Über Susan Sontag: Die ungemütliche Ikone

Als 25-Jährige trifft Sigrid Nunez auf die amerikanische Essayistin und Autorin Susan Sontag. Mit „Sempre Susan“ hat sie ein Erinnerungsbuch über diese Zeit geschrieben.

Präzise Beobachterin mit analytischem Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge: die Schriftstellerin und Sontag-Chronistin Sigrid Nunez. (Foto: Ralph Small/Library of Congress/CC0 1.0)

Es war das Jahr 1976. Susan Sontag hatte gerade eine schwere Krebserkrankung überstanden und brauchte jemanden, der ihr bei ihrer Korrespondenz behilflich sein konnte. Mit 43 Jahren war die Schriftstellerin damals bereits ein fester Bestandteil des intellektuellen Lebens in den Vereinigten Staaten und entsprechend gefragt. Sie hatte mehrere Romane und Essays veröffentlicht und sich auch als Filmemacherin etabliert. Die 18 Jahre jüngere Sigrid Nunez arbeitete nach abgeschlossenem Studium als Verlagsassistentin beim „New York Review of Books“ und suchte nach einem Job, der ihr genug Zeit lassen würde, um sich nebenbei ihren eigenen Manuskripten zu widmen. Ein Kollege stellte den Kontakt zu Sontag her. Die war Nunez ein Begriff; sie kannte sie als öffentliche Intellektuelle, nicht jedoch ihre Texte.

Sontag meldete sich oft zu Wort, war engagiert und kritisch, und machte sich nicht viel aus Konventionen. Als 17-Jährige heiratete sie den Soziologen Philip Rieff, mit dem sie zwei Jahre später ihren einzigen Sohn David bekam, Mitte Zwanzig ließ sie sich scheiden und lebte in den Jahren danach sowohl mit Männern als auch mit Frauen zusammen. Aus der vorübergehenden Zusammenarbeit zwischen Sontag und Nunez sollte bald ein fast familiäres Verhältnis werden, nachdem Nunez eine Beziehung mit Sontags Sohn David Rieff eingegangen war. Fortan lebte das Trio ein Jahr lang zusammen in einem spärlich eingerichteten Apartment an der New Yorker Upper-West-Side. Nunez berichtet, dass viele hinter diesem Arrangement eine Ménage-à-trois vermuteten und es sagt einiges über Sontag und ihren Ruf aus, dass man ihr das wohl durchaus zutraute.

„Ungemütlich“, dieses Wort benutzt Nunez, um Sontags Wohnung zu beschreiben, sogar im englischen Original verwendet sie den deutschen Begriff. Natürlich ist dies ein Sinnbild, denn in dem geschilderten Heim spiegelte sich Sontags Wesen wider: Auch sie war ungemütlich, oft schroff und grundlos unfreundlich, selbstbezogen, widersprüchlich. Sie sah sich selbst als Feministin, gleichzeitig genügten die meisten Frauen ihren Ansprüchen nicht. Den modernen Feminismus empfand sie als „naiv, sentimental und anti-intellektuell“.

In ihrem Apartment gab es weder Teppiche noch Vorhänge, keine Familienfotos, die Wände waren weiß und nackt, auf dem Fernseher lag eine Zange, die Sontag dazu benutzte, um an dem defekten Gerät die Programme zu wechseln. Sontag nahm den ganzen Raum ein. Sie war brillant und ihre Meinungen waren absolut, ihre Urteile oft vernichtend. Und trotzdem brauchte sie ständig Gesellschaft, jemand der ihr zuhörte, sogar an ihren Manuskripten arbeitete sie vorzugsweise mit Publikum. Nunez schildert, wie die 43-jährige Autorin sich abends, nach der Rückkehr von einem Essen mit Freunden, noch zu ihr und Rieff ins Schlafzimmer setzte und dann stundenlang dozierte.

Sontag konnte aber auch großzügig und gesellig sein, ehrlich Anteil nehmen am Leben ihres Gegenübers, gleichzeitig stellte sie die Menschen um sich herum ständig auf die Probe: Sie nahm Einladungen zu öffentlichen Lesungen und Lehrveranstaltungen an, absolvierte diese dann missmutig, weigerte sich aus dem angekündigten Werk zu lesen und konfrontierte stattdessen jene, die gekommen waren, um die Essayistin zu hören, mit langen und schwer zugänglichen Kurzgeschichten. In ihren Fünfzigern wirkte sie dann nicht nur provokativ, sondern zum Teil verbittert. Ihr eilte der Ruf voraus, ein Monster zu sein.

