Game-Empfehlung: Return of the Obra Dinn

Wie spannend kann es sein, eine*n Versicherungsinspektor*in zu spielen? An Bord des verlassenen Schiffes Obra Dinn wandelt sich die Bürokratie 
schnell zu einem Detektivabenteuer, das seinesgleichen sucht.

Die Retro-Grafik von „Return of the Obra Dinn“ verstärkt die morbide Stimmung, die an Bord des verlassenen Schiffes herrscht. (Screenshot: Lucas Pope/3909)

1807, vor der Küste im englischen Falmouth. Das Handelsschiff Obra Dinn ist zurückgekehrt, nachdem es vier Jahre lang verschollen war. An Bord ist niemand mehr, nur die Skelette einiger Crewmitglieder und Passagiere zeugen noch davon, dass das Schiff wohl ein schreckliches Schicksal ereilt hat. In der Rolle eines Versicherungsinspektors liegt es an dem*der Spieler*in herauszufinden, was 1803 auf der Reise von England nach Asien passiert ist.

Zwei magische Gegenstände helfen dabei: Ein Buch, das eine Personenliste, Karten, Zeichnungen und viele leere Seiten enthält. Außerdem eine magische Taschenuhr – Memento Mortem – die den*die Inspektor*in zum Todeszeitpunkt einer jeden Leiche führen kann. Die erste Leiche liegt vor der Kabine des Kapitäns. Aktiviert man die Taschenuhr, versinkt alles im Dunkeln, ein Streit zwischen Personen ist zu hören. Dann ist die Szene zu sehen, in der die Person gestorben ist: Wie eingefroren steht der – mutmaßliche – Kapitän mit nacktem Oberkörper in seiner Tür und feuert eine Pistole ab.

Nach und nach finden die Spieler*innen mehr Leichen und können in immer mehr Todeszeitpunkten herumstöbern. Das anfangs leere Buch füllt sich immer weiter und zeigt jeden Todesfall und jede vermisste Person der Obra Dinn an. Der*Die Inspektor*in muss immer die gleichen zwei Fragen beantworten: Wer ist diese Person und welches Schicksal ist ihr widerfahren? Immer wenn dies für drei Tote richtig eingetragen wurde, werden die Daten magischerweise von Handschrift in gedruckte Lettern übertragen. 60 Schicksale gilt es zu klären – eine Aufgabe, die am Anfang schier unmöglich scheint.

Nach den ersten Rückblenden wirkt es noch so, als habe sich auf der Obra Dinn ein relativ mondänes Drama abgespielt. Im Laufe des Spiels stellt sich jedoch heraus, dass wohl auch übernatürliche Kräfte mit im Spiel waren, die für das Verschwinden der Besatzung gesorgt haben. Dadurch, dass die Rückblenden nicht chronologisch gezeigt werden, ergibt sich erst nach und nach ein vollständiges Bild von dem, was sich eigentlich zugetragen hat.

Segelschiff mit Retrografik

„Return of the Obra Dinn“ ist in sogenannter „1-bit“-Darstellung gehalten, also komplett in monochromer Rastergrafik. In den Einstellungen lassen sich die Farbschemas verschiedener Computersysteme der 1980er-Jahre auswählen. Das trägt, ebenso wie der großartige, stimmungsvolle Soundtrack, sehr dazu bei, eine morbide und beklemmende Stimmung aufzubauen.

Das verlassene Schiff voller Skelette ist geisterhaft und leer, überall sind Spuren des Verfalls zu sehen. Auch in den Rückblenden, in denen man teilweise auch in Bereiche des Schiffes laufen kann, wo gerade niemand stirbt, ist die Stimmung bedrückend. Das liegt sicherlich auch daran, dass das Leben an Bord eines Segelschiffes nicht sonderlich angenehm war: eng, beklemmend und ohne Möglichkeit, zwischenmenschlichen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Kommen übernatürliche Faktoren obendrauf, wundert eine*n das Schicksal der Obra Dinn nicht mehr.

„Return of the Obra Dinn“ ist eins der wenigen Computerspiele, die das Gefühl vermitteln, man sei wirklich so etwas wie ein*e Detektiv*in. Jedes der 60 Schicksale lässt sich durch Anhaltspunkte im Spiel eindeutig lösen: Manche werden während ihrer Todesszenen mit Namen angesprochen und lassen sich so leicht zuordnen, bei anderen muss man wirklich gut kombinieren. Zum Glück lässt sich jede Rückblende beliebig oft erkunden, denn häufig ist der entscheidende Hinweis auf die Identität einer Person beim Todeszeitpunkt einer anderen versteckt. Die Zeichnungen, auf denen verschiedene Szenen des Lebens an Bord dargestellt sind, sind ebenfalls eine große Hilfe: Wer trägt welche Uniform, wer steht neben wem und in welchem Verhältnis könnten die Figuren zueinander stehen?

Dadurch, dass das Spiel nur bei drei richtig zugeordneten Personen und Todesarten ein Feedback gibt, ist stumpfes Durchprobieren nur in den wenigsten Fällen überhaupt möglich. Die Spieler*innen sind also zum detektivischen Arbeiten gezwungen. Die Liste der möglichen Todesarten ist lang und ausufernd, geradezu bürokratisch – immerhin spielt man nicht die Rolle eines übernatürlichen Ermittlers, sondern die eines Versicherungsinspektors. Das passt auch zum Entwickler: Lucas Popes erster großer Hit nannte sich „Papers, please“ und versetzte die Spieler*innen in die Rolle eines Grenzbeamten, der Pässe und Visa kontrollieren musste.

Ohne Akribie kein Spaß

Die Akribie, die auf der Obra Dinn von den Spieler*innen verlangt wird, macht paradoxerweise einen Großteil des Spielspaßes aus. Mit jedem neuen Hinweis, mit jedem neu entdeckten Detail wird man sich sicherer in seinen Vermutungen. Jedes Mal, wenn drei Tote richtig identifiziert wurden, hat man das Gefühl, das große Rätsel bald gelöst zu haben. Manchmal mag es frustrierend sein, zum zehnten Mal durch eine Rückblende zu laufen und zu versuchen, ein weiteres Detail zu finden – aber nie so sehr, dass man aufgeben möchte.

Man erfährt durch die kurzen Vignetten erstaunlich viel über die Menschen und ihr Leben an Bord der Obra Dinn. Die Geschichte, die Pope nur über Rückblenden erzählt, würde auch einen exzellenten Film hergeben. Doch das Spiel bietet bietet eine ganz andere Erfahrung: Man erlebt die Tragödien an Bord hautnah, ohne je wirklich beteiligt zu sein, und wird so zum*zur Chronist*in der 60 Schicksale. Ein Abenteuer, das sich auch einige Jahre nach dem Erscheinen des Spiels immer noch lohnt.

Für PC, Mac, Xbox, Playstation und Switch, ca. 17 Euro.

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