TÜRKEI: Streit unter Frömmlern

Unter den islamistisch geprägten Kräften in der Türkei ist ein Machtkampf ausgebrochen, der die weitere Entwicklung des Landes nicht unerheblich beeinflussen könnte.

Hat, wie sich derzeit zeigt, entscheidenden Einfluss auf die machtpolitischen Entwicklungen in der Türkei: Islamistenführer Fethullah Gülen.

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu ist international kein sonderlich erfolgreicher Politiker. Seine neo-osmanische außenpolitische Doktrin hat ihn trotz oder gerade wegen des Hochhaltens der Hamas-Flagge bei jeder Gelegenheit längst auch im Nahen Osten viele Sympathien gekostet. Die Türkei entfernt sich unter anderem wegen der Unterstützung jihadistischer Rebellen in Syrien immer weiter von ihrem Ziel, als islamische Führungsmacht im Nahen Osten Anerkennung zu finden.

Dass die Türkei bei den Verhandlungen zum Syrien-Konflikt in Montreux anwesend ist und der Iran nicht, spiegelt keineswegs die Kräfteverhältnisse im Syrien-Konflikt wider, sondern ist ein Zugeständnis an Saudi-Arabien, den Bündnispartner der USA, das den Iran auf keinen Fall mit am Tisch haben wollte. Der iranische Präsident Hassan Rohani nutzte das Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos, um für die Position seines Regimes im Syrien-Konflikt zu werben. Dort sprachen auch Davutoglu und der saudische Prinz Turki al-Feisal. Alle forderten den Abzug der ausländischen Kämpfer – doch meinte der Iran ausschließlich sunnitische Jihadisten, Davutoglu und Feisal die iranischen Revolutionswächter und die libanesische Hizbollah.

Syriens Außenminister Walid al-Muallem hatte am Mittwoch voriger Woche in Montreux die Türkei beschuldigt, Terroristen auf ihrem Territorium auszubilden und ihnen logistische Hilfe zu bieten. Davuto?glu erwiderte darauf: „Ich habe nicht einmal die Absicht, etwas zu denen zu sagen, die schamlos Verbrechen gegen das eigene Volk verüben. Die Geschichte wird sie schlimm verurteilen.“ Die fürchterlichen Bilder von Folterungen in syrischen Gefängnissen, die in Montreux gezeigt worden waren, verglich er mit jenen, die man während der Nürnberger Prozesse gesehen habe, und bewies damit einmal mehr das Fehlen jeglichen diplomatischen Geschicks. Überdies trägt die Türkei durch die Unterstützung islamistischer Kräfte in Syrien derzeit maßgeblich dazu bei, diejenigen Oppositionsgruppen zu schwächen, die einen demokratischen Wandel anstreben. Interessant ist in diesem Zusammenhang das plötzliche Vorgehen der türkischen Polizei gegen die islamistische „Internationale Humanitäre Hilfsorganisation“ (IHH).

Die IHH ist der inoffizielle Sonderbotschafter von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo?gan und wurde international bekannt, weil sie auf dem Seeweg Hilfsgüter in den Gaza-Streifen bringen wollte. Am 31. Mai 2010 war die „Mavi Marmara“ von der israelischen Marine aufgebracht worden, nachdem diese zuvor angekündigt hatte, den Konvoi von sechs Schiffen daran zu hindern, die Blockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen. Beim Entern der „Mavi Marmara“ wurden neun Aktivisten getötet und über 40 Aktivisten sowie sieben israelische Soldaten verletzt. Die den Vorfall untersuchende UN-Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die israelische Marine zwar unangemessene Gewalt angewendet habe, die IHH aber auch unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe eine konfliktfördernde Politik betreibe. Das jetzige Vorgehen gegen die IHH ist ein Indikator für den Machtkampf, der zurzeit in der Türkei tobt.

