Die Situation für Journalisten in Mexiko wird immer gefährlicher. Kaum ein Verbrechen gegen Medienschaffende wird je verurteilt. Wegen der engen Verflechtung von Politik und Mafia gibt es für sie auch keinerlei effektiven Schutz.
Plötzlich ist die Straße dicht. Reifen und Holzstangen blockieren den Weg. Ein Hinterhalt. „Steigt aus, ihr Arschlöcher“, ruft einer der etwa hundert Wegelagerer. Es ist gegen 18 Uhr, noch immer brennt die Sonne in der Region Tierra Caliente im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Vor allem junge Männer, aber auch Kinder sind an dem Überfall beteiligt. Die Älteren tragen Pistolen, alle sind sichtbar auf Drogen. „Einige waren nur acht oder neun Jahre alt, die meisten nicht über dreißig“, erinnert sich der Fotoreporter Hans Máximo Musielik später. „Sie haben uns alles abgenommen: Kameras, Laptops, Handys, Bargeld.“ Auch den Wagen des Lokalreporters Sergio Ocampo behalten die Kriminellen ein. Nach 15 Minuten ist der Spuk vorbei: Die Gruppe kann mit ihrem zweiten Fahrzeug unversehrt ihren Weg in die Provinzstadt Iguala fortsetzen.
Dieser Überfall auf sieben Journalisten am 13. Mai bildet den verhältnismäßig harmlosen Anfang einer Woche, die von brutalen Angriffen auf Medienschaffende in Mexiko gezeichnet ist: Zwei Tage später werden zwei Kollegen ermordet, am Freitag entführen Unbekannte den Besitzer eines Senders, am Samstag wird eine Reporterin in Cancún von einem Bewaffneten geschlagen und mit dem Tod bedroht. Die meisten der Attacken gehen von Banden der organisierten Kriminalität aus.
„Die Anordnung für den Überfall kam von oben“, ist Musielik überzeugt und meint damit die „Familia Michoacana“, ein Kartell, das in der Tierra Caliente operiert. Der deutsche Journalist arbeitet für Vice-News und war mit seinen Kollegen in die Region gefahren, weil sich die „Familie“ mit den rivalisierenden „Tequileros“ blutige Gefechte lieferte und die Armee in die Kämpfe eingriff.
Auf ihrem Weg treffen sie immer wieder auf quergestellte LKW, teilweise ausgebrannt, die das Militär an der Weiterfahrt hindern sollen. Mehrere Kartelle streiten hier um die Kontrolle von Transportrouten und den Drogenanbau, denn die Region ist Gold wert: 80 Prozent des in Mexiko produzierten Heroins stammen aus Guerrero. Und keines der Verbrechersyndikate möchte sich bei dem einträglichen Geschäft stören lassen. Weder von Soldaten, noch von Journalisten.
„Sie drohten, uns lebend zu verbrennen,“ berichtet Sergio Ocampo. Sollten sie den Überfall an der einen Kilometer entfernten Militärkontrolle erwähnen, werde man sie töten, habe ihnen der Chef der Meute erklärt. Es sei fast unmöglich, aus Tierra Caliente zu berichten, konstatiert der Reporter, der seit vielen Jahren in Guerrero als Korrespondent für die linke Tageszeitung „La Jornada“ tätig ist.
Ebenso gefährlich leben Medienschaffende im 1.500 Kilometer entfernten Culiacán, der Hauptstadt des nördlichen Bundesstaats Sinaloa. Dort ermordeten Unbekannte am 15. Mai Javier Valdez. Der preisgekrönte Journalist und Schriftsteller wusste genau, dass die Mafia ihn im Visier hatte. In den letzten drei Monaten hatte er immer wieder anonyme Drohungen erhalten. Trotzdem gab er nicht auf. „Wenn man mit dem Tod dafür bestraft wird, über diese Hölle zu berichten, dann sollen sie uns eben alle ermorden“, schrieb der 50-Jährige, der ebenfalls für die „Jornada“ tätig war, nachdem im März seine Kollegin Miroslawa Breach starb. Nun traf es ihn selbst. Zwölf Kugeln feuerten die Killer auf ihn, als er gerade die Redaktionsräume seiner Zeitung „Riodoce“ verlassen hatte.
Valdez beschäftigte sich seit vielen Jahren mit der organisierten Kriminalität. Er ist mit den Verbrechern groß geworden. In seiner Heimat regiert seit langem das Sinaloa-Kartell des in den USA inhaftierten Joaquín „El Chapo“ Guzmán. 2015 veröffentlichte er „Narcoperiodismo“, ein Buch über journalistisches Arbeiten in Zeiten des Mafiaterrors. 2003 gründete er die „Riodoce“, die sich wie kein anderes Blatt dem Treiben des Kartells widmet.
Jüngst hatte Valdez in einem Interview jemanden zu Wort kommen lassen, der gegen die Söhne Chapos um die Macht in der Organisation kämpft. War das der Grund für seine Hinrichtung? Die Wahrheit wird möglicherweise nie ans Licht kommen. Oft ist es ein falsches Wort, ein falscher Satz zur falschen Zeit, der einem Journalisten den Kopf kosten kann. Darüber hat sich Valdez nie Illusionen gemacht und dennoch immer weiter recherchiert. Mit ihm, so schrieb die Reporterin Marcela Turati, „wurde der bewundernswerteste und mutigste Journalist ermordet, einer, der uns vom Boden El Chapos aus gelehrt hat, wie man über die Drogenmafia berichtet“.
