GROSSBRITANNIEN: Robust in den Bankrott

Darüber, inwiefern die Krawalle in England als politischer Ausdruck einer sozialen Unzufriedenheit angesehen werden können, wird in den Medien heftig gestritten. Der Frust der Jugendlichen in den armen Stadtteilen Londons ist jedenfalls real.

Protest ohne Orientierung? Ein Jugendlicher wendet sich im Londoner Stadtteil Hackney an Passanten.

„Wenn wir wie Tiere behandelt werden, dann benehmen wir uns auch wie Tiere.“ Für J. ist diese Logik zwingend. Der 20-Jährige mit Cornrow-Flechtfrisur hängt mit seinen Freunden in der Wohnsiedlung Pembury Estate im Osten Londons herum. Die Straße ist ruhig an diesem warmen Sommerabend. Eine Frau ist mit ihrem Einkauf auf dem Weg nach Hause, zwei ältere Männer unterhalten sich in einem Hauseingang, ein Junge kurvt mit seinem Fahrrad umher – ein scheinbar normaler Tag im Bezirk Hackney. Dass die Clarence Road nur zwei Tage zuvor im Zentrum eines der heftigsten Krawalle in der jüngeren Geschichte Londons stand, davon zeugen nur die großen schwarzen Flecken auf dem Asphalt – mehrere Autos und ein Kleinlaster wurden dort abgebrannt – und der zerstörte Laden. Der Inhaber und seine Familie sind gerade dabei, Überreste der Inneneinrichtung hinaus auf die Straße zu stellen. „Wieso
müssen sie alles kaputtmachen?“ fragt der Schwager des Ladenbesitzers. „Wenn sie schon plündern, warum nehmen sie das Zeug nicht einfach mit?“

Ums Plündern sei es ihnen überhaupt nicht gegangen, sagt hingegen J. Der Feind sei die Polizei. Er habe zwar nicht selbst an den Krawallen teilgenommen, aber er kenne die Betreffenden und habe die Ereignisse verfolgt. Wie seine Freunde – alle afrokaribischer Herkunft – ist J. in der Pembury Estate aufgewachsen. Die Wohnsiedlung war lange Zeit vor allem für Drogenhandel, Raubüberfälle und Gewaltverbrechen bekannt und gilt als einer der gefährlichsten Orte in Hackney. In den vergangenen Jahren haben sich diese Probleme etwas entschärft, doch die Polizei sehe die meisten Jugendlichen als Verbrecher, sagt J. „Die Polizei behandelt uns wie den letzten Dreck – sie verarscht uns regelrecht.“ Ein Freund fällt ihm ins Wort: „Wenn ich kurz um die Ecke zu einem Laden gehe, ist es gut möglich, dass ich dabei zweimal angehalten und durchsucht werde – finden tun sie nichts.“ Natürlich gebe es Drogenhändler im Viertel, aber sie seien keine – und die „Feds“, wie die Polizisten genannt werden,
wüssten das genau.

In diesem Moment fährt ein Auto im Schritttempo an uns vorbei. Vier Männer starren aus den Fenstern und mustern uns kritisch, dann beschleunigen sie und sind weg. „Da siehst du es – Polizei in Zivil. Wenn du nicht hier wärst, würden sie uns filzen. Und wenn du weg bist, werden sie zurückkommen und uns fragen, was wir dir erzählt haben.“ So sei das in allen ärmeren Quartieren der Stadt. Vor allem Jugendliche afrokaribischer Herkunft sind regelmäßig Opfer von Schikanen – in England und Wales werden Schwarze 26 Mal häufiger gefilzt als Weiße. Deshalb habe auch der Tod Mark Duggans, der im nördlichen Stadtteil Tottenham unter ungeklärten Umständen von der Polizei erschossen wurde, solch heftige Emotionen ausgelöst. „Das hätte auch ich sein können“, sagt J. „Wie viele Menschen hat die Polizei erschossen? Und wie viele Polizisten sind dafür verurteilt worden?“ fragt er. Nach Angaben der Polizeiaufsichtsbehörde sind zwischen 1998 und 2010 genau 333 Menschen in Polizeigewahrsam gestorben. Kein einziger Polizist ist verurteilt worden. „Sie morden und kommen ungestraft davon – das ist Ungerechtigkeit.“

