich“ dokumentiert sie ihren Einsatz für das Informationsrecht und die Spuren, die er hinterlässt.

Kristina Hänel (Mitte) wurde, neben den Ärztinnen Natascha Nicklaus und 
Nora Szász (v.l.n.r.), im März 2019 mit dem Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung ausgezeichnet. Die Stiftung würdigte ihren Einsatz für das Informationsrecht von Frauen. (Foto: Heinrich-Böll-Stiftung Berlin, Deutschland,CC BY-SA 2.0)

Ein gelber Briefumschlag brachte den Stein ins Rollen: „Auf dem Küchentisch liegt ein gelber Brief, mit Stempel drauf. Na ja, mal schnell aufmachen, wird schon irgendwas Offizielles sein, sonst wäre er nicht so gelb.“ Das schrieb Kristina Hänel Anfang August 2017. Mit dem gelben Umschlag kam die Ladung zum Gerichtstermin: Hänel wurde wegen Werbung für den Schwangerschaftsabbruch (§219a) angezeigt und drei Monate später verurteilt. Sie hatte eine PDF-Datei mit Behandlungsmöglichkeiten und allgemeinen Informationen auf die Praxis-Website hochgeladen. Die dürften betroffenen Frauen laut Gesetz aber nur persönlich auf Nachfrage per Mail zugeschickt werden.

Hänel ging mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit und sammelte rund 150.000 Unterschriften für die Streichung des Paragrafen, die sie dem Deutschen Bundestag übergab. Nicht aus Eigeninteresse, sondern um Frauen den Informationszugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu erleichtern. Oft sei der Abbruch die einzige Lösung, der Weg dahin durch das restriktive Informationsgesetz aber lang und kompliziert. Hänel weckte die Debatte um das „Werbeverbot“ aus dem Dornröschenschlaf.

Der §219a ging in der damaligen Form auf eine Norm zurück, die die nationalsozialistische Partei 1933 bei der Machtübernahme einführte. Der Schwangerschaftsabbruch war zu der Zeit verboten. Heute ist er in Deutschland in der Regel rechtswidrig, unter bestimmten Bedingungen (Beratung im Vorfeld, Fristeinhaltung) aber nicht mehr strafbar.

Im Februar 2019 wurde die Reform des Paragrafen 219a vom Bundestag verabschiedet: Arztpraxen dürfen inzwischen öffentlich angeben, dass sie Abbrüche durchführen. Die Bundesärztekammer soll ein zentrales Register von Einrichtungen und Ärzt*innen erstellen, inklusive der angebotenen Abbruchmethoden. Den Ärzt*innen selbst bleibt es weiterhin untersagt, öffentlich über die Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären oder zu präzisieren, welche Methoden sie durchführen.

Gesundheitsminister Jens Spahn gab zudem im Zuge der Debatte um die Reform des §219a eine umstrittene Studie zu seelischen Langzeitfolgen eines Schwangerschaftsabbruchs in Auftrag. Die Kosten sollen sich Medienberichten zufolge auf fünf Millionen belaufen.

Hänel gilt als Leitfigur der Bewegung gegen den anachronistischen Paragrafen

Eine Streichung des Paragrafen, wie sie Hänel und Sympathisant*innen fordern, wurde nicht vorgenommen. Die Ärztin gilt dennoch als Leitfigur der Bewegung gegen den anachronistischen Paragrafen und für ein liberales Informationsrecht. Es ist eine undankbare Position, die sie in ihrem Tagebuch detailreich und offen beschreibt. Abtreibungsgegner*innen begegnen ihr mit Hass. Manche drohen ihr per Mail mit Mord. Doch Hänel illustriert in ihrem Tagebuch nicht nur das gesellschaftliche und politische Misstrauen Frauen und Ärzt*innen gegenüber. Das Tagebuch wirft weitere gesellschaftsrelevante Fragen auf.

