Kolumbien
: Hip in den Guerillakrieg


Die Demobilisierung der größten kolumbianischen Guerilla Farc hat zum Erstarken der anderen revolutionären Miliz, der ELN, geführt. Um ihre gesellschaftliche Basis auszubauen, bemüht sich die Truppe um einen modernen Anstrich und will sich stärker an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren. Ein Besuch vor Ort.

Präsenz zeigen: Der ELN ist bemüht, das ehemals von der Farc gehaltene Territorium unter seine Kontrolle zu bringen. (Foto: Tatyana Zambrano
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Trauben schwarzer und roter Luftballons baumeln im Wind. Musik dröhnt aus meterhohen Boxen, die neben einer improvisierten Bühne stehen. Kinder und Jugendliche tollen auf dem Platz davor herum, tanzen zur Musik oder schauen gemeinsam mit einigen Erwachsenen einem Fußballspiel auf dem Bolzplatz zu. Der Erdboden ist mit Papierschnipseln übersät, die eine Piñata, eine mit Süßigkeiten gefüllte Figur aus Pappmaché, hinterlassen hat. Ebenso verstreut die weggeworfenen Bonbonpapiere und Styroporteller, auf denen junge Männer und Frauen mit über der Schulter hängenden Maschinengewehren zuvor Geburtstagskuchen gereicht haben. Über der Bühne hängen drei silberne, aufblasbare Buchstaben: ELN – „Ejército de Liberación Nacional“, Armee der nationalen Befreiung. Die letzte große Guerilla Lateinamerikas feiert Geburtstag.

Ein schlanker, hochgewachsener Mann greift zum Mikrofon. Die breite Krempe seines Tropenhuts und ein Tuch verdecken sein Gesicht. Lediglich seine Augen sind zu erkennen. Er nennt sich Comandante Uriel, ist Anfang 40 und einer der führenden Köpfe der westlichen Kriegsfront des ELN. Uriel erzählt, wie das damals war, vor 55 Jahren, im Juli 1964, als sich ein kleines Grüppchen in Kuba bei Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara geschulter Revolutionäre auf den Weg in eine kleine Gemeinde im Nordosten Kolumbiens machte. Dort wollte man, der so genannten Fokustheorie folgend, ein kleines Feuer zu legen, das landesweit eine Revolution entfachen sollte.

Uriel erinnert an Camilo Torres, den Guerillero-Priester, für den der einzige Weg zur Überwindung von Elend und Armut im bewaffneten Kampf bestand, die er als effektive Nächstenliebe auffasste. Nur wenige Monate später starb er bei einem Gefecht. „ELN“ ruft der Kommandant von der Bühne, und aus den Kinderkehlen schallt es zurück: „55 Jahre“. Ein vermummter Kameramann filmt mit. Das Video wird später in den kolumbianischen Medien für Aufregung sorgen. „Der ELN benutzt Kinder zu Propagandazwecken“, lautet die Schlagzeile.

Die Szenerie mutet an wie in einer hippen Kommunikationsagentur.

„Der ELN ist nach der Demobilisierung der Farc-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) im Jahr 2017 immer stärker geworden. 2.500 Kämpfer, so die Zahlen des Militärgeheimdienstes, hat die Miliz in ihren Reihen. Hinzu kommen laut Beobachtern mindestens noch einmal so viele zivile Mitglieder, die landesweit an Universitäten, in öffentlichen Institutionen, sozialen Organisationen und Basisbewegungen für den ELN aktiv sind. Besonders die „Westfront“ in der Pazifikregion hat ihre Kontrolle in der abgelegenen, von vielen Flüssen und wenigen Straßen durchzogenen Dschungelregion ausgeweitet. Dort verlaufen wichtige Drogenrouten an die Küste, auf den Verkauf und Transport erhebt der ELN ebenso wie auf den ertragreichen Goldabbau eine „Revolutionssteuer“.

