Keine Lebensmittel, keine Medizin – längst ist in Venezuela die Grundversorgung nicht mehr garantiert. Trotzdem konnten die regierenden Sozialisten die Wahlen gewinnen. Manipulationsvorwürfe blieben unbewiesen, doch selbst Chavisten kritisieren den Klientelismus des Maduro-Regimes.
Keine Schmerzmittel, keine Blutkonserven, keine Medikamente für die Chemotherapie – jeden Tag, an dem er zur Arbeit geht, erhält Gabriel Romero von seinen Kollegen die gleichen Antworten: „Haben wir nicht“, „Ist gerade nicht vorrätig“, „Gibt es nicht.“
In der Krebsklinik Luis Razetti fehlt es an allem. „Wie soll ich unter solchen Umständen noch Patienten behandeln?“, fragt sich der Arzt. Gestern etwa habe er stundenlang auf sterile Handschuhe für Operationen gewartet. „Wir konnten deshalb nur drei anstatt zehn Personen operieren“, erzählt der Onkologe, während er durch die langen Flure des Krankenhauses läuft. Hunderte Patienten kommen jeden Tag in die in Caracas gelegene Klinik. Dutzende Männer und Frauen sitzen in den Gängen und blicken den Doktor hoffnungsvoll an. Kann er ihre Krankheit heilen? Kann er zumindest ihr Leiden lindern?
Doch Romero und sein Team sind selbst verzweifelt. Ständig müssen sie aufs Neue improvisieren, damit zumindest die Hoffnung nicht stirbt. Viele haben nur eine Chance auf Heilung, wenn sie die nötigen Medikamente im Nachbarland erwerben können. „Wenn Patienten mit Darmkrebs kommen, müssen wir ihnen empfehlen, nach Kolumbien zu fahren“, berichtet die Ärztin Diana Reida. Nur wenn die Kranken die nötigen Dollars für die Arznei hätten, könne sie behandeln. Aber viele seien so arm, dass sie nicht an Dollars kämen, sagt die Onkologin. „Die müssen zuschauen, wie der Krebs langsam voranschreitet und werden einfach sterben.“
So wie hier sehe es im gesamten Gesundheitssystem aus, kritisiert Doktor Romero. Die Zahlen bestätigen das: Fast die Hälfte aller Operationssäle der öffentlichen Krankenhäuser ist geschlossen. Laut der Weltgesundheitsorganisation fehlen in Venezuela zwei Drittel der nötigen Medikamente. Und das Gesundheitsministerium ließ jüngst wissen, dass die Müttersterblichkeit allein zwischen 2015 und 2016 um 65 Prozent und die der Kinder um ein Drittel gestiegen ist.
Dabei sollten zahlreiche Reformen einst dafür sorgen, dass die arme Bevölkerung über genügend Ärzte, Medizin und Krankenhäuser verfügt. Die Mission „Barrio Adentro“ schuf unter der Regierung des 2013 verstorbenen Staatschefs Hugo Chavez 6.000 Gesundheitszentren, in denen umsonst behandelt wurde. Davon ist wenig geblieben: Nach Angaben der Medizinischen Föderation Venezuelas wurden vier von fünf dieser Stationen dichtgemacht, weil Personal und Instrumente fehlen.
Astronomische Inflation
Nicht besser sieht es mit der Nahrungsversorgung aus. Grundlegende Lebensmittel sind in den Ladenregalen nicht mehr zu finden: Bohnen, Reis, Milch, Maismehl. Auch Toilettenpapier und Tampons sind Mangelware. Sollte es die Produkte doch einmal geben, gilt es stundenlang anzustehen. Und das heißt, in dieser Zeit nicht arbeiten zu gehen, was sich viele kaum leisten können. Wer über das nötige Geld verfügt, kann sich die Waren zum zehnfachen Preis beim Schwarzhändler auf der Straße kaufen. Doch angesichts einer Inflationsrate von über 700 Prozent ist das für die meisten unerschwinglich.
Experten gehen davon aus, dass eine Familie zum Überleben monatlich eine Million Bolivar – etwa 250 Euro – braucht. Der durchschnittliche Verdienst beträgt jedoch nur etwa ein Zehntel hiervon. Krebsarzt Romero verdient das Doppelte. „Aber auch nur, weil ich am Nachmittag noch in einem privaten Krankenhaus tätig bin“, wie er sagt.