Serkan Nergis, Sprecher der türkischen IHH, ist empört. „Alle unsere Computer wurden unrechtmäßig beschlagnahmt“, kommentiert er die jüngste Razzia in der IHH-Vertretung in Kilis nahe der syrischen Grenze. Am 14. Januar drang die Polizei in das Lager und die Büroräume der IHH ein, wohl um nach Rüstungsgütern zu suchen. Türkische Sicherheitskräfte hatten Ende Dezember eine Lieferung von Kriegsmaterial nach Syrien gestoppt. Polizisten hatten in Kirikhan in der Grenzprovinz Hatay einen LKW mit Raketen und Munition angehalten und zwei Türken sowie einen Syrer verhaftet. Die Fahrer versicherten, für die IHH Hilfsgüter nach Syrien zu transportieren.

Medienberichte, wonach die Aufständischen über die Türkei mit Waffen und Munition versorgt werden, dementiert die Regierung regelmäßig. Doch wurden in der Vergangenheit wiederholt Lieferungen mit Waffen auf dem Weg nach Syrien gestoppt. Erst im November war in der Türkei eine Lieferung von Kriegsgerät nach Syrien vereitelt worden. Das Material war bei der Überprüfung eines Lastwagens in der südlichen Provinz Adana entdeckt worden, in dem die Fahnder eigentlich Drogen vermutet hatten. Die türkische Regierung dementierte eine Mitwisserschaft. Die IHH bestreitet nun ebenfalls heftig, dass ein Lastwagen der Organisation in einen Fall von Waffenschmuggel verwickelt sei. Es gebe eine Vielzahl falscher Vorwürfe gegen die Hilfsorganisation, versicherte Nergis auf einer Pressekonferenz in Istanbul Mitte Januar wenig glaubhaft.

Eine UN-Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die IHH unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe eine konfliktfördernde Politik betreibe.

Interessanter als der der IHH vorgeworfene Waffenschmuggel selbst sind aber die Hintergründe seiner plötzlichen Entdeckung durch die türkische Polizei. Seit Mitte Dezember, als die Polizei überraschend drei Söhne türkischer Minister aufgrund von Korruptionsvorwürfen festnahm, jagt ein Skandal den nächsten. Auslöser ist ein Richtungsstreit der regierenden islamisch-konservativen „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) mit den Anhängern des einflussreichen, in den USA lebenden Islamistenführers Fethullah Gülen. Massenentlassungen und -versetzungen von Polizisten, Staatsanwälten und Richtern deuten darauf hin, dass die Gülen-Bewegung tatsächlich fest in der Judikative und Exekutive verankert ist und entsprechend großen Einfluss hat. Ihr wird seit Jahren nachgesagt, mit ihren Anhängern systematisch staatliche Institutionen unterwandert zu haben. Die derzeitige Krise weist auf erhebliche Meinungsverschiedenheiten hin. Die Polizei macht Jagd auf korrupte AKP-Politiker und ihre Günstlinge, während die AKP krampfhaft versucht, die Institutionen von Gülen-Anhängern zu säubern. Es lohnt sich also, die Entstehungsgeschichte und die Rivalität dieser beiden islamisch-konservativen Strömungen zu beleuchten.

Gülens religiöse Bewegung betreibt Privatschulen in der Türkei und im Ausland und einen Medienkonzern, der die AKP-nahen Publikationsorgane an Intellektualität übertrifft. Die Gülen-Gemeinde konkurriert bereits seit den Siebzigerjahren mit der Bewegung Millî Görü? von Necmettin Erbakan, aus der die AKP hervorgegangen ist. Erdogan war einst der Favorit Erbakans, bevor er sich 2001 von ihm lossagte und mit einigen Parteifreunden die AKP gründete.

Die Gülen-Bewegung hat es stets vermieden, parteipolitisch in Erscheinung zu treten, koalierte stattdessen im Geheimen mit den gerade politisch Mächtigen. Um im Staatsapparat wichtige Posten zu erobern, unterstützte sie alle Parteien, die Aussicht auf Einfluss auf die Regierungsgeschäfte hatten. Mal war das der konservative Süleyman Demirel, mal der kemalistische Bülent Ecevit. Auch die übrigen Größen der türkischen Politik, wie der konservativ-liberale Turgut Özal und die rechte Tansu Çiller, genossen die Unterstützung der Gülen-Gemeinde. Nachdem die AKP 2002 die Parlamentswahlen gewonnen hatte und die Regierung bilden konnte, koalierten beide Seiten etwa zehn Jahre lang ohne große Probleme. In dieser Zeit haben sie die Pfründe brüderlich geteilt und die Staatsposten paritätisch besetzt. Alles lief ohne große Störungen bis zum Zwischenfall mit der „Mavi Marmara“. Während die Gülen-Bewegung sich von der Gaza-Flottille distanzierte, machte sich Erdogan zu ihrem Befürworter und belastete die israelisch-türkischen Beziehungen.

