AUTONOMIE UND DEPRESSION: Der gestrandete Mensch

Die „Kultur der Autonomie“ in unserer westlichen Gesellschaft führt zur Erschöpfung und Überforderung, argumentierte der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seiner 1998 veröffentlichten Schrift „Das erschöpfte Selbst“. In seinem neuen Buch ist ihm die Autonomie des Individuums zentral für die Möglichkeit, gesellschaftliche Ungleichheit zu überwinden.

Zielt auf die Verringerung der sozialen Ungleichheiten in der neoliberalen Gesellschaft und verliert dabei deren Abschaffung aus dem Blick:
Der französische Soziologe
Alain Ehrenberg.

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg, 1950 in Paris geboren und dort am Centre National de Recherche Scientifique tätig, hat in einer vor dreizehn Jahren veröffentlichten Studie den Zusammenhang von Depression und der gesellschaftlichen Entwicklung untersucht. Seine These lautete, jene sei zur Zivilisationskrankheit geworden und beruhe in den postindustriellen Gesellschaften auf der Nötigung des Einzelnen, allzeit Verantwortung und Initiative zu zeigen. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist diese Krankheit für Ehrenberg eine Begleiterscheinung einer „Kultur der Autonomie“, die auf persönliche Leistung, Eigenverantwortung, Wahlfreiheit und die Initiative des Einzelnen setze. Fragte sich das Individuum der Disziplinargesellschaften im 19. Jahrhundert und bis Mitte des 20. Jahrhunderts noch „Was darf ich tun?“, so werde es jetzt von der bangen Frage bestimmt „Besitze ich die Fähigkeit, es zu tun?“.

In seinem neuen Buch „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ untersucht er die wissenschaftlichen und politischen Diskurse der letzten Jahrzehnte im Kontext des jeweils vorherrschenden Verständnisses von Autonomie und den Ursachen psychischer Leiden genauer. Im Namen einer Soziologie, die der „personalen Wende des Individualismus“ gerecht werden will, übt er Kritik an sozialen Theorien, die keine der zeitgenössischen Sozialität der Menschen entsprechende Gesellschaftsanalyse und politische Vision entwickeln. Für was sich Ehrenberg einsetzt, ist das „Individuum aus einer Position, in der es Dinge erleidet, zu einer Position zu bringen, in der es handelt“.

Für seine Analyse untersucht er vergleichend die Diskurse über Autonomie, psychische Gesundheit, psychische Leiden und deren Beziehung zum Gesellschaftlichen, die in der Wissenschaft und Öffentlichkeit in Frankreich und in den USA geführt werden. Die psychische Gesundheit ist für Ehrenberg zur modernen Bezugsgröße unserer Individualisierung und ihrer Gesellschaftlichkeit geworden. In seinem eigenen Land münden die zunehmenden psychischen Leiden in eine Debatte über „das Unbehagen in der Kultur“. Viele Soziologen und Sozialphilosophen fassen psychische Krankheiten als soziale Pathologien auf, wofür neue Formen des flexibilisierten und globalisierten Kapitalismus und der Verlust sozialer Bindungen verantwortlich gemacht werden. Dass die gesellschaftliche Bindung immer schwächer werde und der Einzelne sich immer mehr auf sich selbst stützen müsse, ist für Ehrenberg die gängige These vieler Soziologen, Philosophen und Psychoanalytiker. Dabei werde die einfache Gleichung „Aufstieg des Individualismus = Niedergang der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Politik und Solidarität“ gemacht. Was er hier den Theoretikern, vor allem den Sozialwissenschaften vorwirft, ist sich in der subjektivistischen Perspektive zu verfangen. Für sie gäbe es keine „gesellschaftlichen Rollen“ mehr, sondern nur noch „individuelle Wettkämpfe“. Das Hauptproblem dieser Entwürfe erkennt der Autor daher in der einfachen Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft.

Für die USA sieht Ehrenberg ein ganz anderes Verständnis von Autonomie bestimmend: „In Amerika ist der Begriff der Persönlichkeit eine Institution, während in Frankreich die Berufung auf die Persönlichkeit als Entinstitutionalisierung erscheint“. Während Frankreich auf den Schutz des Individuums gerade durch die Gesellschaft setze, wolle man in den USA darauf verzichten. Autonomie wird hier als Chance verstanden. Die Krise des Selbst, die bereits in den Siebzigerjahren von Autoren wie Richard Sennett und Christopher Lasch diskutiert wurde, sorgt auch dort für ein Unbehagen. Die darin formulierte Angst vor einem narzisstischen Individuum, das die Pflichten gegenüber der Gesellschaft vernachlässige, resultiert für Ehrenberg ebenso aus einer subjektivistischen Perspektive. Ehrenberg benutzt nun den Vergleich der beiden Länder, um die Diskussion um Chance und Schutz des Individuums in seiner Theorie der Autonomie auszuloten.

