Gesellschaftskritik & Islam: Verräterische Stille

Jean Birnbaum stellt in seinem neuesten Buch die Frage, warum sich gerade die Linke so wenig für das religiöse Moment im Jihadismus interessiert. Wichtiger noch als die Antworten, die Birnbaum anbietet, sind die Fragen, die er sich und seinen LeserInnen stellt.

„La question religieuse reste taboue pour les ésprits sécularisés“: Autor Jean Birnbaum ist auch Chefredakteur des „Monde des livres“. (Foto: Wikimedia)

„La question religieuse reste taboue pour les ésprits sécularisés“: Autor Jean Birnbaum ist auch Chefredakteur des „Monde des livres“. (Foto: Wikimedia)

Wenn es um die Attentäter von Orlando und Nizza oder um die Vielzahl der Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht, die sich auf den Weg nach Syrien und in den Irak machen, um dort in den Reihen des Islamischen Staats zu kämpfen – sehr häufig zeigen sich Debattenbeiträge bemüht, eine zentrale Rolle der Religion in Bezug auf deren Motive in Frage zu stellen. So wichtig der Verweis auf die sozialen, psychologischen und ökonomischen Zusammenhänge ist, in denen sich Menschen Gruppierungen wie dem Islamischen Staat anschließen, so fragwürdig bleibt es doch seinerseits, wieso angesichts dieser Einflussfaktoren der Bezug auf den Islam nicht mehr relevant sein soll. Auch in der Linken wird ein maßgeblicher Einfluss des Religiösen meist bestritten, vor allem habe der Jihadismus nichts mit dem Islam zu tun.

Der französische Psychoanalytiker Fethi Benslama hingegen weist in seinen Arbeiten gerade auf die Bedeutsamkeit einer Verschränkung dieser Motive hin, wie er sie nicht nur in seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern auch als Resultat der klinischen Arbeit beschreiben kann. Benslama, der nicht nur als Professor für Psychopathologie an der Universität Paris-Diderot, sondern in einem Sozialdienst in St. Denis als Psychoanalytiker tätig ist, beobachtet seit vielen Jahren, wie sich bei Muslimen ein Über-Ich herausbilde, eine Gewissensinstanz also, die man in Anlehnung an Freud’sche Termini als „surmusulman“, als „Über-Muslim“ bezeichnen könne. Diese Instanz sei eine durchaus quälende und marternde. Sie artikuliere sich in dem Selbstvorwurf „de ‚n‘être pas assez musulman‘“ und setze sich in einen glühenden Glaubenseifer um.

Benslama führt das nicht zuletzt auf den bald hundert Jahre währenden Einfluss des Islamismus zurück, der in den Debatten allzu häufig nur aus der Perspektive seiner politischen Dimension zu begreifen versucht worden sei: „Il me semble en effet que l’islamisme a été trop souvent traduit dans la langage des théories modernes du politique (l’islam politique), oubliant que sa visée fondamentale est la fabrication d’une puissance ultra-religieuse qui renoue avec le sacré archaïque et la dépense sacrificielle, même si elle use d’adjuvants de la technologie moderne.“

In seinem Buch „Un silence religieux – La Gauche face au Djihadisme“ stellt sich Jean Birnbaum die Frage, warum das religiöse Moment in der Motivation des Islamismus gerade in der Linken so standhaft ignoriert wird. Birnbaum, der Chefredakteur von „Le Monde des livres“ ist, versucht zum einen herauszufinden, warum lieber alle möglichen sozialen, ökonomischen und psychologischen Argumentationsweisen aufgefahren werden, als endlich einmal den Aspekt der Religion ernst zu nehmen. Diese Weigerung werde selbst um den Preis einer völligen Entmündigung derer aufrechterhalten, über die dabei gesprochen wird. So hätten die Attentäter auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ und den jüdischen Supermarkt sich seit Jahren mit den religiösen Texten des Islamismus beschäftigt und sich dann auch entsprechend artikuliert. Indes habe ihnen niemand zugehört. Zum anderen möchte Birnbaum die Linke zum Umdenken bewegen, Anstoß geben, diesen „silence religieux“ endlich zu durchbrechen.

