Simone Weils Kritik der Gewalt: Denn Sieger gibt es nicht

von | 30.10.2025

Die französische Sozialrevolutionärin und christliche Mystikerin Simone Weil hat kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs einen der beeindruckendsten Essays zur Kritik der Gewalt verfasst. Nun wurde der Schlüsseltext neu ins Deutsche übersetzt.

„Lieben und gerecht sein ist nur möglich, wenn man die Herrschaft der Gewalt erkennt und wenn man versteht, sie nicht zu respektieren“: Aus diesem Satz zog Simone Weil in ihrem Leben unterschiedliche Konsequenzen. (Foto: Wikimedia Commons/Public Domain)

Wird heute über Gewalt gesprochen, dann meist im Kontext des Politischen. Statt sie näher in den Blick zu nehmen, wird dann eher darüber debattiert, weshalb sie ausgebrochen sei. Die Rationalisierung der Gewalt – also die Suche nach vernünftigen Gründen, weshalb sie notwendig war oder doch wenigstens erklärbar sei – ist damit de facto bereits gesetzt. Nicht selten geschieht dies, indem man eine unstatthafte, widerrechtliche Gewaltausübung darlegt (auch dies bereits eine Rationalisierung, denn es impliziert, dass es eine Gewalt gebe, die rechtens ist), und daraus folgert, weshalb nun Gegengewalt erforderlich sei. Oder es wird erörtert, was – politisch, soziologisch oder psychologisch betrachtet – hinter einer Gewalttat steckt. Eher selten macht sich jemand die Mühe, bei der Gewalt selbst zu verweilen – so unmittelbar, wie sie für die ist, die sie ausüben, und für jene, von denen sie erlitten werden muss.

Zu den wenigen, die dies versuchten, gehört beispielsweise der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma (etwa in seinem Buch „Vertrauen und Gewalt“, 2008, oder in seiner 2016 gehaltenen Abschiedsvorlesung, der er den Titel „Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet“ gab). Er stellte sich unter anderem die Frage, „wie sehr unsere Moderne mit extremer Gewalt koexistieren kann – augenscheinlich ohne dass wir das Vertrauen in sie [die Moderne, T.F.] verlieren“. Andere, wie der Soziologe Wolfgang Sofsky („Traktat über die Gewalt“, 1996), haben dieses Vertrauen längst nicht mehr. Für ihn ist angesichts der Gewalt der Glaube an die Zivilisation ein „eurozentrischer Mythos, in dem sich die Moderne selbst anbetet“.

Der Philosoph Alexander García Düttmann betont die „unvermeidliche Verselbstständigung der Gewalt“ („Kaputt“, 2024): Jede Gewalt sei mehr als das bloße Mittel, zu dem man sie im Politischen deklariert, weil sie den Zweck, mit dem sie gerechtfertigt wird, vereinnahme und so zum Selbstweg wird. Susan Sonntag erinnert daran, wie sehr man nach Zwecken dürstet, wenn man der Gewalt gegenwärtig wird („Das Leiden anderer betrachten“, 2005). Jedes Foto einer Gewalttat warte „auf eine Bildlegende, die es erklärt“. Sieht man die Gewalt bloß unmittelbar, weiß man dann wirklich, was man sieht? Hinter dem Verlangen nach den Zwecken steckt aber wohl auch wiederum die Hoffnung, einen Grund für die Gewalt geliefert zu bekommen, weil sie dann vielleicht weniger gefahrvoll und zerstörerisch, weniger willkürlich wirkt.

