Virtuelles Sammelkartenspiel: Inscryption

In „Inscryption“ ist man in einer einsamen Hütte mit einem Menschen, der total von einem mysteriösen Kartenspiel eingenommen ist, gefangen. Dieses Horrorszenario ist gruseliger, als man auf den ersten Blick denkt – und wirklich empfehlenswert.

Viele Games versuchen, Sammelkartenspiele ins Digitale zu übersetzen: Keinem ist das bisher so gut gelungen wie Inscryption. (Screenshots: Daniel Mullins Games/Devolver Digital)

Es ist eine Situation, die viele Menschen kennen: Man ist in einer sozialen Situation, aus der man nicht so leicht herauskann, und fühlt sich gezwungen, ein Gesellschaftsspiel zu spielen, zum Beispiel an den Weihnachtsfeiertagen. Dieses Spiel wurde von einer wohlwollenden, aber etwas übermotivierten Person mitgebracht, die alle anderen durch zwischenmenschlichen Druck dazu zwingt, mitzuspielen. Womöglich ist das Spiel überaus komplex und die Regeln werden erst nach und nach klar. Inscryption fühlt sich ganz ähnlich an.

Im Spiel ist die Situation sogar noch etwas bedrohlicher. Als Spieler*in ist man in einer kleinen Holzhütte gemeinsam mit dem „Spielleiter“ Leshy gefangen. Der zwingt eine*n, ein merkwürdiges Sammelkartenspiel namens Inscryption zu spielen – und droht mit dem Tod, sollte man verlieren. Man sitzt also vor dem Computer oder der Konsole und spielt einen Menschen, der in einer Hütte gefangen ist und ein Kartenspiel spielt.

Einerseits heißt das, dass man zwischen den einzelnen Partien herumlaufen und die Hütte untersuchen kann, in der es mehrere Rätsel zu entdecken und lösen gibt. Andererseits heißt das auch, dass die Körperlichkeit eines Kartenspiels simuliert wurde. Anders als bei anderen virtuellen Kartenspielen sieht man nicht die Karten auf der Hand und auf dem Spielfeld gleichzeitig, sondern muss sich vorbeugen, um die Karten des Gegenübers genau erkennen zu können.

Das Spielprinzip erinnert an echte Sammelkartenspiele wie Pokémon oder Magic. Auch hier werden Kreaturen in den Kampf gegeneinander geschickt: Es handelt sich um Waldtiere, teilweise echt, teilweise übernatürlich. Um eine Karte spielen zu können, muss zuerst ein Blutzoll bezahlt werden. Jede Kreatur braucht eine gewisse Menge „Blut“, um ins Spiel kommen zu können. Dazu müssen Karten geopfert werden, die bereits auf dem Spielfeld liegen.

Virtuell und analog

Am Anfang eines jeden Zuges kann man sich zwischen einer Karte von zwei möglichen Stapeln entscheiden. Zieht man ein Eichhörnchen, das als – beinahe – einzige Karte gratis gespielt werden kann? Oder kann man bereits eine der mächtigeren Karten spielen, indem man eine opfert, die bereits auf dem Spielfeld liegt? Jeder Spielzug sollte also möglichst vorausgeplant und gut überlegt sein. Bei den Entscheidungen hilft nicht unbedingt, dass manche Karten anfangen, mit dem*der Spieler*in zu reden, und so versuchen, möglichst nicht geopfert zu werden.

Zwischen den Parteien rollt der Spielleiter eine Karte aus, auf der eine Spielfigur bewegt wird. Verschiedene Pfade mit verschiedenen Stationen können gewählt werden. So kommt die Spielfigur an Stationen vorbei, die neue Sammelkarten, ein düsteres Ritual für den Knochengott, ein Lagerfeuer von Kannibal*innen und ähnlich morbide Ereignisse versprechen. Der Spielleiter nutzt Masken und Requisiten, um diese Elemente des Spiels darzustellen.

Das ist durchaus als Kommentar auf den Trend zu virtuellen Kartenspielen zu sehen, denn Chefentwickler Daniel Mullins ist bekannt für Spiele, die Metakommentare über die Videospielindustrie machen. Sein erstes eigenes Spiel „Pony Island“ persiflierte zum Beispiel alte Arcade-Automaten. Die Konventionen des Deckbuilding-Genres, indem „Karten“ eine rein spielmechanische Idee sind, die auch anders illustriert werden könnte, dekonstruiert Inscryption. Beispielsweise durch einen „Bosskampf“, der nur deswegen zum Bosskampf wird, weil der Spielleiter eine Holzmaske aufsetzt und einen Akzent nachahmt. Ein Videospiel hätte jede Möglichkeit, den Spielleiter tatsächlich in einen mörderischen Goldgräber zu verwandeln. Inscryption entscheidet sich jedoch dazu, ein analoges Kartenspiel zu simulieren.