Birnbaums Buch ist eine spannend zu lesende historische Recherche und eine Streitschrift zur Rettung der Linken zugleich.

Birnbaum verortet die Stummheit der Linken zunächst in dem alten Dilemma, sich jede Kritik an den Entrechteten, Widerständigen oder Revolutionären zu verbieten, für die man Empathie zeigt, oder mit denen man sich solidarisiert, so wie einst gar Kritik an Stalin als Kritik am Kommunismus denunziert worden sei. Das möchte Birnbaum ändern. Ihm geht es daher auch nicht um eine fundamentale Religionskritik, sondern um zweierlei: „d’une part, combattre l’amalgame entre islam et terrorisme, et pour cela dissocier la foi musulmane de sa perversion islamiste; d’autre part, prendre pleinement en compte la dimension religieuse de la violence djihadiste.“

Birnbaum nutzt seinen Essay, um die historische Blindheit der Linken gegenüber islamistisch motivierten revolutionären Bewegungen nachträglich aufzuhellen. In zwei spannenden und aufschlussreichen Kapiteln setzt er sich mit der Haltung der Linken gegenüber der algerischen Unabhängigkeitsbewegung und gegenüber der islamischen Revolution im Iran auseinander. Bis heute, so Birnbaum, hätten sich nur eine Handvoll jener „Pieds-Rouges“ der französischen Linken, die sich mit der algerischen FLN solidarisiert hatten, selbstkritisch mit der Rolle des Islam in dieser Bewegung auseinandergesetzt; eine ignorante Haltung, die mit dieser Generation mittlerweile auch im politischen Establishment Frankreichs angekommen sei. Ein weiteres Kapitel vergleicht Motivation und Dynamik der Inter-Brigadisten im Spanischen Bürgerkrieg mit jener der Adepten des Jihad.

Einführend nähert sich Birnbaum der Problemstellung, in dem er unter anderem Bezug auf den Philosophen Marcel Gauchet nimmt. Er führt aus, dass die Linke für das gesellschaftliche Beschweigen der Rolle des Islam im Jihadismus zentral sei. Sie gehe von der Vorstellung aus, dass mit der Veränderung der Lebensverhältnisse der Menschen auch die Religion ihre Macht verliere, weshalb dieser in der gesellschaftlichen Analyse keine zentrale Beachtung zu schenken sei. Birnbaum meint, im Zuge der Säkularisation sei in vielen Gesellschaften jeder Begriff davon verloren gegangen, welche Macht die Religion einst hatte, als sie noch jede Dimension menschlichen Lebens und Zusammenseins ergriff. Wer das nicht mehr verstehe, könne auch von der Wirkungsmacht des Islam in manchen Ländern und sozialen Milieus keine Vorstellung entwickeln. „Être religieux, c’est obéir à une parole qui touche à chaque aspect de l’existence, et d’abord au corps.“

Unter Berufung auf verschiedene Intellektuelle des Islam stellt Birnbaum zurecht fest, diese kämen nie auf die Idee zu behaupten, der Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun. Zudem argumentiert er, dass es gerade das Problem sei, eine klare Grenze zwischen beiden zu ziehen: „Car si par ‘islam’ on entend l’ouverture spirituelle par opposition à la violence dogmatique, alors force est de constater que cet ‚islam’-là est aujourd’hui largement marginalisé dans les lieux où se transmet et s’enseigne la tradition musulmane à travers le monde.“

