Trauerarbeit und Minderjährige: „Trauer verschwindet nicht, weil man sie ignoriert.“

Die „Trauerwalliss“ von „Omega 90“ gibt Anhaltspunkte für den unmittelbaren Umgang mit Trauerfällen in der Schule oder Betreuungsstrukturen für Kinder und Jugendliche. Ein Gespräch mit der Psychologin Martine Hentges über Tod und Tabu, unnötige Schutzmaßnahmen und die Sprachen der Trauer.

Zur Person: 
Martine Hentges ist Psychologin. Bei „Omega 90“ begleitet sie vorwiegend Kinder und Jugendliche bei der Trauerarbeit. 
(Fotos: Omega 90)

woxx: Frau Hentges, der Kinder- und Jugendservice von „Omega 90“ besteht seit vielen Jahren. Das Konzept der „Trauerwalliss“ in Schulen und Institutionen im Bereich der Kinder- und Jugendbetreuung ist neu. Worin besteht der Vorteil des Koffers?


Martine Hentges: Der Inhalt des Koffers – didaktisches Material, Raumgestaltungsutensilien, Bücher – ist auf den Einsatz in den entsprechenden Infrastrukturen zurechtgeschnitten. Es bestand eine konstante Nachfrage, die Idee gab es schon länger. Unser Team hat nicht die Möglichkeit, in Notsituationen sofort vor Ort zu sein. Die Kommunikation läuft telefonisch. Mit dem Koffer geben wir dem Personal etwas Konkretes an die Hand, das es unmittelbar vor Ort einsetzen kann.

Es gibt eine Variante für Kinder und eine für Jugendliche. 


Genau. Sie unterscheiden sich aber nur in puncto Buchauswahl.

Was sind wesentliche Elemente, die bei der Trauerarbeit mit Kindern und Jugendlichen beachtet werden sollten?


Man muss ihnen die Möglichkeit geben, sich in Momenten der Trauer an eine oder mehrere Vertrauenspersonen in der Schule oder in der Institution zu wenden. Es ist wichtig, dass sie wissen, dass sie nicht alleine sind. Das Kommunizieren darüber kann diskret sein – beispielsweise in Form einer Notiz auf einer Klausur. Wenn es sich um einen Todesfall innerhalb der Familie eines Kindes oder Jugendlichen handelt, kann die Lehrkraft oder die Betreuungsperson vor der Rückkehr der Betroffenen das Gespräch mit den anderen Kindern suchen. Man kann gemeinsam darüber nachdenken, wie man der Person Rückhalt signalisiert.

Wie gehen Kinder und Jugendliche untereinander mit Trauer um?


Jugendliche sprechen meistens mit Freunden oder Gleichaltrigen. Kinder tendieren meist dazu, nicht anders sein zu wollen als andere Kinder. In unserer Kindertrauergruppe „Reebou“ wissen die Kinder, dass sie nicht anders sind, und fühlen sich verstanden. Sie wissen, dass andere das gleiche Schicksal teilen und können sich leichter öffnen und über ihre Gefühle sprechen.

Wie präsent ist Tod als Thema in der Schule? 


Die Tendenz geht dahin, dass das Personal das Thema oft vermeidet. Es kommt meistens nur situationsbedingt auf. An den Schulen existieren jedoch passende Anlaufstellen, wie der „Service psycho-social et d’accompagnement scolaires“. Handelt es sich um Todesfälle, die die gesamte Schulgemeinschaft betreffen, ist nach der Bekanntmachung nur nach Anfrage der Schule die „Groupe de support psychologique“ vor Ort. In einem zweiten Schritt kann die „Groupe d‘accompagnement psychologique“ zurate gezogen werden.

Spiegelt die Tendenz, die Sie angesprochen haben, die grundsätzliche gesellschaftliche Haltung in Bezug auf den Umgang mit Minderjährigen und dem Tod?


Wir erleben immer wieder, dass Familien in Trauer Fragen stellen wie: Sollen wir die Kinder mit zur Beerdigung nehmen? Ist es gut, wenn die Kinder die Verstorbenen vor der Beerdigung nochmal sehen? Es ist verständlich, dass Erwachsene die Kinder schützen wollen. Doch es ist im Endeffekt schlimmer, ihnen die Realität vorzuenthalten.

Sprich, sie vor der Auseinandersetzung mit dem Tod zu bewahren?


Ja, die Ungewissheit über das, was beim Tod passiert, wiegt für Kinder oft schwerer als die Realität. Es ist wichtig, den Tod auch vor Kindern zu benennen, anstatt ihn mit Formulierungen wie „Gott hat sie oder ihn zu sich genommen“ oder „Er ist auf ewig eingeschlafen“ zu umschreiben. Das Nicht-Benennen kann bei Kindern Fantasien hervorrufen, die sie schlimmstenfalls zutiefst verängstigen: Sie malen sich beispielsweise aus, dass auch sie morgens nicht mehr wach werden könnten oder Gott sie holt.

Wie viel kann und sollte man Kindern zumuten?


