BRASILIEN: „Es geht nicht um die WM“

Im März 2013 formierte sich aus Unmut über Fahrpreiserhöhungen für den Stadtverkehr in den brasilianischen Großstädten breiter Protest gegen die Politik der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Bereits damals war absehbar, dass sich die Konflikte vor der WM verschärfen würden. Die woxx sprach mit Claudio R. Duarte, Daniel Cunha, Felipe Drago, Joelton Nascimento, Raphael F. Alvarenga und Rodrigo Campos Castro von der linken Zeitschrift „Sinal de Menos“ aus São Paulo.

Keine Befriedung, sondern Aufstandsbekämpfung: Die staatliche Drohgebärde durch Polizeiaktionen, wie hier am 16. April dieses Jahres in São Paulo, wird mit der WM nicht enden.

woxx: Hat sich die soziale Lage in Brasilien im Vergleich zum vergangenen Jahr verschlechtert?

Die tatsächlichen sozialen Auswirkungen und ökonomischen Folgen der WM sind noch nicht wirklich absehbar. Freilich behauptet die Regierung, dass alles für alle einen positiven Ausgang nehmen werde. Andererseits ahnen mittlerweile selbst die, die eigentlich gehofft hatten, aus der ganzen Sache Profit zu schlagen, dass das insgesamt ein eher enttäuschendes Ende nehmen wird. UN-Berater Pedro Trengrouse sagte im Interview auf BBC Brasil, die WM sei vor allem „eine große Party“, und es sei ein Fehler gewesen, die Spiele mit Erwartungen auf Verbesserungen der Lebensbedingungen zu verknüpfen, die schon längst hätten geleistet werden müssen. So komme es schließlich zu „ökonomischen Erwartungen, die gar nicht erfüllt werden können“. Zusammen mit den düsteren Wirtschaftsdaten zeichnet sich nun auch ein politischer Stimmungswandel ab. Denn ohne Zweifel hat sich die soziale Situation, insbesondere für die ohnehin ärmere Bevölkerung in den Favelas und die Obdachlosen in den großen Städten, seit vergangenem Jahr verschlechtert. Darüber hinaus ist die „Befriedung“ faktisch eine Art Belagerungszustand: Die Regierung verfolgt mit massiver Polizeipräsenz vielerorts eine Strategie präventiver Aufstandsbekämpfung.

Wie schätzen Sie die emanzipatorische Kraft der Proteste ein?

Während der sogenannten Nationalen Kampftage im Juni war die Desorientierung der traditionellen Linken auffällig: Parteien, Gewerkschaften, aber auch einige der klassischen sozialen Bewegungen haben einfach nicht verstanden, um was es dabei eigentlich ging. Weder waren dies Proteste gegen ein diktatorisch-autoritäres Regime wie beim „arabischen Frühling“, noch demonstrierte man wirklich gegen eine Sparpolitik wie in Europa. Die Forderungen der Bewegung waren, zumindest am Anfang, sehr konkret.

Dennoch waren die Proteste insgesamt von einer allgemeinen Unzufriedenheit bestimmt ? auch weil die offiziellen Medien dazu beitrugen, die politischen Forderungen immer unklarer, unkonkreter werden zu lassen. Zu Beginn der Proteste gab es ein artikuliertes Unbehagen darüber, dass eine machtvolle Politik das individuelle Leben bestimmt. Die Proteste waren zu Beginn also von der Erfahrung bestimmt, dass man ohne Regierung irgendwie besser dran wäre ? und das war für die herrschende Politik nun viel bedrohlicher als die zerbrochenen Fensterscheiben von Banken und die Plünderung von Geschäften. Und die herrschende Politik wird ja schließlich wesentlich durch den Partido dos Trabalhadores (PT) repräsentiert.