Birnbaums Buch ist eine spannend zu lesende historische Recherche und eine Streitschrift zur Rettung der Linken zugleich. Denn es ist eine linke Perspektive, aus der heraus er argumentiert. Sie zieht sich in dem Punkt zusammen, dass die Religion eine „force autonome“ werden könne, und genau das werde von der Linken verkannt. Der Autor bezieht sich hierbei ausdrücklich auf Marx. Zurecht betont er gegenüber einer vulgärmaterialistischen Auffassung, wonach Religion lediglich der metaphysische Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse sei und also ein Oberflächenphänomen, daher komme es allein auf deren Veränderung an, die Notwendigkeit der Ideologiekritik. Dennoch bekommt auch er die dialektische Verschränkung von Autonomie und Heteronomie der Religion als Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht recht zu fassen, und begreift sie letztlich als tatsächlich autonom, als sich entwickelnd „indépendamment de la réalité sociale“.

Demgegenüber hat Marx in seinen Arbeiten, insbesondere mit seiner „Fetischkritik“ die reale Wirkungsmacht von Phänomenen wie der Religion herausgearbeitet. Er wollte nicht nur darüber aufklären, warum gesellschaftliche, von Menschen kollektiv erzeugte Hervorbringungen als unabhängig von ihnen existierende „beseelte“ Phänomene „erscheinen“. Er wies auch nach, dass sie ihrerseits materielle Gestalt annehmen und so auf die Verhältnisse zurückwirken, nicht weniger „real“ sind als andere, vermeintlich realere Aspekte der Gesellschaft. Daher sah Marx in der „Kritik der Religion“ gar „die Voraussetzung aller Kritik“. Den Anspruch, diesen „realen Schein“ der Autonomie der Religion genauer begreifbar zu machen, verfehlt der Autor leider.

Dennoch ist Jean Birnbaums Buch äußerst inspirierend. Wichtiger noch als die Antworten, die er anbietet, sind die Fragen, die er zu formulieren versteht. Das Buch bildet hoffentlich nur einen Grundstein einer längst überfälligen Debatte. Etwa darüber, dass das Problem, das der Islam hat, nicht von seinen Rändern her, sondern aus dessen Zentrum rührt. Essentialisiert wird er zudem nicht in erster Linie von außen, sondern von jenen, die die religiöse und theologische Deutungshoheit über ihn behaupten und ihn als statisch-archaische, gegen jede kritische Reflexion zu verteidigende Angelegenheit verstehen.

Wie Fethi Benslama, der sogar von einem „état de belligérance civile permanente entre musulmans“ seit Beginn des 20. Jahrhunderts spricht, macht auch Birnbaum auf den inner-islamischen Konflikt aufmerksam, in dem Stimmen, die sich um eine islamische Aufklärung und für eine im Zeichen des schariatischen Islam unterdrückte Kultur des Zweifels bemühen, angefeindet, verfolgt und umgebracht werden, obwohl sie ohnehin nur eine Minderheit sind. Von der Linken, auch das macht die Lektüre von Birnbaums Buch deutlich, haben sie bislang keine Hilfe zu erwarten, und es gibt auch keine Anzeichen, dass sich daran etwas ändern wird. Es scheint, als müsse ein Reaktionär nur laut genug „allahu akhbar“ schreien, damit ihm nicht Feindschaft, sondern rationalisierendes Verständnis zuteilwird. In Bezug auf den Islamismus sei es aus der Sicht der Psychoanalyse die Aufgabe, „les forces collectives de l’anticivilisation au cœur de l’homme civilisé et de sa morale“ zu untersuchen, so Benslama in seinem Buch über das „désir de sacrifice“. Auch das ist es, was der von Birnbaum kritisierte „silence religieux“ verrät: Der antizivilisatorische Reflex macht ganz offensichtlich vor der Linken nicht halt.

Jean Birnbaum – Un silence religeux : 
La gauche face au djihadisme. 
Seuil, 208 pages.
Fethi Benslama – Un furieux désir de sacrifice : Le surmusulman. 
Seuil, 148 pages.

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