Ehrenberg will das Individuum aus einer Position, in der es Dinge erleidet, in eine Position bringen, in der es handelt.

Was er will, ist eine „Soziologie des Individualismus“ statt einer „individualistischen Soziologie“ zu entwickeln und das gesellschaftliche Potenzial der Autonomie sichtbar zu machen. Statt die Psychiatrisierung der Gesellschaft zu konstatieren, möchte er den Wandel unseres Verständnisses von seelischer Gesundheit und Sozialität aufzeigen. Psychische Leiden sind für ihn nicht nur Gefühle und unmittelbare Reaktionen auf gesellschaftliche Bedingungen, sondern soziale Formen. Seine Fragen, die er in der Einleitung voranstellt lauten: „Was kann die Soziologie aus dem klinischen Bild der Psychopathologie gewinnen. Wie beeinflußt der soziale und moralische Kontext einer Gesellschaft die Psychopathologie?“

Eine soziologische statt psychologische Perspektive auf die heutige Gesellschaft zu entwickeln, um einerseits eine präzise Gesellschaftskritik zu gewährleisten, aber auch um handlungsfähig zu sein, ist für Ehrenberg unabdingbar. Die falsche Vorstellung gesellschaftlicher Bedingtheit in der subjektivistischen Rhetorik führe in eine „praktische“ Sackgasse, weil sie „Bilder des Unglücks“ anhäufe, „ohne die Mittel anzugeben, es zu überwinden, denn man sieht nicht, in Bezug worauf und wie man handeln soll.“ Vor allem Frankreich wirft er vor, keine „praktische und glaubwürdige Antwort auf die profunde Erneuerung der Ungleichheiten zu liefern“. Stattdessen feiere man eine Vergangenheit, die ihre Versprechungen noch nicht erfüllt habe, setze auf „alte kollektive Solidaritäten“ und vereinheitliche die „Verschiedenartigkeit der Situationen“.

Ehrenberg widerspricht der subjektivistischen Perspektive: Für ihn hat sich das gesellschaftliche Leben unter dem Fokus der Autonomie lediglich gewandelt, nicht jedoch aufgelöst: „Das menschliche Leben ist nicht deshalb weniger sozial, weniger politisch oder weniger institutionell, weil es heute als persönlicher erscheint. Vielmehr ist es auf andere Weise sozial“. Den Wandel der Sozialität macht er an einem neuen Handlungsbegriff und einer institutionellen Veränderung fest. Für ihn existieren neue soziale Handlungsideale, die auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortung setzten und andere Zwänge und Freiheiten mit sich führen als die der Disziplinargesellschaften. Ehrenberg begreift diese neuen Ideale aber nicht als Zeichen des „Verfalls“ der Gesellschaft, sondern eben lediglich als Belege für deren Wandel. Die seelische Gesundheit verkörpert dabei für Ehrenberg die „Veränderung des Geistes des Handelns“, insofern sie eine Haltung, ein Geisteszustand ist, der Spannungen der zeitgenössischen Gesellschaft verhandelt und Lösungen vorschlägt. Die psychischen Symptome und die psychische Gesundheit sind für ihn ein „neues Sprachspiel“, das zum Kollektivleben gehöre. Ehrenberg stellt dabei zwar heraus, dass das Sprachspiel für die Gesellschaftlichkeit des Menschen erforderlich sei, betont aber weniger, dass die psychischen Leiden zeitgenössische Entfremdungserscheinungen sind.

Zu den Institutionen, die sich unter dem Ideal des selbstbestimmten Handelns verändert haben, zählt Ehrenberg alle Einrichtungen und Praktiken (Rehabilitation, Psychoanalyse, psychosoziale Klinik), die seit den 1970er Jahren entstanden sind und den Menschen Bedingungen schaffen und sie darin unterstützen wollen, Hauptverantwortlicher seiner Handlung zu sein.