Zwar verkauft die Regierung über das Ernährungsprogramm CLAP einmal im Monat Essenstüten zu subventionierten Preisen. Doch auch das lindere die Not nur begrenzt, erklärt Pfarrer Alfredo Infante. Der Jesuit arbeitet in einem Projekt der katholischen Kirche im Armenviertel La Vega, das auf einem der zahlreichen Hügel von Caracas liegt. 1.200 Kinder gehen in den Gebäuden der Kirchengemeinde San Albert Hurtado zur Schule. Die älteren lernen, die jüngeren spielen, singen und tanzen. Die Kirche bietet ihnen ein Mittagsmahl. „Für manche der Kleinen ist es das einzige, was sie zu essen bekommen“, erklärt Infante.
Auch hier sprechen die Zahlen für sich: Das Venezolanische Gesundheitsobservatorium (OVS) sowie drei Universitäten des Landes haben errechnet, dass die Einwohnerinnen und Einwohner 2016 aufgrund der rasenden Geldentwertung und des Nahrungsmittelmangels im Durchschnitt acht Kilo Gewicht verloren haben. „Wir gehen davon aus, dass es dieses Jahr noch mehr sein wird“, ergänzt der OVS-Ernährungswissenschaftler Pablo Hernández. Immer weniger Menschen hätten Zugang zu Fleisch, Fisch, Milch und „Arepas“, jene Maisfladen, die eigentlich in keinem Haushalt Venezuelas fehlen dürfen.
Verzweifelte wühlen in den Mülleimern nach Essensresten, Menschen sterben, weil die Medikamente fehlen – was ist passiert in dem Land, dessen linke Regierung sich wie kaum eine andere das Wohl der verarmten Bevölkerung auf ihre Fahnen geschrieben hatte? Seit der Ölpreis auf dem Weltmarkt um die Hälfte gesunken ist, fehlen dem erdölexportierenden Venezuela die Devisen. Sowohl Chavez als auch sein amtierender Nachfolger Nicolás Maduro hielten an einer Wirtschaftspolitik fest, die fast ausschließlich auf den Verkauf des schwarzen Goldes ausgerichtet war. Folglich fehlen nun die Dollars, um die Sozialsysteme zu finanzieren.
Hausgemachte Probleme
Auch die Kapazitäten, selbst Lebensmittel und Medizin herzustellen, sind gesunken. Der Leiter der Menschenrechtsorganisation „Provea“, Rafael Uzcáteguí, verweist auf Fehler, die bereits zu Chavez‘ Zeiten begangen worden seien. Der produktive Sektor sei fast verschwunden, also auch Firmen, die Nahrung und Arznei produzierten. „Das ist auf Entscheidungen zurückzuführen, die die Regierung gefällt hat, als wegen des hohen Ölpreises noch viel Geld in der Staatskasse war“, erläutert Uzcátegui. Damals habe man alles im Ausland gekauft, um populistische Projekte durchführen zu können und so die Armutsbevölkerung an die „Bolivarianische Bewegung“ zu binden.
Präsident Maduro will dagegen keinen Notstand erkennen. „Venezuela hält einen Weltrekord“, ließ er im April wissen, „es ist das Land mit der weltweit zweitbesten primären Krankenversicherung“. Und die Vorsitzende der ausschließlich von den Sozialisten besetzten Verfassungsgebenden Versammlung Delcy Rodriguez behauptet: „Hier gibt es keine humanitäre Krise, sondern nur Liebe.“
Über solche abstrusen Verlautbarungen hinaus sind die Schuldzuweisungen eindeutig: Die privaten Unternehmen hätten einen Wirtschaftskrieg angezettelt, um den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu destabilisieren, sagen jene, die der regierenden Sozialistischen Einheitspartei PSUV nahestehen. Unterstützt von ausländischen Mächten, in erster Linie von den USA, würden die Kapitalisten den Mangel gezielt provozieren. Mit dem gleichen Ziel habe das oppositionelle Parteienbündnis MUD zu Demonstrationen gegen die Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung aufgerufen, bei denen zwischen April und Juli 125 Menschen ums Leben gekommen sind.
Hunderttausende waren damals gegen die Installierung des umstrittenen Gremiums auf die Straße gegangen. Der aus Sozialdemokraten, Konservativen und Wirtschaftsliberalen zusammengesetzte MUD, der „Runde Tisch der Demokratischen Einheit“, hatte befürchtet, dass Maduro auf diesem Weg die Macht komplett an sich reißen will. Nicht zu Unrecht, wie sich schnell herausstellen sollte. Bei ihren ersten Sitzungen Anfang August beschloss die Versammlung, das vom MUD dominierte Parlament zu entmachten und die regimekritische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega abzusetzen.