Ein Text, der sich allen Versuchen, die Gewalt als vernünftig erscheinen zu lassen, konsequent widersetzt, ist Simone Weils erstmals 1940/1941 erschienener, soeben in neuer Übersetzung auf Deutsch wiederveröffentlichter Essay „Die Ilias, oder das Gedicht von der Gewalt“. Darin finden sich viele Elemente des Themas, die von den vorgenannten Autor*innen Jahrzehnte später ausgeführt worden sind. In dem Text, der als einer ihrer wichtigsten gilt, gelingt es Weil wie kaum jemandem sonst, aus dem endlosen Zyklus der Rechtfertigung der Gewalt herauszutreten und statt dessen konsequent auf deren katastrophalen Konsequenzen zu beharren. Je nüchterner die Sprache, die sie verwendet, desto drastischer deren Wirkung: „Die Gewalt ist das, was aus jedem, der ihr unterworfen ist, ein Ding macht. Geht ihre Anwendung ins Extrem, so macht sie aus dem Menschen im wortwörtlichen Sinn ein Ding, denn sie macht aus ihm eine Leiche. Da war jemand, und einen Augenblick später ist da niemand.“

Mit Sätzen wie diesen erinnert die Autorin auf erschütternde Weise daran, dass die Konsequenzen der Gewalt auf eine existenzielle Weise unumkehrbar sind. Was befähigt Menschen, die Gewalt an anderen verüben, dazu, dies zu tun? Wie unterscheidet sich ihre Wahrnehmung von der jener Menschen, die der Gewalt unterworfen sind? Wie verändern sich Menschen durch die Ausübung von Gewalt?

Diesen und anderen Fragen versucht die in einer jüdischen Familie aufgewachsene französische Sozialrevolutionärin und christliche Mystikerin Simone Weil (1909-1943; nicht zu verwechseln mit der französischen Politikerin Simone Veil) auf den Grund zu gehen. Sie tut dies, indem sie sich mit einem der ältesten schriftlich niedergelegten europäischen Texte auseinandersetzt: der Ilias. Das Homer zugeschriebene Werk schildert einen kurzen Ausschnitt aus dem Trojanischen Krieg.

In dem Text, der als einer ihrer wichtigsten gilt, gelingt es Weil wie kaum jemandem, aus dem endlosen Zyklus der Rechtfertigung der Gewalt herauszutreten und statt dessen konsequent auf deren katastrophalen Konsequenzen zu beharren.

Sieger und Besiegte finden sich darin nicht, möchte Weil ihren Leser*innen zeigen, nur die Hybris jener, die vorläufig am Triumphieren sind. Die Positionen der Akteure alternieren ständig, so die Autorin, die damit die Sinnlosigkeit des Krieges unterstreichen will: Mit Ausnahme von Achill werden „absolut alle“ in irgendwann als Niedergeworfene gezeigt, „kein einziger Mensch, der nicht in irgendeinem Augenblick gezwungen ist, sich zu beugen unter die Gewalt“, und auch die „Tapferkeit trägt weniger bei, über den Sieg zu entscheiden, als das blinde Schicksal“ es tut.

Und doch scheinen viele Protagonisten des Gedichts lange genug zu obsiegen, um zu vergessen, was es heißt, selbst der Gewalt unterworfen zu sein: „Während sie ihre Macht anwenden, berührt sie niemals die Ahnung, dass die Folgen ihres Tuns sie ihrerseits unterwerfen werden.“ Dass aber schließlich auch sie dieses Schicksal ereilt, ist laut Weil zwangsläufig der Fall: Wer Gewalt ausübt, wird an ihr verrückt.

Wo Gewalt ist, muss das Denken weichen: Es fehlen der Ort und das Innehalten, „aus denen allein die Rücksicht auf Unseresgleichen entsteht“. Die, denen das Schicksal die Gewalt verliehen hat, meinen, es sei ihnen damit „jede Freiheit gegeben, doch den Unterlegenen keine. Von jetzt an überschreiten sie die Gewalt, die ihnen zur Verfügung steht“.

