Piratepartei: Moralischer Schiffbruch

Die Piratepartei steuert geradewegs auf heftige Flügelkämpfe zu. Die Entscheidung, mit der ADR zusammenzuarbeiten, ruft nicht nur Kritik von außen auf den Plan.

Die Piraten Marc Goergen und Sven Clement bei ihrem ersten echten Einsatz im Parlament, dem Brexit-Hearing am vergangenen Dienstag. (Foto: Chambre des Députés)

„Ob ich mit Jeff Engelen oder möglicherweise Fred Keup in einer ‚Groupe technique‘ zusammenarbeiten will, möchte ich bezweifeln. Wir werden also eine ‚sensibilité politique‘ bleiben.“ – das sagte Parteipräsident und einer von zwei Abgeordneten der Piratepartei, Sven Clement, der woxx am 16. Oktober, dem Dienstag nach den Wahlen. Das Gespräch wurde mit Clements Zustimmung aufgezeichnet, die Aussage war also „on the record“. Er sprach sich darin deutlich gegen eine Zusammenarbeit in einer technischen Fraktion (frz. „groupe technique“) mit der ADR aus (woxx 1498). Exakt einen Monat später verkünden Piratepartei und ADR, dass sie die nächste Legislaturperiode in einer technischen Fraktion zusammenarbeiten werden. Was hat sich in diesem Monat geändert?

„Wir haben das Thema Fred Keup mit der ADR besprochen und haben eine zufriedenstellende Antwort bekommen. Jeff Engelen zählt zum Gewerkschaftsflügel. Allgemein geht es aber nicht darum, eine Bewertung der ADR vorzunehmen, denn es ist eine technische Gruppe, die keine einzelne politische Sichtweisen trifft. Die ADR dürfte die gleichen Bauchschmerzen mit unseren sogenannten linkspopulistischen Kandidaten haben“, antwortet der Generalsekretär und neben Clement der zweite Abgeordnete der Piratepartei, Marc Goergen.

Seit 1989 besteht die Möglichkeit, vom Parlament mehr Geld und Mitspracherecht in der Präsident*innenkonferenz zu bekommen, wenn Parteien zusammenarbeiten, die nicht auf die Fraktionsstärke von fünf Abgeordneten kommen. Damals bildeten neun Abgeordnete von vier Parteien ohne Fraktionsstatus eine technische Fraktion: ADR, KPL und die beiden grünen Parteien Gap und Glei (siehe woxx.eu/piraten). Zur politischen Einordnung muss allerdings beachtet werden, dass die ADR zu diesem Zeitpunkt noch mehr oder weniger eine Ein-Punkt-Partei war und noch nicht so weit nach rechts gerückt war, wie dies heute der Fall ist.

60.000 Euro im Jahr für die ADR

90.000 Euro erhält die technische Fraktion von ADR und Piratepartei im Jahr, laut reporter.lu gehen davon zwei Drittel an die ADR und ein Drittel an die Piratepartei. Die 30.000 Euro werden die Piraten vor allem zur Einstellung einer weiteren Person benutzen, um ihre politische Arbeit besser vorbereiten zu können. Dass man der rechtspopulistischen ADR zu zusätzlichen 60.000 Euro und mehr Redezeit verhilft, bereitet Goergen jedoch keine Bauchschmerzen: „Jeder profitiert gemäß seinem Wahlresultat, so wie das auch bei der Parteienfinanzierung ist. Dann dürften wir auch nicht bei der nächsten Abstimmung die Parteienfinanzierung mittragen.“ In ihrem Wahlprogramm forderte die Piratepartei, die Parteienfinanzierung zu reformieren und die Konten von Fraktionen strikt von denen ihrer Parteien zu trennen.

Eine technische Fraktion hat zusätzlich zu den Mehreinnahmen den Vorteil, dass den Abgeordneten mehr Redezeit zur Verfügung steht. Ein*e Koordinator*in ersetzt den Posten des*der Fraktionspräsident*in und vertritt beide Parteien in der Präsident*innenkonferenz. Auch in die Geheimdienst-Kontrollkommission darf die technische Fraktion eine Person entsenden. Hier wird ebenfalls proportional zum Wahlresultat aufgeteilt: Die ersten zwei Drittel der Zeit stehen der ADR zu, das letzte Drittel der Piratepartei.

Im Oktober hatte die woxx Sven Clement auch auf die Möglichkeit einer technischen Fraktion zwischen ADR, Déi Lénk und Piratepartei angesprochen. Der gab daraufhin zu, noch nicht an diese Option gedacht zu haben, hielt es jedoch für realistischer, da in dieser Konstellation „die Balance zwischen rechts und links besser gewahrt wäre“. Warum es nicht einmal zu Verhandlungen dazu kam, weiß die Piratepartei selbst nicht: „Wir haben die Gespräche nicht begonnen. Wir wissen nicht, warum die ADR nicht auch Déi Lénk gefragt hat“, so Goergen.