Angesichts des weitverbreiteten Unmuts über das neu geschaffene Gremium hatten die Oppositionellen große Hoffnungen, bei den Regionalwahlen am 15. Oktober einen haushohen Sieg zu verbuchen. Umfragen versprachen 15 bis 18 der insgesamt 23 Gouverneursposten. Nur jeder Vierte, so informierten seriöse Meinungsinstitute, stünde hinter Maduro. Doch dann kam alles ganz anders. Schenkt man den offiziell verlautbarten Ergebnissen Glauben, haben 54 Prozent der Wähler der PSUV ihre Stimme gegeben, nur 45 Prozent unterstützten die Kandidaten des MUD. 18 Bundesstaaten werden künftig von PSUV-Politikern regiert, nur fünf von Gegnern des Regimes.
Umstrittene Wahlen …
Der Schock saß tief. Kaum hatte die Nationale Wahlbehörde (CNE) die Stimmen ausgezählt, erklärte der Wahlleiter des MUD, Gerardo Blyde, man werde das Resultat nicht hinnehmen. „Sie wissen, dass sie nicht die Mehrheit haben, und auch das Land und die Welt weiß das“, sagte er selbstbewusst. Die Skepsis gegenüber der CNE verwundert nicht. Spätestens seit dem Urnengang für die Verfassungsversammlung wittern Oppositionelle schnell Wahlbetrug. 8,1 Millionen Menschen sollen damals nach Angaben des CNE für das Gremium gestimmt haben. Das seien mehr Stimmen, als Maduros wesentlich beliebterer Vorgänger Chavez in seinen besten Zeiten erhalten habe, erklärte Inti Rodríguez von der Menschenrechtsorganisation Provea. „Das ist äußerst unglaubwürdig“. Die Firma Smartmatic, die den Wahlcomputer installiert hatte, sprach ebenso von Manipulationen. Sie habe mindestens eine Million Stimmen weniger gezählt.
Auch bei der Gouverneurswahl gab es bereits im Vorfeld Ungereimtheiten: So wurden kurzfristig Wahllokale in PSUV-Hochburgen verlegt, unabhängige Beobachter waren nicht zugelassen und auf den Listen befanden sich noch Oppositionskandidaten, die gar nicht mehr zur Wahl standen. Carlos Ocariz, der im bislang von der MUD regierten Bundesstaat Miranda gegen den PSUV-Konkurrenten unterlag, resümierte deshalb: „Wir sind mit einem absolut betrügerischen System konfrontiert.“ Kaum war das Ergebnis öffentlich, forderte auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, man müsse nun herausfinden, was tatsächlich passiert sei. Die Lima-Gruppe, ein Bündnis von zwölf lateinamerikanischen Staaten, klagte eine unabhängige Überprüfung ein.
Sicher würde eine erneute Zählung die vielen berechtigten Zweifel klären. Doch der MUD selbst blieb die Beweise für einen massiven Betrug schuldig. Auch innerhalb des Bündnisses war man sich nicht einig. So erklärte etwa Henri Falcón, der als MUD-Kandidat für den Bundesstaat Lara angetreten war, gleich nach seiner Niederlage: „Wir haben verloren. So einfach ist das, und das müssen wir akzeptieren.“ Einige Tage später sollte der Streit eskalieren. Vier der fünf MUD-Kandidaten, die zu Gouverneuren gewählt wurden, legten, wie vom Präsidenten gefordert, vor der Verfassungsversammlung ihren Eid ab. Für viele ihrer Mitstreiter kam das einem Verrat gleich, schließlich erkennen die Regimegegner das Gremium nicht an. „Maduro hat seine Opposition gefunden. Sie haben ihr Haupt gesenkt und ihre Wähler betrogen“, reagierte etwa der führende MUD-Politiker Henrique Capriles und erklärte seinen Austritt aus dem Bündnis.
