LEISTUNGSWAHN: Plädoyer für die Müdigkeit

Der in Deutschland lehrende koreanische Philosophieprofessor Byung-Chul Han beklagt in seinem aktuellen Essay eine Gesellschaft, die auf Effizienz und Beschleunigung setzt, und so immer mehr ausgebrannte und erschöpfte Menschen hervorbringt. Seine Vision ist eine Gesellschaft der Müden.

Kontemplation, Langeweile und positive Müdigkeit:
In ihnen erkennt der Philosoph Byung-Chul Han Mittel, um sich wenigstens individuell den Zumutungen der Leistungsgesellschaft zu entziehen.

„Jedes Zeitalter hat seine Leitkrankheiten“ schreibt Byung-Chul Han zu Beginn seines Essays, der den vielsagenden Titel „Müdigkeitsgesellschaft“ trägt. Han widmet sich darin der Reflexion auf eine jener ?Leitkrankheiten‘, die er als für die Gegenwart bedeutsam erkannt zu haben meint. Seit 2010 lehrt der Philosoph als Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Der Zen-Buddhismus, die Globalisierung, Macht und die Kunst des Verweilens waren bisher seine Themen. In seinem aktuellen Buch zeigt er die Zusammenhänge von Depression und Gesellschaft.

Byung-Chul Han charakterisiert das 20. Jahrhundert als ein immunologisches Zeitalter, das sich durch den Kampf gegen viral und bakteriell verursachte Krankheiten bestimmte. Das beginnende 21. Jahrhundert ist dagegen ein neuronales: Krankheiten wie Depression, Burn-Out, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und Borderline-Syndrom sind charakteristisch für unsere Zeit. Das Biologische greift für Han aber auf das Soziale, auf die gesamtgesellschaftliche Ebene über. Die Gesellschaft, die immunologisch organisiert ist, beruhe dabei auf einer klaren Trennung von gesundem ?Innen‘ und feindlichem ?Außen‘. Dem entspreche auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene die Trennung von Freund und Feind sowie von Eigenem und Fremdem. Für den Autor passt der Kalte Krieg in dieses Schema, daher verortet er den von ihm konstatierten Paradigmenwechsel zeitgleich mit dem Ende der Blockkonfrontation. Die neuronalen Erkrankungen resultieren für Han aus dem „Zuviel des Gleichen“, dem „Übermaß an Positivität“, das durch „Überproduktion, Überleistung oder Überkommunikation“ entstehe. Alles und alle sind gleich im globalisierten Kapitalismus, der den Tauschprozess universal setzt. Gegen das Zuviel gibt es aber keine Immunreaktion, wie es gegen ein Übermaß an Fett keine Abwehrreaktion geben kann.

Sprach der französische Philosoph Michel Foucault für das 19. und 20. Jahrhundert von einer Disziplinargesellschaft, gekennzeichnet durch Irrenhäuser und Krankenhäuser, so erkennt Han die heutige Leistungsgesellschaft in den „Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors“. Das spätkapitalistische, moderne Individuum des 21. Jahrhunderts ist für ihn daher kein „Gehorsamssubjekt“ im Sinne Foucaults mehr, sondern ein „Leistungssubjekt“. Im Unterschied zum Subjekt der Vergangenheit, das alles um sich herum als verboten oder unterdrückend begreift, sieht der heutige Mensch unendliche Möglichkeiten und Chancen einer als freiheitlich erlebten Selbstverwirklichung. Nicht das „Müssen“ und „Sollen“ strukturiert den Menschen der Gegenwart im Unbewussten, sondern das „Können“. Selbstinitiative, Projekt und Selbstmotivation sind Techniken dieses unternehmerischen Subjektes, das sich ständig selbstoptimiert. Zudem ist der Mensch der Gegenwart „jenes animal laborans, das sich selbst ausbeutet, und zwar freiwillig, ohne jede Fremdzwänge“. Der Feind, als Zeichen des immunologischen Zeitalters, ist laut Han ja verschwunden in einer entgrenzenden, dem universalem Austauschprozess gewidmeten Gegenwart. Das Leistungssubjekt ist dabei nur sich selbst unterworfen und beutet sich selbst aus, im Gegensatz zur Fremdausbeutung und der Unterwerfung unter die Macht, wie sie noch das Subjekt bei Foucault auszeichnete. Es bleibe dabei der Disziplin treu, die aber nun aus verinnerlichten Geboten resultiere.

Byung-Chul Hans visionärer Entwurf bleibt unkonkret: Will er nur Unterbrechungen und Zwischenzeiten oder will er eine neue Gesellschaft?