Der Frieden mit der Farc hat im Verwaltungsbezirk Chocó, der im Nordwesten Kolumbiens liegt, zu einer Zunahme der Kriegshandlungen geführt: Die paramilitärische Gruppe AGC (Autodefensas Gaitanistas de Colombia) und der ELN streiten seitdem um die Kontrolle der von der Farc hinterlassenen Zonen. Darunter leidet die meist afro-kolumbianische und indigene Bevölkerung. Immer wieder flüchten die Betroffenen vor den Kämpfen. Laut der staatlichen Ombudsstelle und Beobachtern vor Ort steigt zudem die Zahl der Rekrutierung von Jugendlichen aus den Gemeinden. Eine friedliche Beilegung ist nicht in Sicht. Die 2017 aufgenommenen Friedensverhandlungen zwischen der ELN und der Regierung hatte der rechtskonservative Präsident Iván Duque Anfang 2019 abgebrochen, nachdem die „Urbane Front“ des ELN einen Bombenanschlag auf eine Polizeischule verübt und 22 Menschen getötet hatte (woxx 1514).

Digitale Revolution: Smartphone, Laptop und Internet sind für die Guerilla des 21. Jahrhunderts von elementarer Bedeutung. (Foto: Tatyana Zambrano
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Am Tag nach dem Geburtstagsfest, einige Kilometer weiter flussabwärts in einer kleinen Siedlung am Flussufer des Río San Juan: Junge Guerilleros hocken vor aus Holzbrettern zusammengenagelten Hütten herum, wie sie für die Region typisch sind. Manche tippen auf ihren Smartphones, die sie statt eines Buches über Che Guevara oder Camilo Torres bei ihrem Eintritt in die Organisation geschenkt bekommen. Vor einer der Herbergen steht eine Satellitenschüssel, daneben liegen vier Solarpanels. Mehrere Kabel führen von dort aus durch ein Fenster ins Innere der Behausung. Laptops, Kameras und Tablets sind angeschlossen, ein Modem blinkt, Musik einer Spotify-Playliste schallt aus einer USB-Box.

Zwischen all dem Kabelsalat und mobilen Endgeräten sitzen Comandante Uriel, eine junge Frau namens Lucia und ein Grafikdesigner, der nicht mit der Presse reden darf. Sie tragen Outdoor-Kleidung und haben es sich in Campingsesseln bequem gemacht. „Reichst du mir mal den USB-Stick?“ „Wir haben jetzt 200 Views auf Instagram.“ „Mal Ruhe bitte: Uriel muss ein Statement fürs Radio einsprechen.“ – Die Szenerie mutet an wie in einer hippen Kommunikationsagentur. Doch hier, glauben die drei, machen sie die Revolution. Bei 160 Megabyte pro Sekunde.

„Ach, in Zeiten des Internets ist es einfach, für News zu sorgen“, freut sich Uriel. „Jede Nachricht ist eine gute Nachricht“, meint er: „Wir verstehen Kommunikation als ein weiteres Schlachtfeld und nutzen dazu die technischen Mittel, die uns der Kapitalismus zur Verfügung stellt.“ In anderen Einheiten des ELN verstehe man oft nicht, dass es wichtig sei, Inhalte über die sozialen Medien zu verbreiten. „Sie denken, dass ein offizielles, auf Papier gedrucktes und verteiltes Kommuniqué immer noch das geeignete Medium ist, um seine Position und politische Forderungen zu kommunizieren.“Unsere Zielgruppe ist die Jugend aus kleinbürgerlichen urbanen Milieus.“

„Unsere Zielgruppe ist die Jugend aus kleinbürgerlichen urbanen Milieus.“

Uriel und sein Team hingegen haben, inspiriert von Subcomandante Marcos und den Zapatisten in Mexiko, die Figur des „Comandante Uriel“ geschaffen. Damit bespielen sie nun die sozialen Medien und produzieren, eingerahmt von Popmusik und dem unvermeidbaren Konterfei des Che Guevara, grafisch aufwändigen „content“. Statt mit der alten antiimperialistischen Revolutionsrhetorik versuchen sie es mit moderner Sprache und zeitgemäßen Themen: mit der Flora und Fauna des artenreichen Chocó, mit Feminismus, Anti-Patriarchat und Solidarität mit Studentenprotesten. „Unsere Zielgruppe ist die Jugend aus kleinbürgerlichen urbanen Milieus“, erklärt Lucia stolz. Es wirkt, als ob sie, Uriel und der Rest des Teams versuchen, das Image einer angestaubten Traditionsmarke zu erneuern, deren Bestseller, der bewaffnete revolutionäre Kampf, bei der großen Masse der Konsumenten längst nicht mehr ankommt.