Weils Ablehnung der Gewalt scheint so absolut wie deren Wirkung ist: Gewalt bedeutet zerreißenden Schmerz, fürchterliche Angst und vernichtet „jeden, den sie berührt. Am Ende erscheint sie als etwas Äußerliches für den, der sie ausübt, wie für den, der sie erleidet; daraus entsteht die Vorstellung von einem Schicksal, unter dem Henker und Opfer gleichermaßen unschuldig sind, Sieger und Besiegte Brüder im gleichen Elend.“

Wäre es aber wirklich so, wie ließe sich dann noch Unterdrückung begreifen und Befreiung denken? Hier schleicht sich das Politische dann doch in den Text der Philosophin hinein. So verheimlicht sie nicht, dass es Schlimmeres gibt als den Tod. Einen Tod nämlich, „der sich hinzieht über ein ganzes Leben; ein Leben, das der Tod erstarren ließ, lang bevor er es ausgelöscht hat.“ Ein Ding zu machen aus einem Menschen, der weiterlebt, sei eine Macht, die „noch viel wunderbarer ist“, als jemanden bloß zu töten, meint Weil.

Die Macht aber, von der sie nun spricht, ist nicht identisch mit Gewalt, und „gewöhnlich ist es nicht politisches Denken, was zum Exzess rät“, merkt sie an. Politisches Denken, wie sie es begreift, steht also dem Dezisionismus des Souveräns entgegen. Der Gewaltexzess resultiere gerade aus einem Mangel an zur Mäßigung ratenden „vernünftigen Worten“: „Wenn ein Untergeordneter sie sagt, wird er bestraft und schweigt; ist es ein Anführer, befolgt er sie nicht in seinem Handeln. Und notfalls findet sich ein Gott und rät zur Unvernunft.“ Mäßigung, legt Weil nahe, kann es allein dort geben, wo jene, die mit Gewalt ausgestattet sind, dieser nicht allzu sehr vertrauen, sondern vielmehr deren „begrenzte Eigenschaft“ und „ihr Verhältnis zu anderen als Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen Gewalten“ anerkennen. Damit stellt sie ein demokratisches Grundprinzip der Herrschaft des Diktators entgegen, dessen Willkür mit Worten nicht mehr Einhalt geboten werden kann.

Simone Weil auf der Terrasse eines Cafés in Paris. (Foto: gemeinfrei)

Während der Lektüre ist es an vielen Stellen ein leichtes, Bezüge zu aktuellen und vergangenen Kriegen und Konflikten herzustellen. Die Autorin selbst vermeidet in ihrem Text jede Anspielung, die auf den historischen Kontext seiner Entstehung verweist. So bleibt es an Wolfgang Matz, dem Übersetzer und Herausgeber des schmalen Bändchens, diese Einordnung in einem pointierten Nachwort vorzunehmen und die politische und biografische Dimension ihres Textes zu ergänzen. Am Ende der Lektüre seines Essays angelangt, versteht man, weshalb sich Weils Kritik der Gewalt nicht umstandslos als Streitschrift für Gewaltlosigkeit lesen lässt: Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs 1938/39 niedergeschrieben, ist „Die Ilias, oder das Gedicht von der Gewalt“ nicht bereits das Resultat, sondern noch Teil des Reflexionsprozesses ihrer Analyse des Faschismus und Nationalsozialismus, die sie Schritt für Schritt dazu zwang, ihre zunächst klassisch pazifistische und antimilitaristische Haltung zu überdenken. 1932 reiste sie für einige Wochen nach Berlin, um von dort vom Aufstieg Hitlers zu berichten, der, wie sie sah, auch in der Arbeiterklasse zahlreiche Anhänger*innen fand. 1936, als sie während des Spanischen Bürgerkriegs die republikanischen Kräfte unterstützte, ließ sie sich in Barcelona schon mit Gewehr ablichten.

Laut dem Autor des Nachworts war sie damals aber noch immer nicht zu einer grundsätzlichen Revision ihres Pazifismus bereit. Erst das Münchner Abkommen vom September 1938 habe Simone Weil schlagartig klargemacht, „was sie jahrelang nicht begreifen wollte: Der bedingungslose Pazifismus hat dem bedingungslosen Kriegswillen nichts entgegenzusetzen“. 1943 im Londoner Exil wird sie ihr früheres Engagement gar als „verbrecherischer Irrtum vor 1939 über die pazifistischen Kreise und ihr Handeln“ bezeichnen.