Für Han bedeutet dies jedoch nicht Fortschritt oder Selbstverwirklichung, sondern er zeigt, dass die Ideologie, jeder könne es zum Millionär oder zum Superstar schaffen, Erschöpfte und Depressive erzeugt. Der Depressive wird für Han handlungsunfähig, erlebt eine „Schaffens- und Könnensmüdigkeit“ unter dem Druck einer Gesellschaft, die überall Chancen und Möglichkeiten verspricht. Das ?nicht mehr können‘ führt zur Autoaggression und zum „destruktiven Selbstvorwurf“, da kein Feind oder Ausbeuter mehr ausgemacht wird.

Gleichzeitig fragmentiert und zerstreut das Übermaß an Positivität durch eine Vielzahl von Reizen und Informationen die Wahrnehmung dieses Leistungssubjektes. Das Multitasking, als Ergebnis wachsender Arbeitsbelastung, sieht Han nicht als Fortschritt, sondern als Rückschritt, da sie die tiefe Aufmerksamkeit, die wichtig für das Denken und die Kreativität sind, verhindert. Hyperaktivität und Dauerkommunikation reproduzieren mehr als dass sie etwas Neues hervorbringen. Ohne Muße aber kein Denken, lautet das Fazit Hans.

Han beklagt die wenigen Unterbrechungen und Zwischenzeiten in einer sich ständig beschleunigenden Gesellschaft. Als Therapie unserer „Leistungs- und Aktivgesellschaft“, die immer mehr Erschöpfte und Müde hervorbringt, schlägt der Autor Unterbrechungen vor in Form von Kontemplation, „tiefer Langeweile“ und vor allem einer positiven Müdigkeit. In Anlehnung an Peter Handkes „Versuch über die Müdigkeit“ (1989) präferiert er die Utopie einer vereinigenden und sehenden Müdigkeit, wo ein „Mehr des weniger Ich“ und ein gelassenes „Nicht-Tun“ vorherrschend sein soll.

Als Tag der Müdigkeit nennt Han den Sonntag, der für ihn ein Tag „des nicht-zu, ein Tag der befreit ist von jedem um-zu“ ist. Eine Zeit nicht der Arbeit und Sorge, sondern des Spiels, der Gelassenheit statt Entschlossenheit.

Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Essays ist, dass Han bestreitet, in der westlichen Welt existierten überhaupt noch relevante Feinde. Andersheit und Fremdheit als Grundkategorie der Immunologie sieht der Autor auch angesichts des Globalisierungsprozesses verschwinden und an deren Stelle die Differenz treten. Der sogenannte Einwanderer oder auch der Flüchtling werde dabei eher als Belastung denn als Bedrohung empfunden. Es gibt demnach kaum Feinde, die Gefahr wird überschätzt, der Feind ob seines Verschwindens herbeigeredet.

Ganz überraschend und neu sind die Thesen Hans nicht, aber aufgrund der prägnant beschriebenen soziologischen Befunde wird die Gegenwartskritik auch für ein breiteres Lesepublikum erfahrbar. Allerdings belässt er die Leser mit seinem visionären Zukunftsentwurf einer Müdigkeitsgesellschaft im Bereich des Unkonkreten. Will er nur Unterbrechungen und Zwischenzeiten oder eine neue Gesellschaft? Dann sollte Han aber auch davon sprechen, wie Wachstum und Reizüberflutung eingedämmt und neue Arbeitswelten geschaffen werden können. Man gewinnt den Eindruck, dass er die Veränderung ausschließlich im Individuum stattfinden lassen möchte.

Nicht deutlich wird, ob Han bei der Vermischung von biologischer und gesellschaftlicher Ebene metaphorische oder kausale Zusammenhänge herstellt. Bei den neuronalen Erkrankungen scheint der kausale Zusammenhang gegeben, doch bei den bakteriellen Erkrankungen ist nicht ganz klar, wie Disziplinargesellschaften Virusinfektionen auslösen können.

Und ist dieses Leistungssubjekt wirklich so frei von äußerer Herrschaftsinstanz, die es zur Arbeit zwingen oder gar ausbeuten? Wie sieht es mit Zwangsmaßnahmen eines Arbeitsamtes aus? Etwas widersprüchlich und verwirrend ist dabei, dass er vom Leistungsgebot der spätmodernen Gesellschaft spricht. Auch werden Begriffe wie etwa Hybridisierung nicht weiter erklärt.

Zudem ist die Analyse der neuronalen Krankheiten zu oberflächlich geraten. Für die klinische Psychologie liegen Welten zwischen den einzelnen Krankheiten auch hinsichtlich ihrer Ursachen.

Jedenfalls kann der Essay Hans darin unterstützend sein, dass man es nicht gleich als Katastrophe empfindet, wenn mal das Handy ausgeht, der Computer abstürzt oder keine Internetverbindung vorhanden ist. Und für eine postkapitalistische Utopie kann man bei Han zumindest Elemente der gesellschaftlichen Bestandsaufnahme entnehmen.

Byung-Chul Han ? Müdigkeitsgesellschaft. Matthes & Seitz, 72 Seiten.


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