Ideologisch tickt der ELN anders als die von Siedlerbewegung, Kleinbauern und Sowjetmarxismus geprägten Farc, die die Milizionäre der ELN, die „Elenos“, stets als kleinbürgerliche Voluntaristen verachteten. Nachdem der ELN 1973 militärisch fast besiegt worden war und immer mehr in autoritäre Umgangsformen abrutschte, kam es im Laufe der 1980er-Jahre zu einem Umdenken. Man stellte die armen Bevölkerungsanteile in den Mittelpunkt und verband dies mit dem Konzept autonomer Organisationsprozesse „von unten“. Das machte den ELN auch in Intellektuellenkreisen attraktiv. Das Ziel war nun nicht mehr vorrangig militärisch definiert, auch nicht die weit entfernte Machteroberung als revolutionäres Heilsversprechen, stattdessen der Aufbau einer Gegenmacht: Eigene, staatliche Institutionen ersetzende oder ihnen entgegengesetzte demokratischere Strukturen. Die Revolution begann im Kleinen. „Das Volk spricht, das Volk befiehlt“ hieß fortan der Slogan.

Unter anderem deshalb kamen die Friedensgespräche kaum voran. Seine politische und gesellschaftliche Relevanz überschätzend, wollte der ELN einen Nationalen Dialog initiieren. Alle gesellschaftlichen Gruppen sollten über grundlegende Fragen diskutieren, wie das Wirtschaftsmodell und dabei insbesondere die Ausbeutung von Bodenschätzen durch multinationale Konzerne.

Orientiert sich an der Ikonographie der Zapatistas: „Comandante Uriel“ (vorn) und Guerilleros aus seiner Truppe. (Foto: Tatyana Zambrano
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Weil all dies bei den Verhandlungen mit der Farc kein Thema war, lehnt der ELN den Friedensschluss von Havanna ab. „Das ist kein Friedensabkommen, sondern eine Demobilisierungsvereinbarung“, tönt Uriel. Gegen eine Verhandlungslösung zu argumentieren, ist leicht: Sicherheitsgarantien gibt es in vielen Regionen auch weiterhin nicht (woxx 1523). Laut Behördenangaben sind fast 500 soziale Aktivisten in den vergangenen dreieinhalb Jahren ermordet worden, dazu mehr als 130 ehemalige Farc-Kämpfer. Die Umsetzung der Friedensvereinbarungen unter Präsident Duque stockt. Die Verteilung von Landbesitz an Kleinbauern kommt ebenso schleppend voran wie die vereinbarten Substitutionsprogramme für den Kokaanbau.

Immer mehr Guerilleros verlassen daher mangels wirtschaftlicher Perspektiven die Übergangszonen, in denen Produktivprojekte den Einstieg ins zivile Leben ebnen sollten. Die Sonderjustiz, die die im jahrzehntelangen Konflikt begangenen Verbrechen aufklären soll, steht unter Dauerbeschuss der politischen Rechten. „Die Bourgeoisie ist nicht bereit, etwas von ihrer Macht abzugeben und auch nur die geringsten strukturellen Veränderungen zuzulassen, um die Situation der armen Bevölkerung zu verbessern. Die Klasse an der Macht zeigt uns damit, dass es keine andere Lösung als die des bewaffneten Widerstands gibt. In Kolumbien gibt es auf Dauer Gründe für den Krieg”, sagt Uriel.

Draußen brennt die Nachmittagssonne. Eduardo Murillo*, der Vorsitzende der Dorfgemeinschaft, steht unter schattenspendenden Bananenstauden und schaut dem Kartenspiel einiger Männer zu. „Wenn der Staat hierher kommt, dann mit dem Militär, und das fragt nicht, was wir brauchen”, sagt er und zeigt auf das einzige gemauerte, 25 Quadratmeter große Gebäude im Ort: „Das ist die Schule, die sie uns hier hingesetzt haben. Für 40 Kinder.“ Die Planung sah eine doppelt so große Einrichtung vor. Was mit dem restlichen Geld passiert ist, kann sich Murillo denken. Er verstummt und macht die überall verständliche Handbewegung, die für das Wirtschaften in die eigene Tasche steht.