Nunez fühlte sich geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die Sontag ihr zuteil werden ließ, aber zunehmend auch erdrückt, zumal sie als angehende Schriftstellerin für ihre Mentorin nicht nur Bewunderung hegte. Sie war fasziniert von den Essays, von ihren mutigen Stellungnahmen, aber fand keinen Zugang zu ihrer Prosa.

Mit „Notes on Camp“ wurde Sontag 1964 berühmt, doch sie selbst sah sich in erster Linie als Novellistin und wünschte sich, den großen amerikanischen Roman zu schreiben. Nunez erzählt nicht nur private Episoden aus ihrem Zusammenleben mit Sontag, sondern gibt auch Einblicke in deren literarisches Schaffen. „I care about every comma“, lautet ein berühmtes Zitat von Sontag. Sie bewunderte den europäischen Geist und Autor*innen wie Italo Calvino, Peter Handke, Stanislaw Lem. Wenig anfangen konnte sie mit ihren Landsleuten und Zeitgenossen John Updike oder Philip Roth. Es berührte sie nicht, wenn jemand schrieb, wie er sprach. Nunez mutmaßt, dass es auch ein Zeichen der Unsicherheit war, wie stark Sontag ihren Stil kontrollierte und wie wenig sie ihrer eigenen Stimme vertraute. Sontag selbst war der Meinung, dass ihr das Gespür für Details fehlte und ihre Prosa deshalb ihren Ansprüchen nicht genügte. „Caress the divine details“, schrieb Nabokov.

Das kann Nunez dafür umso besser, die eine präzise Beobachterin ist. Sie schildert, wie Sontag ihrem Sohn David gelegentlich die verschmierte Brille von der Nase nahm, um sie unter dem Wasserhahn abzuspülen und sie ihm dann wieder aufzusetzen. Diese Geste sei das „Mütterlichste“ an Sontag gewesen, die ihrer Mutterrolle eine große Bedeutung zumaß, aber darauf bestand, diese auf ihre ganz eigene Art auszufüllen. Mit zehn zündete David seiner Mutter die Zigaretten an, damit diese die Arbeit an ihrem Manuskript nicht unterbrechen musste. Der Sohn nannte Sontag übrigens niemals „Mutter“, sondern immer nur „Susan“. Sempre Susan.

Stark und streitbar: Susan Sontag (fotografiert von 
Lynn Gilbert) im Jahre 1979. (Foto: Wikimedia/CC BY 4.0)

Hin und wieder fragt man sich beim Lesen, ob es Susan Sontag wohl recht gewesen wäre, dass ihr Hausgast Jahre nach ihrem Tod diese privaten Einblicke mit der Welt teilt. Besonders da diese nicht immer schmeichelhaft sind. Hier liegt auch eine der Schwächen des Memoirs: Nunez’ Beschreibungen sind stellenweise redundant. Wenn man Sontags komplexes Wesen einmal erfasst zu haben glaubt, dann bringen die folgenden Episoden keine neuen Erkenntnisse mehr, sondern variieren lediglich Bekanntes. Widersprüchlich ist auch, dass Nunez’ sich erstaunt darüber zeigt, wie schlecht manche über Sontag redeten, wie viele Feinde sie hatte – nur um wenige Seiten später darauf hinzuweisen, wie gnadenlos Sontag mit ihren Freunden umging, wie oft sie ganz bewusst Hotelangestellte oder Kellner*innen bloßstellte und verletzte, nur um ihre Überlegenheit zu zeigen. Sicherlich ahnte Sonntag aber, welches Risiko sie einging, als sie sich eine angehende Autorin als Freundin für ihren Sohn aussuchte. Denn es war Sontag selbst, die Nunez und ihren Sohn David verkuppelte.

Nunez fühlte sich geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die Sontag ihr zuteil werden ließ, aber zunehmend auch erdrückt, zumal sie als angehende Schriftstellerin für ihre Mentorin nicht nur Bewunderung hegte.