In dieser Zeit bemühten sich die AKP und Erdogans Regierung zudem, die internationalen Sanktionen gegen den Iran zu umgehen. Gegen Gold kaufte die Türkei Erdgas und Öl aus dem Iran. Über die staatliche Halkbank wurden etwa 87 Milliarden US-Dollar auf Umwegen in den Iran oder an iranische Unternehmen transferiert. Es ist also kein Zufall, dass die türkische Polizei im Dezember in der Privatwohnung des Direktors der Halkbank, Süleyman Aslan, Millionen von US-Dollar in Schuhkartons sicherstellte und vor laufenden Kameras abtransportierte. Medienwirksame Bloßstellungen gehören in der Türkei seit Jahrzehnten zu den Methoden, politische Gegner zu entmachten.

Die Gülen-Bewegung ist nicht isolationistisch. Sie selbst übt durch den Bau von Schulen in 140 Staaten missionarisch internationalen Einfluss aus. Doch während die Gülen-Bewegung sich der „türkisch-islamischen Synthese“ verpflichtet fühlt und weitgehend nationalistisch geprägt ist, träumt vor allem Erdo?gan von einer Rolle als internationaler Tribun für die Muslime dieser Erde. Hamas, Muslimbruderschaft, al-Nusra-Brigaden, alle sind zu diesem Zweck willkommen. So heißt das Flüchtlingscamp, das die IHH von Kilis aus mit Lebensmitteln versorgt, „Palästina-Lager“. Doch gerade diese nach außen getragene Mildtätigkeit versucht die Gülen-Bewegung durch Razzien der Polizei zu entlarven. Außenpolitisch verfolgt die Gemeinde neutralere Positionen. Sie ist gegen eine Unterstützung des Iran und arabischer Jihadisten in Syrien. Ihr nahe stehende Medien verbreiteten Mitte Januar das Gerücht, al-Qaida plane Anschläge in türkischen Großstädten. Es geht der Gülen-Bewegung darum, die türkische Öffentlichkeit von der Gefährlichkeit der Regierungspolitik zu überzeugen.

Erdo?gan tut derzeit alles für den eigenen Machterhalt und merkt dabei nicht, dass er an dem Ast sägt, auf dem er sitzt. 2010 entmachteten AKP und Gülen-Bewegung gemeinsam das Militär und die kemalistische Staatselite durch die Anklage, sie hätten Geheimbünde gebildet und staatliche Institutionen für terroristische Aktivitäten missbraucht. Die Unterstützer Gülens in der Polizei und im polizeilichen Geheimdienst dürften genug belastendes Material gegen AKP-Politiker und Erdo?gan selbst in der Hand haben. Vorige Woche versuchte die Regierung, die Macht der Richter im Staat durch eine parlamentarische Kontrolle zu begrenzen. Interessant wird es sein, zu beobachten, wie sich Staatspräsident Abdullah Gül verhalten wird, der ein Veto gegen einen entsprechenden Gesetzentwurf einlegen kann.

Gül wird eine Nähe zur Gülen-Bewegung nachgesagt. Nicht, dass man diese als neuen Vorboten eines türkischen Frühlings sehen sollte. Die Gemeinde ist seit Jahrzehnten im „tiefen Staat“ integriert und ebenso wie die AKP ein wandelbares Gebilde aus wirtschaftlichen und politischen Interessen. Offensichtlich ist jedoch, dass die Gemeinde ihre Enthüllungen zu einem für die AKP ungünstigen Zeitpunkt einsetzt. Der Wahlkampf für die Kommunalwahlen Ende März beginnt und Erdogan möchte die Öffentlichkeit darauf vorbereiten, ihn im Sommer zum Präsidenten zu wählen. Dies will die Gülen-Gemeinde offenbar mit allen Mitteln verhindern.

Sabine Küper-Büsch arbeitet als freie Journalistin und lebt im Istanbul.


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