Beeindruckt Simone Weils Text nicht zuletzt dank der weitgehenden Abwesenheit der politischen Dimension der Gewalt, so weist der Herausgeber daraufhin, welche Folgen das für die Reflexion des Themas hat. Am Beispiel von Weils Entwicklung spielt Matz einige der verheerenden Konsequenzen eines Pazifismus durch, welcher äußerstenfalls in der völligen Unterwerfung unter einen Aggressor gipfelt, der sich womöglich auch dadurch nicht besänftigen lässt.

Doch auch hinsichtlich der phänomenologischen Beschreibungen, die Weil vornimmt, säht der Autor des Nachworts einige Zweifel. So sei es eine der stärksten Thesen des Essays, dass die Gewalt auch den, der sie verübt, unheilbar beschädigt und ins Verderben stürzt. Matz fragt sich, ob allein deshalb die Gleichsetzung von Henker und Opfer gerechtfertigt und die Grenze zwischen beiden richtig gezogen ist, oder ob Weils Formulierung vom „gleichen Elend“ nicht vielmehr einen ganz klaren Unterschied zu verwischen droht. Die Wucht von Weils Text resultiert also auch daraus, dass die Autorin genau jene Fragen an die Ilias nicht stellt, die mit Kriegsgründen zu tun haben und anhand derer womöglich eine wertende Unterscheidung der Gewalt beginnt. Simone Weil hat diese Unterscheidung dann später selbst ganz praktisch vollzogen, indem sie in die Reihen der Résistance eintrat.

So ist die größte Stärke des Textes, die Gewalt in all ihren Auswirkungen zu beschauen und festzuhalten, anstatt sogleich zu ihrer Erklärung zu schreiten, zugleich auch dessen größte Schwäche, weil er von den Ursachen der Gewalt abstrahiert. Unwillkürlich muss man hier an einen anderen klassisch gewordenen Aufsatz denken, der zwei Jahrzehnte vor Weils Text erschienen ist: „Zur Kritik der Gewalt“ (1920/21) von Walter Benjamin. Darin denkt der deutsch-jüdische Philosoph darüber nach, wie dem ewigen Kreislauf der Gewalt, deren rationalisierender Verewigung zu entkommen sei, ohne ihre gesellschaftlichen Ursachen zu verschweigen. Im Gegenteil: Gerade in der Reflexion auf die Geschichte der Gewalt sei die Idee ihres Endes enthalten. Ein Ende der Gewalt muss mehr und anderes als bloße Selbstentwaffnung sein.

Simone Weils Text ist ein kraftvolles, emphatisches Plädoyer gegen die Gewalt – und doch keines für Gewaltlosigkeit, deren Aporien die Autorin nicht zu unterschlagen vermag; nicht zuletzt dieser Kontrast macht den Essay zu einer erschütternden Lektüre. Gerade auch für einen Pazifismus, der nicht seinerseits in eine Apologie von Herrschaft und Gewalt verfallen will, ist ihr Text gemeinsam mit dem Nachwort bereichernd und unbequem zugleich. Die Aufgabe, die Simone Weil in ihrem durchaus pessimistisch gestimmten Schlusssatz als die von den Menschen zu erlangende Einsicht bestimmt, „dass nichts sicher ist vor dem Schicksal, dass man die Gewalt niemals bewundern soll, die Feinde nicht hassen und die Unglücklichen nicht verachten“, sie bleibt bestehen.

Simone Weil – Die Ilias, oder das Gedicht von der Gewalt. Aus dem Französischen und mit einem Essay von Wolfgang Matz. Matthes & Seitz, 102 Seiten.

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