Auf die zunehmende Migration reagiert die EU an den europäischen Außengrenzen weiterhin mit Abschottung und Repression. In der spanischen Debatte über die Sicherung der Südgrenze wird die Brutalität des Grenzregimes anschaulich.
Hört oder liest man die gleiche Nachricht immer wieder, wird sie irgendwann zur Normalität. Sie verliert ihren Schrecken, ehrliches Entsetzen weicht routinierter Beileidsbekundung. Genau dies lässt sich seit langem an dem Massensterben an den europäischen Außengrenzen beobachten. Ein unvollständiger Nachrichtenüberblick der vergangenen Wochen: „Rund 800 Flüchtlinge haben versucht, den Grenzzaun der spanischen Nordafrika-Exklave zu überwinden“ („Taz.de“, 1. Mai), „Mehr als 20 Flüchtlinge vor Samos ertrunken“ („Spiegel Online“, 7. Mai), „Libyen: 40 Migranten ertrinken im Mittelmeer – 13 verdursten in Sahara“ („Süddeutsche.de“, 11. Mai), „Dutzende Flüchtlinge ertrinken vor Lampedusa“ („Hamburger Abendblatt“, 12. Mai). Je öfter Flüchtlingsboote sinken oder sich Hunderte in den Stacheldrahtzäunen Ceutas und Melillas verfangen, desto kleiner werden die Meldungen darüber. Öffentliche Aufschreie und anklagende Stellungnahmen in der Politik und den Feuilletons nehmen im gleichen Maße ab, wie die Zahl der vereitelten Fluchtversuche nach Europa zunimmt.
Vergangene Woche gab die europäische Grenzschutzagentur Frontex ihre jüngste Statistik bekannt: In den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden 42.000 Menschen bei dem Versuch aufgegriffen, illegal in die EU zu gelangen. Das sind dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Auf der Meeresroute von Libyen nach Italien wurde sogar ein Anstieg von 800 Prozent verzeichnet, allein dort wurden 26.000 Flüchtlinge festgesetzt. Selbst der stellvertretende Direktor der Flüchtlingsabwehrorganisation, Gil Arias-Fernandez, wies bei der Vorstellung der Zahlen vergangene Woche darauf hin, dass „Grenzschutz“ allein nicht die Lösung sei und die EU sich auch um die Probleme in den Herkunftsländern kümmern müsse.
Die Mitgliedsstaaten streiten sich derweil wieder über die Zuständigkeiten, die Grenzländer fühlen sich allein gelassen und fordern eine gemeinsame Migrationspolitik. „Europa rettet Staaten und Banken und lässt dann Mütter mit ihren Kindern sterben“, kritisierte Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi die EU. Sowohl der italienische als auch der libysche Innenminister drohten damit, Migranten die Weiterreise zu erleichtern, sollte die EU nicht mehr Unterstützung bei der Flüchtlingsabwehr leisten.
In Spanien hat die steigende Zahl der Flüchtlinge an der Südgrenze zudem eine innenpolitische Debatte ausgelöst. Anfang Februar waren 15 Migranten bei der spanischen Exklave Ceuta ertrunken, als sie schwimmend versucht hatten, den spanischen Strand zu erreichen. Noch im Wasser wurden sie von der spanischen Grenzpolizei mit Gummigeschossen und Rauchbomben angegriffen. Die Überlebenden wurden direkt am Strand wieder auf marokkanisches Gebiet gebracht.
Noch im Wasser wurden schwimmende Flüchtlinge von der spanischen Grenzpolizei mit Gummigeschossen und Rauchbomben angegriffen.
Hernach leugneten die Grenzpolizei Guardia Civil wie auch das Innenministerium zunächst das Geschehen. Der Generaldirektor der Guardia Civil, Arsenio Fernández de Mesa, bezeichnete die Vorwürfe als „ungerechte“ Behauptung, da es doch gerade die Grenzbeamten seien, die seit Jahren für die Migranten „ihr Leben riskieren“. Kurz darauf musste die Behörde den Einsatz zugeben, betonte aber, das Vorgehen sei aufgrund der Aggressivität der Flüchtlinge nötig gewesen. Die Guardia Civil veröffentlichte daraufhin als Beweis Videos der Überwachungskameras, die aber offensichtlich stark geschnitten worden waren. Mittlerweile sind Überwachungskameras aber nicht mehr die einzige Informationsquelle. So zeigten wenige Tage nach dem mehrfachen Totschlag veröffentlichte Amateuraufnahmen, wie spanische Polizisten unter Beleidigungen aus nächster Nähe auf die schwimmenden Flüchtlinge schießen.
Der Vorfall löste eine politische Krise aus, Rücktrittsforderungen an Innenminister Jorge Fernández Díaz wurden laut und selbst die Europäische Kommission verlangte eine Untersuchung. Stattdessen wurden jedoch weitere zwei Millionen Euro für den Ausbau der Grenzanlagen freigegeben. Anfang Mai gab Fernández Díaz zudem bekannt, die Arbeit des Grenzschutzes juristisch besser absichern zu wollen, damit diese „niemand mehr in Frage stellen kann“. Die Ad-hoc-Abschiebungen vor Ort, die nach übereinstimmender Meinung von Menschenrechtsgruppen rechtswidrig sind, sieht der Innenminister ebenfalls als ganz normale Rückführungen an der Grenze. Bis auf die vorläufige Anweisung, vorerst keine Gummigeschosse mehr einzusetzen, da sie für die „Zerstreuung“ von Menschengruppen nicht geeignet seien, hat sich wenig geändert.