„In Kolumbien gibt es dauerhaft Gründe für den Krieg“, meint Kommandant Uriel.

Die Korruption ist eines der Probleme des Chocó, das andere ist die Armut. Laut den staatlichen Statistiken ist die Provinz die ärmste im ganzen Land, dessen aufstrebender Wirtschaft zum Trotz. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung leben hier in der Region mit „unbefriedigten Grundbedürfnissen“, laut einem Index, mit dem die Behörden die Lebensqualität der Menschen messen. 30 Prozent leben in Armut, die öffentliche Gesundheitsversorgung ist mangelhaft, die Bildungschancen sind gering, Zugang zu sauberem Trinkwasser ist ein Problem, die Ernährung unzureichend. Die aufgeblähten Bäuche einiger Kleinkinder, die durchs Dorf laufen, sind ein untrügliches Zeichen von chronischer Unterernährung. Die Kindersterblichkeit ist überdurchschnittlich hoch.

„Wir leben hier von dem, was wir anbauen oder fangen“, sagt Murillo, „Reis, Zuckerrohr, Kochbanane, Fisch.” Wirtschaftlich etwas ertragreicher ist hier nur das Koka, flussaufwärts gibt es einige Goldminen, manche leben vom Schlagen der Tropenhölzer. Wer kann, zieht weg. Ob „die Organisation“, wie die Menschen den ELN hier nennen, ihnen unter die Arme greift? Eduardo schüttelt den Kopf. Außer in einigen Fragen der öffentlichen Ordnung trete er kaum in Erscheinung. Das sei aber immer noch besser als die Paramilitärs, die die Menschen schlecht behandelten und ihre Bedürfnisse ignorierten.

(Foto: Tatyana Zambrano
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Anders als die Farc, die alle nur denkbaren Angelegenheiten des Zusammenlebens teils streng reglementierten, überlässt der ELN dies weitgehend der Eigeninitiative der Bevölkerung. In seinen Kernregionen im Nordosten des Landes ist das Verhältnis des ELN zur sozialen Basis eng, dort, wo, wie im Chocó, das Militärische im Vordergrund steht, eher autoritär, sagen Beobachter. Eduardo Murillo und die Dorfgemeinschaft müssen daher erstmal selber schauen, wie sie das Geld für die Reparatur der kaputten Reisdreschmaschine auftreiben. „Im Oktober sind Regionalwahlen. Wir verkaufen die Stimmen aller Gemeindemitglieder an einen Kandidaten, dann haben wir das Geld zusammen“, sagt er. Solang müssen sie die Reiskörner noch mühsam mit einem großen Mörser von der Schale trennen.

„Wenn der Staat hierher kommt, dann mit dem Militär, und das fragt nicht, was wir brauchen”

Am Abend, als sich die Hitze allmählich verzieht, steht in der Holzhütte des Kommandanten Uriel eine Funkkonferenz mit den Einheiten der Westfront auf dem Programm. Noch einmal will man an den 55. Jahrestag erinnern. Alle Guerilleros müssen an der Sitzung teilnehmen. Hier, wenn es um die interne Kohäsion geht, sind die Inhalte und Formen noch die alten. „Wo es Unterdrückung gibt, wird es Widerstand geben“, spricht Uriel immer wieder laut ins Funkgerät.

Die Guerilleros stehen stramm. Sie müssen Texte vorlesen, in denen an die Märtyrer und die Gründe für den bewaffneten Kampf erinnert wird. Es werden Losungen gerufen, „Nicht ein Schritt zurück, Revolution oder Tod!“ und Hymnen gesungen. Eine handelt davon, wie sich die Armen mutig zum Endkampf zusammenfinden und der Unterdrückung der Menschheit ein Ende bereiten, dass es weder Gott noch die Tribunen, sondern das Volk sein wird, das sich schließlich selbst erlöst. Es ist „Die Internationale“.

*Name redaktionell geändert. 
David Graaff arbeitet als freier Journalist.

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