An einer Stelle geht es um ihren Petitionstext zur Streichung des Paragrafen. Hänel fragt sich: „Ich bin ja angeklagt, was darf man da sagen und was nicht?“ Ihre erste Anwältin rät ihr, beim Prozess zu schweigen, um sich nicht selbst zu belasten. Sie aber spürt, dass sie etwas sagen muss. Der Seiltanz zwischen dem, was man sagen darf, und dem, was verschwiegen gehört, ist prägend für die Causa Hänel.

Eine Praxis, die leicht zugängliche, sachliche Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen auf ihrer Website weitergibt, wird verurteilt. Gleichzeitig dürfen die Betreiber*innen der Seite Babycaust, die mit unkommentierten Bildern toter Säuglinge vor Abbrüchen abschrecken will sowie einen fragwürdigen Vergleich zwischen Holocaust-Opfern und abgetriebenen Embryos zieht, ihre vorwiegend emotional motivierten Argumente im Zeichen der Meinungsfreiheit offen darbieten.

Auch, wenn die Webseite in der Vergangenheit mehrfach wegen nicht jugendfreier, frei zugänglicher Bilder indiziert wurde. Eine kuriose Welt, in der die neutrale Weitergabe von Informationen bestraft wird, während die Gesetzgebung die Stimmungsmache gegen Schwangerschaftsabbrecherinnen indirekt billigt. Ironischerweise stellen sowohl die Babycaust-Fraktion – empört über die Indizierung – als auch Hänel fest, dass bei dem Thema mit zweierlei Maß gemessen wird. Mit dem bedeutenden Unterschied, dass Hänel sich für das Informationsrecht einsetzt, während die Babycaust-Unterstützer*innen online gegen die Ärztin hetzen, der inzwischen die Rolle der „Abtreibungsärztin“ anhaftet. Besonders die Medien festigten dieses Bild.

Hänel lobt die Pressevertreter*in-nen in ihrem Buch wiederholt für ihre Unterstützung und für ihre Pünktlichkeit bei vereinbarten Treffen. Ganz nebenbei schildert sie jedoch auch die Kehrseite der Begegnungen: das Gerangel um Exklusivrechte, das Drängeln nach einem Porträt trotz ihrer Bedenken, die Suggestivfragen einer aufdringlichen Journalistin, interne Machtspielchen. Hänel schreibt auch über die Verlagssuche zur Publikation ihres Tagebuchs. Fischer lehnte das Manuskript ab, weil da nichts Neues drinstünde und „man das alles bereits aus den Medien“ kenne.

Das Buch erschien 2019 schließlich beim Argument Verlag, einem unabhängigen politischen Kleinverlag. Hänels Erfahrungen halten der Medien- und Verlagsbranche einen Spiegel vor. Der Anblick ist abstoßend: Er deckt ihre Sensationsgier auf und offenbart die Geldzeichen in ihren Augen.

Umso wichtiger erscheint Hänels Buch. Es ist der Versuch, die Privatperson hinter dem medialen und politischen Tohuwabohu zu zeigen. Der Text wirkt durch die oft zusammenhanglosen Verweise auf Hänels großes soziales Engagement zwar stellenweise affektiert – manchmal liegt es einem auf der Zunge zu sagen: „Kristina, du musst dich vor mir nicht verteidigen“, – doch gleichzeitig bietet Hänel einen intimen Einblick in ihren Alltag, der während und nach dem Prozess oft von Ängsten, Tränen und schlaflosen Nächten begleitet wurde.

Auch die Etappensiege und die schönen Momente finden in dem Buch Platz. Hänel teilt ihr Schicksal und das anonymisierter Frauen und Paare, die sie wegen der Abbrüche aufsuchen. Ihnen allen gibt sie ihre Stimme.

Die luxemburgische Regierung spricht sich für den freien Informationszugang zu Schwangerschaftsabbrüchen aus. Die Infos und eine Liste der zugelassenen Einrichtungen sind online verfügbar. Ein explizites „Werbeverbot“ wie in Deutschland gibt es hierzulande nicht. Es gelten die allgemeinen Vorgaben aus dem Code de déontologie médicale.


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