Spätestens ab Juni zeigte sich eine unüberbrückbare Kluft zwischen der parlamentarischen Politik und der radikalen Opposition. Hier schien plötzlich etwas Neues in Gang gesetzt zu sein. Für einen kurzen Moment hatte man das gute Gefühl, dass hier Geschichte gemacht wird: Offenbar hatten für einen Augenblick die Menschen das Interesse, sich ihre Zukunft wieder anzueignen. Den endlosen Versprechen der Reformpolitik, dass bald alles besser werde, wurde jedenfalls nicht mehr vertraut. Darin lag das utopische Potenzial, die emanzipatorische Kraft der Junitage. Die Loyalität aufzukündigen, scheint für den demokratischen Kapitalismus auch in Brasilien ein großes Verbrechen zu sein; es grenzt an Blasphemie, die Heiligkeit der parlamentarischen Demokratie in Frage zu stellen, um klar zu sagen, dass nichts, was von der Regierung kommt, das Leben der Marginalisierten verbessern wird. Hier radikalisierte sich die Politik, weil es nicht mehr im sozialdemokratischen Sinne darum ging, mehr oder weniger schlecht zu überleben. Die brutalen Banalitäten des alltäglichen Lebens nicht länger zu akzeptieren und nicht einfach für eine zukünftige Reform zu streiten, sondern hier und jetzt eine Veränderung der Lebensbedingungen zu fordern ? davon handelten die Kämpfe um den Nulltarif [im öffentlichen Transport; woxx] tatsächlich. Hier gab es bei den Protesten durchaus revolutionäre Momente; und es verwundert nicht, dass seither die Mainstream-Medien diesen radikalen Protest mit der organisierten Bandenkriminalität gleichsetzen.

Sie haben geschrieben, dass bereits im Juni 2013 mit der Formierung der Massenproteste sich der politische Charakter der Bewegung verändert habe. Die radikalen Positionen wurden isoliert, ein mitunter autoritär geführter „Kampf“ richtete sich diffus „gegen Korruption“. Wie ist heute das Verhältnis der Proteste zur Situation in Brasilien zu beschreiben?

Die Bewegung, die im Februar 2013 ihren Anfang nahm, war zunächst eindeutig eine linkspolitische Bewegung. Die Medien trugen ihren Teil dazu bei, die Proteste zu zerstreuen, als klar wurde, dass sie nicht ohne weiteres zu stoppen waren. Eine politische Entleerung fand statt, als die Forderung nach Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr durch die nichtssagende Parole „gegen Korruption“ ersetzt wurde. Damit konnte allerdings auch die alte, autoritäre Mittelschicht Brasiliens mobilisiert werden, zusammen mit den üblichen populistischen Ressentiments. Konservative Kräfte propagierten alsbald eine Form der Rechtsstaatlichkeit, die sich bei der politischen Legitimation der Militärregierung bediente. Die grausamen Resultate dieser regressiven Wendung der Proteste sind etwa eine bedrohliche Zunahme an Lynchjustiz oder die bewaffneten Bürgerwehren, die auf die marginalisierte, schwarze Bevölkerung losgehen. Die Regierung trägt ihren Teil dazu bei, wenn jetzt, um die WM-Touristen nicht zu stören, die Obdachlosen brutal aus dem Stadtbild entfernt werden.

Die Proteste waren von Anfang an von der Erfahrung bestimmt, dass man ohne Regierung irgendwie besser dran wäre ? und das ist für die herrschende Politik viel bedrohlicher als zerbrochene Fensterscheiben.

Die Konservativen versuchen derzeit, die Position von Dilma Rousseff zu destabilisieren, und erwarten einen Regierungswechsel bei den Wahlen im Oktober. Der PT spielt dem zu, sofern er selbst die Arbeitskämpfe in den vergangenen Jahren weitgehend entpolitisiert hat. Gleichzeitig haben sich vor der WM aber auch soziale Bewegungen und Arbeitskämpfe konsolidiert. Dass viel für den reibungslosen Ablauf der WM getan wird, aber nichts für die einfachsten Belange des täglichen Lebens, provoziert freilich die Proteste von zum Beispiel der Arbeiter-Obdachlosen-Bewegung (MTST). Die Nulltarif-Bewegung hat es immerhin geschafft, dass die Fahrpreise, etwa in Porto Alegre, heute niedriger sind als vor einem Jahr. Schließlich haben sich bei den Streiks der Straßenreiniger in Rio oder dem Busfahrerstreik in Porto Alegre auch wieder Formen einer längst verloren geglaubten Klassensolidarität gezeigt, die weit über die unmittelbaren Kämpfe hinauswies. Was sich an emanzipatorischer Praxis in den nächsten Monaten und Jahren in Brasilien entwickeln wird, wird vor allem davon abhängig sein, inwieweit es gelingt, den Forderungen der Protestbewegungen eine radikale, konkrete Perspektive zu geben.