Aber die spanische Debatte hat dazu geführt, dass die konkrete Situation an den Grenzen zum Thema wurde und die fast täglichen Versuche, über den Zaun zu gelangen, in den Medien ausführlich dokumentiert werden. Und erst hier wird das Ausmaß der alltäglichen Gewalt offenbar, die meist euphemistisch als „Tragödie“ abgetan wird. Worin das europäische Grenzregime besteht, zeigt sich, wenn man die Bilder von verzweifelten Menschen sieht, die in sechs Metern Höhe im Nato-Stacheldraht hängen und mit Feuerlöschern und Pfefferspray von spanischen Grenzbeamten daran gehindert werden, auf die andere Seite des Zauns zu springen. Wenn man sieht, wie die marokkanischen Polizisten im Anschluss auf die Flüchtlinge einschlagen, die es nicht nach Europa geschafft haben. Und wenn Augenzeugen berichten, wie europäische Polizisten angeschwemmte Leichen zurück ins offene Meer stoßen, damit sie auf afrikanischer Seite gefunden werden. Was währenddessen auf See vor den Küsten Italiens, Spaniens und Griechenlands geschieht, wo es überhaupt keine Zeugen gibt, kann man nur erahnen und den wenigen Berichten von Überlebenden entnehmen.
Zumindest die Toten vor der Festung Europa zu dokumentieren, hat sich ein neues journalistisches Projekt zur Aufgabe gemacht. Auf der Website „migrantfiles.com“ wird anhand von Grafiken, Fallbeispielen und selbstrecherchierten Informationen das Massensterben anschaulich und belegbar. Zudem wird offensichtlich, wie die Absicherung der Außengrenzen die Flüchtlinge auf immer längere und gefährlichere Routen zwingt. Laut den dort zusammengetragenen Informationen beläuft sich die Anzahl ertrunkener oder vermisster Flüchtlinge seit Beginn dieses Jahrhunderts auf über 23.000, dabei handelt es sich nur um die belegten und nachprüfbaren Fälle. Diese Statistik wird künftig hilfreich sein, um die Gewalt des europäischen Grenzregimes zu skandalisieren. Jedoch ist allen, die sich ernsthaft damit auseinandersetzen, das Ausmaß des Sterbens längst bekannt.
Das Problem ist vielmehr, dass Proteste und öffentliche Kritik innerhalb kürzester Zeit verpuffen, wie das Beispiel Griechenland zeigt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte bereits Ende 2011 aufgrund der unmenschlichen Behandlung von Migranten in Griechenland geurteilt, dass keine ungeprüften Abschiebungen in diesen „sicheren Drittstaat“ mehr stattfinden dürften. Im vergangenen November bestätigte der EuGH den Abschiebestopp. Ende April nun veröffentlichte Amnesty International seinen jüngsten Bericht zur Situation in Griechenland. Dieser zeigt, dass sich die Verhältnisse dort in der Zwischenzeit keineswegs gebessert haben: Systematische Menschenrechtsverletzungen und sogenannte push backs, bei denen Migranten auf offenem Meer zur Umkehr gezwungen werden, sind dort weiterhin an der Tagesordnung. Im März schossen dem Bericht zufolge griechische Grenzbeamte sogar mit scharfer Munition auf Bootsflüchtlinge. „Ein Mädchen war blutüberströmt. Es war, als ob ich immer noch im Krieg sei“, zitiert die Organisation einen der Flüchtlinge.
Amnesty International fordert Sanktionen gegen Griechenland, sieht zugleich aber auch eine Verantwortung der gesamten EU: Die Europäische Kommission habe Griechenland seit dem Bekanntwerden der Zustände im Jahr 2011 knapp 230 Millionen Euro für die Flüchtlingsabwehr zur Verfügung gestellt, aber nur 20 Millionen für die Aufnahme von Migranten.
Die Gewalt ist kein Ausrutscher, sondern fester Bestandteil der EU-Flüchtlingspolitik. Auch die neue Frontex-Richtlinie, die den Umgang mit Flüchtlingsbooten auf offener See juristisch regelt, zeigt, dass die Friedensnobelpreisträgerin namens EU trotz aller „Tragödien“ nicht von ihrer harten Linie abrücken will. Und für die Flüchtlinge, die es nach Europa geschafft haben, wird die Situation ebenfalls immer schwieriger. Deutschland plant gerade eine Verschärfung des Asylrechts, nach der bereits die illegale Einreise nach Europa einen Haftgrund darstellt.
Eine Entspannung der Situation für Flüchtlinge ist weder innerhalb der EU noch an den europäischen Außengrenzen in Sicht. Die Zehntausenden Migranten wiederum, die vor den Toren der Festung Europa auf ihre Chance warten, werden sich auch von zunehmender Repression nicht abhalten lassen. Vergangenes Wochenende versuchten erneut 700 Migranten, ins spanische Mellila zu gelangen. Seit den Todesfällen am Strand von Ceuta Anfang Februar haben damit fast 8.000 weitere Flüchtlinge versucht, die spanisch-europäischen Grenzzäune zu überwinden.
Thorsten Mense ist Soziologe und freier Journalist. Für die woxx berichtet er aus Spanien und Lateinamerika.