Das variiert von Kind zu Kind. Man sollte sich nach den Bedürfnissen der Kinder richten und entsprechend darauf reagieren. Basisinformationen, wie etwa die eigentliche Todesnachricht, sollte man dem Kind auf jeden Fall offen überbringen. Wenn das Kind Abschied von den Verstorbenen nehmen oder an der Beerdigung teilhaben will, sollte man ihm die Möglichkeit geben – es vorbereiten und es dabei begleiten. Es hilft auch gemeinsam über das zu sprechen, was einem selbst in Momenten der Trauer Trost spendet.

Wie verhält man sich den Kindern gegenüber am besten in solchen Situationen?


Ich denke, Authentizität ist besonders wichtig. Man braucht seine eigenen Gefühle vor Kindern nicht zu verstecken oder sie zu überspielen. Man sollte aber immer noch ein gewisses Maß an Sicherheit und Orientierung darstellen. Kinder haben in der Regel weniger Berührungsängste als Erwachsene, was das Thema betrifft – und sie merken ohnehin, wann man sie für voll nimmt und wann man ihnen etwas vormacht.

Inwiefern unterscheidet sich der Umgang mit dem Tod nach Altersgruppe?


Das eigene Konzept des Todes entwickelt sich mit den Jahren. Ein fünfjähriges Kind versteht unter Umständen nicht, was der Tod bedeutet. Dafür fehlen ihm die kognitiven Fähigkeiten. Es kann das Konzept der Endlichkeit nicht fassen, auch nicht das seiner eigenen. Die „Trauerwalliss“ enthält deshalb unter anderem ein didaktisches Handbuch, das die Entwicklung des Todesverständnisses grob nach Alterskategorie beschreibt. Natürlich immer im Hinblick darauf, dass jeder Trauerprozess individuell ist.

In der Pressemitteilung zur „Trauerwalliss“ ist von präventiven Maßnahmen die Rede. Prävention klingt in dem Kontext ein bisschen absurd.


Es ist klar, dass jeder Todesfall eigen ist. Die präventive Arbeit kann aber darin bestehen, dass man das Thema unabhängig von einem konkreten Vorkommnis bespricht. Man kann sich Inhalt und Aufbau der „Trauerwallis“ durchlesen und sich Wissen aneignen. Studien zeigen, dass wenn man sich präventiv mit der Situation auseinandergesetzt hat, man meist weniger Verarbeitungsschwierigkeiten hat. Man kann sich Kinder- und Jugendbücher oder Geschichten aussuchen, die man in einer Trauersituation mit der Gruppe lesen könnte. Besonders wichtig ist auch, dass man sich mit eigenen Trauererfahrungen auseinandersetzt und die Verarbeitung nicht aufschiebt. Letztere können in Notsituationen wieder akut auftreten und einen vereinnahmen. Trauer verschwindet nicht, weil man sie lange genug ignoriert.

Würden Sie sagen, dass die Gesellschaft heute öfter dazu neigt, Tod und Trauer zu verdrängen als früher?


Früher trug man bei Trauerfällen schwarz. Es nahmen in der Regel mehr Menschen an Beerdigungen teil. Viele Menschen starben zu Hause oder wurden dort aufgebahrt. Der Tod ist ständig Thema, aber gleichzeitig auch nicht.

Wie meinen Sie das?


Disneyfilme, Pippi Langstrumpf, die Märchen der Gebrüder Grimm, Computerspiele – in Geschichten oder Spielen wird der Tod wiederholt aufgegriffen. Trotzdem ist es nach wie vor ein Tabu. Ich spreche aus der Sicht von Kindern, wenn ich sage: Der Tod ist omnipräsent, aber zwischen Erwachsenen und Kindern wird selten offen darüber gesprochen. Es gibt in dem Kontext eine große Hemmschwelle. Es ist ein Widerspruch unserer Gesellschaft.

Interessant ist auch, dass jeder Kulturkreis anders trauert. 


In konkreten Einzelfällen lohnt es sich, auf die vorhandenen Kulturkreise innerhalb der betroffenen Gemeinschaft zu achten und im Zweifelsfall mit den Eltern und den Kindern Rücksprache über bestimmte Traditionen und Rituale zu halten.

Die „Trauerwalliss“ ist auf Deutsch und Französisch konzipiert. Spielen Sprachbarrieren bei der Trauerarbeit mit Kindern und Jugendlichen hierzulande eine Rolle?


Wir haben den Großteil des Materials auf Deutsch ausgearbeitet. Manche der beigelegten Bücher sind in französischer Sprache. Wir wollen abwarten, ob Bedarf an Übersetzungen in weitere Sprachen besteht. Es ist in jedem Fall wichtig, dass man seinen Gefühlen in solchen Momenten Ausdruck verleihen kann und die angebotenen Hilfestellungen verständlich sind.

Die „Omega Trauerwallis“ wurde vom „Kanner- a Jugendservice“ von „Omega 90“ ausgearbeitet und gestaltet. Schulen und andere Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, können diese ab sofort bei „Omega 90“ bestellen. Der Preis beträgt 250 Euro.


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