„Wenn wir wie Tiere behandelt werden, dann benehmen wir uns auch wie Tiere.“

Doch nicht nur die Belästigungen durch die Polizei werden als ungerecht wahrgenommen. „Die Leute hier haben keine Jobs, aber sie müssen Kinder ernähren“, sagt J., und seine Freunde nicken zustimmend. „Aber wir können von niemandem Hilfe erwarten.“ Auch die ältere Generation verweist auf die eklatanten sozialen Probleme in ihren Vierteln. Etwa der 45-jährige Familienvater Paul, der in der gleichen Siedlung wohnt und die Krawalle am Montag vergangener Woche verfolgte: „Die Jungs haben nichts zu tun, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Jungen Leuten wird nichts geboten, weil die Regierung nicht genug Geld in unser Viertel investiert – sie geben es lieber Gemeinden, die eh schon reich sind. Gelegenheiten zum sozialen Aufstieg gibt es kaum. Und jetzt wird alles gekürzt – Unterhaltszahlungen für die Ausbildung werden gestrichen, Jugendzentren geschlossen, und so weiter. Da ist es nicht verwunderlich, dass ihnen mal der Kragen platzt.“ Dass auch Erwachsene an den Krawallen teilgenommen hatten, zeige, dass die Unruhen tiefe soziale Ursachen hätten und nicht ein paar jungen Chaoten oder Jugendbanden allein anzulasten seien. „Da waren Krankenpfleger und Lehrerinnen auf der Straße – und die sind bestimmt nicht Mitglieder einer Gang“, sagt J. grinsend.

Es gibt Zahlen, die einen Zusammenhang zwischen den Krawallen und der sozialen Lage zu bestätigen scheinen. Die Unruhen begannen nicht in wohlhabenden Gebieten wie Chelsea oder Richmond, sondern in den ärmsten: in Haringey, in Hackney, in Lambeth. 2007 war Hackney gemäß einem Armutsindex der zweitärmste Verwaltungsbezirk Großbritanniens nach Liverpool; zehn Prozent sind arbeitslos, bei den 18- bis 24-Jährigen sind es 33,5 Prozent; auf jede Stelle kommen 24 Bewerberinnen und Bewerber. In Haringey, zu dem der Stadtteil Tottenham gehört, sind es sogar 54 Bewerber. In nur drei Bezirken ist die Kinderarmut höher als hier. Haringey ist der Verwaltungsbezirk mit den größten sozialen Unterschieden des Landes – von den 19 Stadtteilen Haringeys zählen ein Viertel zu den reichsten und ein Viertel zu den ärmsten. Und das in der sozial polarisiertesten Stadt der entwickelten Welt: In London verdienen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 273 Mal mehr als die ärmsten zehn Prozent.

Dazu kommt, dass die Sparmaßnahmen der konservativ-liberaldemokratischen Regierung den ärmeren Teil der Bevölkerung härter treffen als den reichen: Beihilfen für arme Schülerinnen und Schüler, die sogenannte Education Maintenance Allowance, sind gestrichen worden, und unter den Kürzungen bei der Rechtshilfe werden auch die Ärmsten am schwersten leiden, warnte vor kurzem eine Richterin am Supreme Court. In Hackney wird das Geld, das für Kinderbetreuung und Teenager-Schwangerschaft ausgegeben wird, um 114 Euro pro Kind gekürzt (in Richmond sind es nur 34 Euro). Acht der 13 Jugendzentren in Haringey sind vor kurzem geschlossen worden.