Laut „Reporter ohne Grenzen“ war Mexiko nach Syrien und Afghanistan 2016 das Land mit den meisten getöteten Journalisten.
Valdez zählte zu den Größten des mexikanischen Journalismus. Er hatte internationale Preise gewonnen und kannte die Codes der Mafia wie kein anderer. Sein Tod löste eine Protestwelle aus, die weiter anhält: In vielen Städten gingen Medienschaffende auf die Straße, auch in Spanien und Chile kam es zu Protesten, Vertreter der UNO sowie EU-ParlamentarierInnen klagten Aufklärung ein. 186 internationale Korrespondenten, die in Mexiko tätig sind, forderten von der Regierung, die Ausübung der Meinungsfreiheit zu garantieren und die Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Angesichts des massiven Drucks berief Präsident Enrique Peña Nieto zwei Tage nach dem Angriff auf Valdez eine Sondersitzung seines Kabinetts mit Gouverneuren aus mehreren Bundesstaaten ein. Es sei der Tag gewesen, an dem der Staatschef entdeckte, dass in seinem Land Journalisten getötet werden, merkte Turati zynisch an.
Erstmals trauerte Peña Nieto öffentlich um einen ermordeten Pressevertreter, obwohl mindestens 35 getötet wurden, seit er 2012 das Amt übernommen hat. Seit 2000 sind es nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 126, laut Reporter ohne Grenzen war Mexiko nach Syrien und Afghanistan 2016 das Land mit den meisten getöteten Medienschaffenden. Für praktisch keines der Verbrechen wurde jemand strafrechtlich verurteilt. Auch deshalb bezeichnete der Journalist Temoris Grecko die Schweigeminute, die Enrique Peña Nieto einlegte, als das „Schweigen der Komplizen.“
Gegen die hohe Straflosigkeit hatte die Regierung 2012 eine Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Pressefreiheit ins Leben gerufen, seit demselben Jahr existieren auch „Mechanismen zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten“. Beiden Einrichtungen hat Peña Nieto nun mehr Unterstützung versprochen. Zwischen 2014 und 2016 wurde das Budget der Sonderstaatsanwälte jedoch um die Hälfte gekürzt. Trotz zunehmender Angriffe. Die Konsequenz: Bei 743 Vorermittlungen gab es seit 2015 drei Verurteilungen. Die CNDH spricht von schweren Versäumnissen: Ermittlungen werden verschleppt, Journalisten diffamiert, Beweise nicht gesichert. Vor allem, wenn Übergriffe von Polizisten, Soldaten und anderen Sicherheitskräften ausgehen. „Sie reden mit politischen Diskursen auf uns ein, obwohl es eigentlich darum geht, die Straflosigkeit zu beenden“, resümiert Edgar Cortez vom Mexikanischen Institut für Menschenrechte und Demokratie.
Auch die Schutzmechanismen sind umstritten. Zwar unterstützen Menschenrechtsorganisationen etwa die Möglichkeit, dass bedrohte Journalisten ein Nottelefon bekommen. Doch kaum ein Reporter wird sich mit der angebotenen Begleitung von Polizisten auf eine Recherchereise begeben. Nicht nur, weil nach Angaben der Organisation „Artículo 19“ beispielsweise im vergangenen Jahr die Hälfte der Morde an Pressevertretern von staatlichen Kräften verübt wurden. Angesichts der korrupten Strukturen, in die Beamten aller dienstlichen Ebenen eingebunden sind, ist auch das Vertrauen in der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitskräften praktisch gleich Null. Niemand spricht offen mit einem Reporter, wenn dieser gemeinsam mit Polizeibeamten auftaucht.
Unabhängig von unzulänglichen staatlichen Maßnahmen stehen Medienschaffende vor einem zentralen Problem: Wo die organisierte Kriminalität, Polizisten, Staatsanwälte, Bürgermeister und Gouverneure eng kooperieren, können Journalisten nicht frei berichten. In Guerrero, Sinaloa und vielen anderen Bundesstaaten kommt die Macht aus den Gewehrläufen, ein Auftragskiller ist angesichts der armen Verhältnisse für wenige Pesos zu haben. Wie weit die verbrecherischen Bünde gehen, bringt ein Foto zum Ausdruck, das die spanische Zeitung „El País“ 2012 veröffentlichte. Es zeigt Peña Nieto im Kreis von 19 Gouverneuren, die seiner Partei PRI angehören. Die meisten von ihnen sind heute im Gefängnis, auf der Flucht oder es wird gegen sie ermittelt.
Javier Valdez wies auf diese Strukturen hin. Es gebe immer jemand im Apparat, der für die Kriminellen arbeite, und so mancher Mafiaboss werde nur vorgeblich von der Regierung verfolgt, sagte er in einem Interview, das nach seinem Tod in der Wochenzeitung „proceso“ erschien. „Die Mafia“, so der Schriftsteller, „ist eine Art zu leben und kein kriminaltechnisches Phänomen.“
Eine Art zu leben, in der nur die Gewalt regiert: In Tierra Caliente, wo Sergio Ocampo und seine Kollegen überfallen wurden, haben Unbekannte am letzten Donnerstag Salvador Adame Pardo verschleppt. Der Journalist betreibt in Nueva Italia einen Fernsehkanal. Vor seiner Entführung war er von Beamten geschlagen und kurzzeitig verhaftet worden, nachdem er eine Protestaktion gegen die Stadtregierung gefilmt hatte. Bis zum Redaktionsschluss der woxx fehlte von ihm jede Spur.