In einer Gesellschaft, die die Autonomie des Individuums zum höchsten Wert erklärt hat, muss für Ehrenberg auch die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit neu gedacht werden. Er stellt daher die soziale Frage im Zusammenhang mit der Befähigung zur Autonomie. Statt passiv geschützt zu werden, soll das Individuum aktiv Gelegenheiten ergreifen. Dabei präferiert er, in Anlehnung an den Ökonomen Amartya Sen, die Stärkung der kognitiven und sozialen Fähigkeiten im Kampf gegen soziale Ungleichheiten. Es geht weniger um Schutz, sondern um „gleiche Verteilung von Handlungsmöglichkeiten“. Die Menschen sollen zur Selbstveränderung befähigt werden, zur Motivationsbildung, zur Ausbildung sozialer Fähigkeiten, zur Eigenverantwortlichkeit des Handelns in gesellschaftlichen Situationen. Für die Arbeitswelt stellt sich Ehrenberg vor, der Einzelne solle mehr Einfluss auf die eigene Arbeit zu bekommen, mehr Entscheidungskompetenz, mehr Weiterbildungsangebote und die Idee „sich selbst zu leiten“, vor allem für Jobs mit niedrigem Qualifikationsniveau. Fähigkeiten wie „Kreativität, des Problemlösens, der Erfindungsgabe“ sollen den Weg aus entfremdeter Arbeit weisen. Hat der bisherige Wettbewerb für ihn die Bindungen der Solidarität zerstört, so soll er nun Wert auf soziale Beziehungen am Arbeitsplatz legen. Begriffe wie „Kompetenz, Fähigkeit, Chance“, die im Neoliberalismus instrumentalisiert wurden, fordert Ehrenberg neu zu besetzen.

Um die sozialen und ökonomischen Möglichkeitsbedingungen dieser Freiheit zu schaffen, muss sich für ihn das politische Handeln aus der Autonomie des Individuums heraus bestimmen, Das Modell dafür erkennt er in einem bedürfnisorientierten Wohlfahrtstaat nach skandinavischem Vorbild, der es den Individuen ermögliche, Agent der eigenen Veränderung zu sein: „Die Perspektive dieses neuen Wohlfahrtstaates ist dynamisch, auf individuelle Werdegänge zentriert, und nicht statisch, auf die Situationen und den Status fixiert.“ Was ihm also vorschwebt, ist die Idee eines „neuen Sozialstaats oder eines neuen Gesellschaftsvertrages, der der Autonomie als Zustand entspricht“.

Hinzu kommt die Forderung Ehrenbergs, die Selbstverwirklichung des Einzelnen müsse mit der aller Gesellschaftsmitglieder verschränkt sein und auf einer universalen Vernunft basieren. Die Idee dazu holt er sich von der „Theorie der Anerkennung“ des Frankfurter Soziologen Axel Honneth. Dessen Sozialphilosophie ist für Ehrenberg „ein Fortschrittsdenken, das diese Welt völlig akzeptiert, aber darauf abzielt, den Anteil der neuen Herrschaftsphänomene, die sie in sich trägt, zu verringern“. Aber auch hier kritisiert Ehrenberg den individualistischen Zug der Theorie, denn die dort thematisierten „Subjekte weisen kein einziges gesellschaftliches Merkmal auf“. Es sei ein „individualistisches Fortschrittsdenken“, das uns im Hinblick auf ein Handeln ratlos mache und die Existenz des gesellschaftlichen Lebens ignoriere.

Ehrenbergs politischer Vision wohnt ein emanzipatorischer Anspruch inne, insofern er Menschen mit Selbstverantwortung und Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft voraussetzt. Unterstützt werden sie durch einen Wohlfahrtsstaat, der soziale Ungleichheiten schon seit der Kindheit verhindern soll, und den Menschen insgesamt befähigt, seine Potenziale einzusetzen. Auf den Weg bringen möchte er einen „gestrandeten“ Menschen „indem man mit ihm an seinen Fähigkeiten arbeitet, mit seiner Situation zurechtzukommen“. Doch diese Selbstverwirklichung ist keineswegs eine unentfremdete, denn die Standardisierung und Instrumentalisierung im gegenwärtigen Kapitalismus bleibt bestehen.

Es geht Ehrenberg also eher um eine Verringerung der Ungleichheiten in einer neoliberalen Gesellschaft statt um deren Abschaffung. Die Systemfrage stellt Ehrenberg nicht. Entkommt das Individuum der Marktlogik, wenn es auf seine schöpferische Fähigkeit und die Selbstbestimmtheit in der Arbeit setzt? Wohl kaum. Prekäre Arbeitsverhältnisse werden nicht allein durch mehr Mitbestimmung attraktiver. Der systemimmanente Zwang zu mehr Wachstum erfordert von den Individuen weiterhin Effizienzsteigerung und die permanente Mobilisierung ihrer persönlichen Fähigkeiten. Ehrenberg stellt zwar die wichtige Frage nach anderen Bildungsverläufen und der Rolle des Staates dabei, aber es wäre auch erforderlich, die Frage nach einem anderen Wirtschaften zu stellen.

Alain Ehrenberg – Das Unbehagen in der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, 531 Seiten.


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