Als Ende März bekannt wurde, dass die Piratepartei gemeinsam mit der vom Ex-ADRler Jean Colombera gegründeten Pid zu den Wahlen antreten würde, wussten viele Parteimitglieder davon nichts, bis sie es in den Medien lasen. Was innerhalb einer Partei, die sich selbst „Transparenz“ auf die Fahnen geschrieben hat, nicht besonders gut ankam. Dieses Mal ging kurz vor der offiziellen Pressemitteilung eine E-Mail vom Präsidium an die Mitglieder, von denen sich dennoch einige überrumpelt fühlten. Die E-Mail-Liste, über die Diskussionen in der Partei geführt werden, ist auch für Nicht-Mitglieder einsehbar. Sie offenbart, dass die Frage – und die Art und Weise, wie sie entschieden wurde – die Partei ziemlich spaltet.

„Sind wir jetzt rechts?“

„Sind wir jetzt rechts?“ lautet der Titel einer E-Mail, in der sich ein Mitglied über die Entscheidung, mit der ADR in einer technischen Fraktion zusammenzuarbeiten, aufregt: „Die ADR ist in keinster Weise, auch nicht mit den Vorteilen durch die technische Fraktion, mit der Piratenpartei kompatibel.“ Andere Mitglieder berichten davon, von enttäuschten Wähler*innen oder Freund*innen kontaktiert worden zu sein. Andy Maar, Kandidat im Norden, der auch beim letzten Parteikonvent Unmut zu manchen Entwicklungen der Piratepartei geäußert hatte, sprach sich auf Facebook öffentlich gegen die Zusammenarbeit mit seiner Ex-Partei ADR aus: „Nach diesem Wahlkampf und dieser Aktion braucht die Partei dringend ein Reboot und wieder klare Linien.“

Auf der Piraten-Mailingliste war sein Statement länger – er gab an, Verständnis für die Vorteile der technischen Fraktion zu haben, die Partei müsse sich jedoch Sorgen um ihr Ansehen machen: „Es gab Zeiten, da hatten andere Parteien und die Menschen Respekt vor unserer selbstproklamierten Integrität, und wir sind auch angetreten, damit sich andere ein Beispiel daran nehmen. Heute werden wir von vielen hauptsächlich auf Luxemburg Privat und andere Fauxpas reduziert.“ Maar sagt auch, dass die Entscheidung von der „Fraktionsversammlung“ statt von der Parteileitung hätte gefällt werden müssen. Dieses Gremium hatte die Partei beim Konvent vor den Parlamentswahlen geschaffen.

„Wir haben die emotionale Auswirkung unterschätzt. Hätten wir das gewusst, hätten wir einen Kongress für diese Entscheidung einberufen. Bis jetzt ist dies nur von der Parteileitung diskutiert worden. Im Januar 2019 wird ein neues Präsidium gewählt, dem es frei steht, einen Kongress zu der Frage einzuberufen“, antwortet Goergen der woxx.

Ahoi Flügelkämpfe!

Auch Sven Clement versuchte per Mail, die Basis zu beruhigen und seine Entscheidung zu erklären. Dabei griff er aber auch seine Kritiker*innen an und beschwerte sich, dass bisher niemand sich gemeldet hätte, um bei der parlamentarischen Arbeit zu helfen und zum Beispiel Anfragen an die Minister*innen zu schreiben. „Über die Außenwahrnehmung kann man streiten, aber da sind dann auch einige Mitglieder Schuld, die diese rein technische Entscheidung kritisiert haben.“

Marc Goergen ist sich der Tragweite, die dies für die Partei haben könnte, durchaus bewusst: „Das Thema könnte größer werden und neben den EU-Wahlen für viel Diskussion sorgen. Aber auch das gehört zur internen Demokratie.“ Sven Clement hat angekündigt, nicht mehr als Parteipräsident antreten zu wollen. Wer ihm nachfolgen könnte, ist unklar. Bei der Wahl wird sich ein Flügelstreit zwischen „Fundis“ und „Realos“ kaum vermeiden lassen. Doch Bereits im Dezember ist ein Kongress zu den EU-Wahlen angesetzt. Im Raum steht ein weitreichender Antrag Andy Maars, der eine „Republik Europa“ fordert. Ob die Piratepartei, deren gesamte Strategie auf einem opportunistischen Pragmatismus beruht, mit solchen Utopien in den EU-Wahlkampf starten will, ist fraglich. Und ob die Wähler*innen es ihr in fünf Jahren verziehen haben werden, dass sie der rechtspopulistischen ADR zu einer größeren Plattform und mehr Geld verholfen hat, ebenfalls.

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Textes (und in der Printversion) wurde Andy Maar als Spitzenkandidat im Norden bezeichnet. Er war dies 2013, nicht jedoch 2018. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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