Können der PT und Dilma Rousseff nicht weiterhin mit einer breiten Unterstützung der Bevölkerung rechnen? Immerhin sind entscheidende Teile der Reformen, etwa die Sozial- und Rentenversicherung, umgesetzt worden.

Als unter der Lula-Regierung 2008 entschieden wurde, Brasilien zum Austragungsort der WM 2014 zu machen, wurde das als Symbol dafür genommen, dass Brasilien jetzt endgültig in der „Ersten Welt“ angekommen sei. Bei den kommenden Wahlen, drei Monate nach der WM, wird es für den PT und die Regierung schwierig sein, an diesem Bild festzuhalten: Die Stadienbauten ebenso wie der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs waren wesentlich teurer als ursprünglich berechnet; auch hier spielt die vielgescholtene Korruption in Brasilien durchaus eine Rolle. Viele der geplanten Bauten werden zur WM-Eröffnung gar nicht fertig ? in Cuiabá beispielsweise sind nur 19 von immerhin 56 Bauvorhaben diese Woche bezugsfertig geworden. Ferner bringt die WM die Regierung in eine defensive Position. Es ist natürlich, wenn die Weltöffentlichkeit zuschaut, etwas mehr Zurückhaltung im Umgang mit Protesten geboten. Wenn nun die MTST oder die Transportarbeiter demonstrieren, kritisieren einige, dass das keineswegs die Linke stützt, sondern die konservative Opposition stärkt und den PT schwächt. Schließlich verfolgt auch die Regierung die Strategie, die Proteste zu neutralisieren.

Ist zu erwarten, dass sich nun die politische Linke über die Rolle der Regierung zerstreitet?

Unabhängig vom Ausgang der Wahlen im Oktober glauben wir, dass eine radikale emanzipatorische Politik kaum die Chance hat, konkret zu werden. Wir sind uns einigermaßen einig darüber, dass sich die Politik des PT wohl erschöpft hat; selbst die sozialdemokratische Politik lässt sich unter der Regie des Profitmotivs kaum noch glaubhaft vermitteln. Gleichzeitig haben es die politischen Gruppierungen und Parteien links vom PT bisher noch nicht geschafft, ein gemeinsames Programm zu entwickeln. Manche sind hier durchaus progressiv, manche aber auch einfach naiv, einfältig und regressiv. Jedenfalls repräsentieren diese Gruppen kaum eine radikallinke Alternative zum PT und sie sind auch nicht in der Lage, eine breite Bewegung zu mobilisieren. Dennoch ist die Rolle der radikalen Linksparteien keineswegs zu vernachlässigen. Nun versuchen wir von „Sinal de Menos“, eine emanzipatorische Praxis auch theoretisch zu stützen und mit einem kritischen Denken schließlich die radikalen Forderungen des Protests wachzuhalten und womöglich die außerparlamentarische Bewegung zu stabilisieren.

Gibt es Hinweise darauf, wie es mit den Protesten nach der WM weitergeht?

Die Parole „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ ist fast schon der rote Faden dieser Proteste, so dass in gewisser Weise also die Nulltarif-Bewegung und die radikalen Elemente der Bewegung der Junitage als Erben der globalisierungskritischen Kämpfe von Chiapas, Seattle und Porto Alegre verstanden werden können. Jedenfalls sollte man nicht übersehen, dass die Proteste im vergangenen Jahr nicht von der WM ausgelöst wurden, sondern sich sehr konkret gegen die Busfahrpreiserhöhungen wie überhaupt gegen die brutalen Lebensbedingungen in den großen Städten richteten. Die WM und ihre spezifisch medial-öffentliche Aufmerksamkeit macht die sozialen und politischen Verhältnisse jetzt nur ein wenig sichtbarer; insofern werden die Demonstrationen auf den Straßen für die Massen zum wichtigen Symbol für alles, was in der brasilianischen Gesellschaft falsch ist.

Wenn also die Proteste nicht erst mit oder wegen der WM angefangen haben, werden sie sicherlich auch nicht aufhören, wenn das Fußballspektakel vorbei ist. Jedenfalls ist mit der WM nicht zu erwarten, dass alles wieder von vorn anfängt; und wahrscheinlich wird es danach auch nicht einfach wieder seinen „normalen“ Gang nehmen.


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