Die Horrorelemente in Inscryption beziehen sich zwar zum Teil auf die Karten, die geopfert werden müssen, spielen jedoch hauptsächlich in der Holzhütten-Rahmenhandlung. Nicht nur, dass die Spielfigur um ihr Leben fürchten muss, wenn sie verliert. Sie kann sich auch entscheiden, ihre körperliche Unversehrtheit dem Spielerfolg zu opfern. Der Spielstand wird mit goldenen Zähnen auf einer Waage festgehalten.

Durch Gegenstände, die im Laufe des Spiels eingesammelt werden können, ist es möglich, den eigenen Punktestand zu manipulieren: Zur Auswahl steht eine Zange und ein Messer. Mit Letzterem lässt sich ein Augapfel opfern – mit dem etwas hinderlichen Nachteil, dass ein Teil des virtuellen Sichtfensters verschwindet. Auch, wenn das alles nur virtuell ist, wirken diese selbstverletzenden Aktionen äußerst schwerwiegend.

Auge um Auge, Zahn um Zahn

An dieser Stelle könnte eigentlich alles aufhören: Ein gutes Deckbuilding-Game mit einer einfachen, aber überzeugenden Spielmechanik, eine gruselige Rahmenhandlung, die noch dazu ein Kommentar auf die Videospielewelt ist – alles Zutaten eines erfolgreichen und gelungenen Spiels.

Doch neben dem eigentlichen Spiel gibt es noch eine weitere Rahmenhandlung. Darin geht es um einen Videoblogger, der vor laufender Kamera Sammelkartenpäckchen aufreißt und die Karten begutachtet. Eines Tages stößt er auf alte Inscryption-Karten; auf eine sind mit Bleistift Koordinaten geschrieben. Seine Geschichte kann man mit fortschreitendem Spiel in Form von kurzen Videos verfolgen. Diese sind ein Rahmen für das, was weiter in dem Spiel passiert. Entkommt man der Hütte, ist das Spiel nämlich bei Weitem nicht vorbei, sondern beginnt erst so richtig.

Auch der Fakt, dass Inscryption eine Geschichte mit Anfang und Ende hat, ist in seinem Genre eher außergewöhnlich. Deckbuilding-Spiele haben normalerweise wenig Geschichte und stattdessen viel Fokus auf Mechanik und ausgeklügelte Spielzüge. Es wäre sicherlich einfacher gewesen, auf die Story zu verzichten und einfach ein sich ewig wiederholendes, zufallsgesteuertes Spiel zu programmieren. Der Fakt, dass es seit März 2022 ein Update gibt, bei dem ein solcher Endlosmodus hinzugefügt wurde, ist sicherlich auch ein Kommentar auf die Spieleindustrie.

Eine spielenswerte Ausnahme

Bei Inscryption stimmt sehr viel: Die Grafik bringt die gruselige Situation sehr gut rüber, der Soundtrack verstärkt diesen Eindruck weiter. Die Mechaniken sind so aufgebaut, dass auch unerfahrene Spieler*innen sie leicht erlernen und nach einiger Zeit gegen Leshy gewinnen können. Da sich das gesamte Spiel auf die Meta-Story dahinter bezieht, sind einige Elemente zumindest am Anfang verwirrend.

So ist es längere Zeit nicht möglich, ein neues Spiel zu starten, da der Button hierfür ganz einfach fehlt. Es gibt zwar eine narrative Erklärung hierfür – und der Fakt verstärkt den Eindruck, als Spieler*in vom Spielleiter Leshy in einer Hütte gefangen gehalten zu werden, dennoch hat man das Gefühl, dass hier eine grundlegende Funktion für relativ wenig Effekt geopfert wurde.

Gerade für Menschen, die nicht sonderlich viel Zeit für Spiele haben, empfiehlt sich Inscryption. In etwa acht Stunden lässt sich die gesamte Geschichte durchspielen, sodass nicht unendlich viel Zeit investiert werden muss. Der Endlosmodus ist ein nettes Feature für Fans, die nicht genug bekommen können, aber für ein komplettes Erlebnis ist er nicht unbedingt nötig.

Für PC, Mac, Playstation und seit Dezember 2022 auch für Nintendo Switch, ca. 20 Euro.

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