Das einzige Ziel, das die im MUD vertretenen Parteien verbindet, ist die Absetzung Maduros. Umso erstaunlicher ist es, dass das Europaparlament der venezolanischen Opposition vergangene Woche den Sacharow-Menschenrechtspreis verliehen hat. Zumal sich die Fraktionen bereits vor den Wahlen gestritten hatten. Ein Teil setzte sich für einen Boykott ein, und das aus gutem Grund. 16 Kandidaten waren vorab verhaftet worden. Dem aussichtsreichen Capriles hatte die Regierung verboten anzutreten. Ohnehin hält sich der Spielraum für die Gouverneure in Grenzen. Sie unterstehen der Verfassungsgebenden Versammlung. Wer unter diesen Umständen an einer Wahl teilnimmt, argumentierten die internen Kritiker, affirmiere ein korruptes, totalitäres Regime.
Doch nicht nur die Spaltung spielte eine Rolle für das schlechte Abschneiden des Bündnisses. Die Unfähigkeit, die Versammlung zu verhindern, offenbarte die Schwäche des MUD. Weder massive Proteste noch politische Interventionen konnten den autoritären Durchmarsch der PSUV bremsen. Mit der Entmachtung des Parlaments hat das Regime den MUD auflaufen lassen, da dieser über die Präsenz im Abgeordnetenhaus hinaus über kein politisches Projekt verfügt. Was blieb, war Frust, der nicht zum Wählen animierte.
… zerstrittene Opposition
„Der MUD kann nicht mehr mobilisieren, er lag bereits im Sterben, und mit den Wahlen vom 15. Oktober ist er gestorben“, resümiert Nicmer Evans. Der kritische Chavist, der bis vor kurzem in der trotzkistischen Partei „Marea Socialista“ organisiert war, plädiert für eine „andere Opposition“, in der Separatismus und ideologische Vorbelastungen überwunden würden. Doch ein solches Bündnis zwischen liberalen Kräften des MUD-Spektrums und regimekritischen Linken ist nicht in Sicht. Dabei stünden die Zeichen für eine Kraft, die das sozialistische Regime von links kritisiert, nicht schlecht. Wie Evans sind viele Intellektuelle, die sich einst der „bolivarianischen Revolution“ verbunden fühlten, auf Abstand zu Maduro gegangen. Zugleicht wächst auch in den Armutsvierteln, einst die Basis des „Chavismus“, der Unmut über das Regime.
So beispielsweise in La Vega, wo der Jesuit Infante tätig ist. Wo früher Parolen vor allem den „ewigen Revolutionär Hugo Chavez“ huldigten, richten sich heute immer mehr Graffiti gegen den „Mörder Maduro“. Der Stadtteil ist tief gespalten. Während der Proteste im Sommer lieferten sich Regimegegner Auseinandersetzungen mit Chavisten und Polizisten. „Es ist traurig, dass hier Venezolaner gegen Venezolaner kämpfen“, sagt eine Frau, die mit dem Pfarrer arbeitet, ihren Namen aber aus Angst nicht nennen will. Nachdem sie und ihre Nachbarn Protestkundgebungen organisiert und auf Kochtöpfe geschlagen hätten, habe sie lange keine subventionierten CLAP-Lebensmitteltüten bekommen, berichtet sie. „Sie lassen uns spüren, dass sehr wenige von uns für die Verfassungsgebende Versammlung gestimmt haben.“
Auch deshalb spricht der kritische Chavist Evans mit Blick auf die Regionalwahlen von einem „Megabetrug“. Er hat dabei das klientelistische System im Blick, das Menschen zwingt, für die PSUV zu stimmen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder auf das CLAP-Paket verzichten zu müssen. Jesuit Infante bezeichnet das Ernährungsprogramm sogar als ein Instrument sozialer Kontrolle. Den Pfarrer, der selbst in linken Kreisen groß geworden ist, ist zudem besorgt die zunehmende Spitzelei in seinem Viertel. „Da sind die berühmten so genannten kooperativen Patrioten, die wir im Viertel als Kröten der Diktatur bezeichnen“, sagt er mit Blick auf jene, die andere anschwärzten und Misstrauen säten. „Diese Leute profitieren von den Regierungsprogrammen, weil sie Andersdenkende diskriminieren und ausschließen.“
Nein, er wolle das Land nicht mit lateinamerikanischen Diktaturen der 1970er-Jahre vergleichen, betont Infante. Aber das Regime benutze Hunger als Waffe, verbunden mit dem Denunziantentum würden sich so in La Vega totalitäre Verhältnisse etablieren. Wie es weitergehen soll? Venezuela brauche einen Führer vom Stil des südafrikanischen Anti-Apartheid-Kämpfers Nelson Mandela, ist der Christ überzeugt. „Jemand, der alle Bereiche der Gesellschaft einlädt, zusammenzukommen.“