Der Musiker und Sozialarbeiter Alim Kamara, der mit Jugendlichen in Tottenham arbeitet, beschreibt die Konsequenzen: „Weil Jugendzentren fehlen, haben wir keine Möglichkeit, mit jungen Menschen zu kommunizieren. Das führt dazu, dass sich die Beziehungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen verschlechtern. Dann kommt die hohe Arbeitslosigkeit dazu, und die Folge ist tiefe Frustration.“ Wer nicht zur Mittelschicht gehöre, der habe echte Probleme, meint J. Probleme, um die sich niemand kümmere: „Wir haben keine Stimme. Niemand hört auf uns. Und deshalb scheren wir uns auch nicht um die Konsequenzen unserer Handlungen.“ Drei Tage lang hätten junge Menschen in London und anderen Städten ihre Frustration auf die Straße getragen. „Wie die Regierung das nicht hat kommen sehen, das geht mir nicht in den Kopf.“

Zwischen 1998 und 2010 sind 333 Menschen in Polizeigewahrsam gestorben.

In der Diskussion um Ursachen und Lösungen drohen die Stimmen der betroffenen Menschen erneut überhört zu werden. In den meisten Medien und bei der Regierung dominiert die Ansicht, dass es sich um sinnlose Gewaltakte einer moralisch bankrotten Jugend handele, die entsprechend hart angepackt werden solle. Erziehungsminister Michael Gove bezeichnete es als „lächerlich“, die Krawalle mit den Budgetkürzungen der konservativ-liberaldemokratischen Regierung in Verbindung zu bringen. Für Premierminister David Cameron waren die Riots „schlicht und einfach kriminelle Handlungen“, gegen die man „robust“ vorzugehen habe.

Robust war die Antwort bislang tatsächlich. Gerichte im ganzen Land arbeiten rund um die Uhr, um die Prozesse gegen rund 2.000 festgenommenen Jugendlichen zu bewältigen. Einige Liberaldemokraten haben Bedenken geäußert, ob beispielsweise der Entzug von Sozialleistungen für Randalierer nicht kontraproduktiv sein könnte.

So ähnlich sehen das auch viele Bewohner der armen Stadtteile – nicht nur Jugendliche, sondern vor allem Erwachsene. In Hackney versammelten sich am Samstag rund 1.500 Menschen zu einer Demonstration mit der Losung „Gebt unseren Kindern eine Zukunft“. Die Protestierenden kritisieren die Kriminalisierung der Jugend und fordern eine sachliche Auseinandersetzung mit den Problemen in ihren Stadtvierteln. Sie wollen die Gewalt nicht entschuldigen – der vier Todesopfer der Krawalle wird mit einer Schweigeminute gedacht -, aber dass alle Jugendlichen jetzt als gemeine Verbrecher dargestellt werden, dagegen wehren sie sich. Der 23-jährige Ricky etwa beklagt sich über die Berichterstattung in vielen Medien: „Es war völlig entmutigend. Wenn man versucht, Erklärungen für die Ereignisse zu finden, wird einem sofort vorgeworfen, die Krawalle zu entschuldigen – das ist doch völlig dumm.“ Ebenfalls zum Protest erschienen ist der renommierte Soziologieprofessor Paul Gilroy. Während des Marsches ins nördliche Tottenham ist er zwar nicht zu einem Interview bereit, sagt aber: „Alle wissen, dass es sich nicht um einfache Kriminalität handelt – die Polizei weiß es, die Regierung weiß es. Deshalb sind wir hier.“

Justin Baidoo, ein 29-jähriger Softwareentwickler und „Community-Aktivist“ aus Südlondon, kann seinen Zorn kaum verbergen. „Als die Banker die Welt in die Finanzkrise stürzten, gaben sie sich selbst massive Boni. Wenn hingegen ein Teenager ein Paar Turnschuhe klaut, sollen er und seine Familie ihre Wohnung verlieren?“ fragt er aufgebracht. „Für Leute aus Brixton oder Tottenham ist die Rezession noch lange nicht vorbei – hier herrscht Massenarbeitslosigkeit. Die Krawalle entzündeten sich zu einem guten Teil an Problemen, die im Zentrum unserer Gesellschaft stehen: Soll das System für die Reichen arbeiten oder für die normalen Bürger?“

Vorerst ist Ruhe eingekehrt in Hackney. Dass es in nächster Zeit erneut Auseinandersetzungen mit der Polizei geben wird, glaubt J. nicht. „Sie haben gesehen, wozu wir fähig sind. So schnell lassen sich die hier nicht wieder blicken.“

Peter Stäuber berichtet aus London.


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