Dieses Kräfteverhältnis hat sich auch Jahrzehnte später nicht verändert: Nunez mag die Autorin dieses Buches sein, aber die Handlung bestimmt Sontag, so wie sie auch immer wieder in das Leben ihrer Mitmenschen eingriff. In „Sempre Susan“ geht es deshalb auch um zwei sehr unterschiedliche Arten, Frau und Autorin zu sein. Nunez bleibt im Hintergrund, sie beobachtet („I am a camera“, wie es schon der Schriftsteller Christopher Isherwood pointierte) und zeichnet auf, während Sontag dafür sorgt, dass es etwas zu erzählen gibt.

Eine Dynamik, die auch Sontag selbst in ihrer Monografie „On Photography“ (1977) herausarbeitete. Und es erklärt vielleicht auch, warum sich zeitlebens immer Menschen zu ihr hingezogen fühlten, trotz ihrer schwierigen Art. Sie war wenigstens nicht langweilig. „Langweilig“ war einer der Begriffe, die sie offenbar häufig benutzte. Sie war enttäuscht über ihren langweiligen Vornamen, sie empfand die Kindheit als langweilige Zeitverschwendung, sie warnte Nunez davor, dass ihre Tendenz sich zurückzuziehen und sich den gesellschaftlichen Konventionen anzupassen, sie am Ende noch zu einer langweiligen Zeitgenossin machen würde.

Heute ist die 71-jährige Nunez selbst eine bekannte Autorin, wenn auch weniger polarisierend und streitbar als Sontag. Keine Ikone oder Meinungsmacherin. Ihr größter Erfolg ist der Roman „The Friend“ aus dem Jahr 2018, für den sie den „National Book Award“ gewann und der für zahlreiche andere literarische Auszeichnungen nominiert war. In diesem Werk beschreibt sie den Trauerprozess einer Frau, die nach dem Freitod eines Freundes dessen riesige dänische Dogge bei sich in ihrem kleinen New Yorker Apartment aufnimmt. Auf den ersten Blick kein übermäßig spannendes Thema, aber ihre Erzählweise, die zurückhaltend und behutsam ist, entwickelt einen eigentümlichen Sog, sodass man das Buch kaum zur Seite legen kann.

Einer ihrer Romane erlangte dieses Jahr übrigens unverhoffte Aktualität. In „Salvation City“ aus dem Jahr 2010 beschreibt sie den Ausbruch einer globalen Pandemie aus der Sicht eines Jugendlichen, der durch die Krankheit seine Eltern verliert und in einer religiösen Gemeinschaft aufgenommen wird. Das Lesen dieses Buches lohnt sich schon allein für das mulmige Gefühl, das sich einstellt, wenn man feststellt, wie sehr die hier entworfene Handlung sich mit der aktuellen Lage überschneidet. Maskenverweigerer kommen ebenso vor, wie radikale Evangelikale und der „elbow bump“. Das Werk beweist, dass es also durchaus möglich gewesen wäre, sich auf das, was wir gerade erleben, wenigstens teilweise vorzubereiten. Und es bestätigt, wie genau Nunez gesellschaftliche Zusammenhänge analysieren kann.

„Sempre Susan“, das im englischen Original bereits 2011 erschien und erst jetzt in der von Anette Grube besorgten deutschen Übersetzung veröffentlicht wurde, maßt sich nicht an, einen allgemeinen Überblick über Sontags Wesen und Werk zu geben. Unter Umständen kann man dem Memoir auch vorwerfen, dass Sontags Intelligenz und ihre gesellschaftliche Bedeutung weniger Beachtung finden als ihre Idiosynkrasie. Wer sich umfassender informieren möchte, kann zu „Sontag: her Life and Work“ greifen, der sehr ausführlichen, aber weit weniger zugänglichen Biografie von Benjamin Moser, die dieses Jahr mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde. Für all jene, die die Auseinandersetzung mit Susan Sontag beginnen wollen, sind Nunez’ Erinnerungen jedoch ein guter Ausgangspunkt.

Sigrid Nunez: Sempre Susan – 
Erinnerungen an Susan Sontag. 
Ins Deutsche übersetzt von Anette Grube. Aufbau Verlag, 141 Seiten.

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