Wahlen in Deutschland: Am Esstisch

Am Sonntag wird in Deutschland gewählt: Im Kampf um den Einzug in den Bundestag wird der Streit über eine vermeintliche grüne Verbotskultur kulinarisch inszeniert. Beim Tier- und Klimaschutz gilt es aber über den Tellerrand zu schauen.

Ist nach Angela Merkel (CDU) die zweite Frau überhaupt, die sich für das Amt des Bundeskanzlers bewirbt: 
Die grüne Parteivorsitzende Annalena Baerbock auf einer Wahlkampfveranstaltung am 8. September in Frankfurt am Main. Es ist auch das erste Mal, dass die Grünen mit Anspruch auf dieses Amt in die Wahlen ziehen. (Foto: EPA-EFE/Ronald Wittek)

Niemand kann behaupten, dass es im Wahlkampf für den Deutschen Bundestag keine dramatischen Höhepunkte gebe. „An dieser Stelle muss ich Sie unterbrechen, denn jetzt sehen wir, wie hier Markus Söder und Armin Laschet ihre Nürnberger Bratwürste bekommen“, unterbrach die Moderatorin Angela Knäble im vom Axel-Springer-Verlag betriebenen Sender „Welt TV“ ihren Kollegen Michael Wüllenweber. Der hatte doch tatsächlich über Politik gesprochen. „Fränkisches Essen gibt Kraft“, schrieb Söder später auf Twitter über die jeweils zehn Würstl, die ihm und Laschet am Freitag vergangener Woche serviert worden waren. „Wir wollen einen Linksrutsch mit vollem Einsatz verhindern.“

Cholesterin statt Sozialismus ist offenbar die Parole der Union für den Endspurt im Wahlkampf – eine Inszenierung von Volkstümlichkeit und kulinarischer Leitkultur, die wohl an die Angst appellieren soll, eine von Annalena Baerbock geführte Regierung werde den Fleischverzehr untersagen. Doch wer genau hinsieht, erkennt: Laschet und Söder trinken Wasser statt Bier! Derart volksferne Nüchternheit wäre bei Helmut Kohl oder Franz Josef Strauß undenkbar gewesen.

Im Bodenständigkeitswettbewerb hat daher die SPD die Nase vorn, wohl gerade weil sie auf allzu durchschaubare Inszenierungen verzichtet. „SPD ist Currywurst“, dekretierte Olaf Scholz im August, nach der dritten der „Triell“ genannten Fernsehdebatten am 12. September bewies er zudem, dass er eine solche unter erschwerten Umständen, stehend im Gedränge von der Pappschale, ohne zu kleckern verspeisen kann. Unterdessen versucht Baerbock, mit ihrem Bekenntnis zum proletarisch konnotierten Mettbrötchen aufzuholen.

Die Massentierhaltung hat in Deutschland einen Anteil von etwa 3,5 Prozent an den Treibhausgasemissionen. Der Anteil von Streitereien über die Nahrungsaufnahme in der Klimadebatte ist ungleich höher, weil sich hier trefflich moralisieren und ein Distinktionsgewinn erzielen lässt – in beide Richtungen: Mit der bekundeten Sorge um arme Leute, die sich ihre Wurst nicht mehr leisten können, geriert man sich als antielitär; mit der Klage über ignorante Billigfleischkäufer erhebt man sich zum bewussten Konsumenten, der an der kommenden Katastrophe nicht schuld gehabt haben wird.

Auf die Fleischproduktion in Deutschland hat das kaum Einfluss. Sie sinkt, aber nur um etwa 1,5 Prozent im Jahr. Überdies ist Deutschland auch bei Fleisch mit einem Selbstversorgungsgrad von knapp 118 Prozent eine Exportnation; die Ausfuhren können gesteigert werden, wenn die inländische Nachfrage sinkt. Ohne Verbote ist der Fleischindustrie nicht beizukommen. Doch das Wahlprogramm der Grünen bleibt vage, man will die Tierschutzregeln „deutlich verbessern und umfassend ergänzen“. Ebenso verhält es sich bei der Linkspartei, die „hohe Standards für die Massentierhaltung“ fordert, und der SPD, die „konsequent auf die Verbesserung des Tierwohls bei Einführung einer flächenbezogenen Obergrenze“ für den Tierbestand dringt.

Den Grünen kann zugestanden werden, am ehesten so etwas wie einen klimaschutzpolitischen Plan zu haben – leider ist es der falsche.

Was die übrigen mehr als 96,5 Prozent der Treibhausgasemissionen betrifft, sieht es nicht besser aus. Die in den Parteiprogrammen formulierten Vorgaben reichen nicht aus, wenn Deutschland die Verpflichtungen erfüllen will, die sich aus dem Ziel ergeben, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Den Grünen kann zugestanden werden, am ehesten so etwas wie einen Plan zu haben – leider ist es der falsche. Einige ordnungspolitische Regeln, vor allem Ausstiegsdaten, sind vorgesehen, ansonsten aber gilt: „Faire Preise sorgen dafür, dass sich klimagerechtes Handeln lohnt.“ Da auch die Grünen wissen, dass ein kontinuierlich steigender CO2-Preis nicht für alle „fair“ ist, soll es einen sozialen Ausgleich geben.

Der aber ist ein vages Versprechen, während eine CO2-Abgabe bereits erhoben wird. Auch von jenen zwei Millionen Menschen in Deutschland, die 2019 ihre Wohnung nicht angemessen beheizen konnten, weil sie zu arm waren. Die Vorstellung, durch höhere CO2-Preise für den Verbrauch ließen sich die Emissionen nennenswert verringern, beruht auf der nicht belegten Annahme, es würden im privaten Verbrauch immense Energiemengen verschwendet. Spielraum dürfte es aber nur beim Autoverkehr geben. Ohne den schnellen Aufbau einer neuen Infrastruktur, vom ÖPNV bis zur Gebäudedämmung, werden die Ausgleichszahlungen daher wohl weitgehend zur Kompensation für die Preiserhöhungen dienen – wenn sie dafür ausreichen.

Klimaneutralität bedeutet, dass alle mit der Nutzung fossiler Brennstoffe verbundenen Berufe verschwinden. Jedoch ist nicht einmal bei der kapitalkräftigen Autoindustrie sicher, ob sie die Umstellung auf die – in ihrer derzeitigen Form zudem ökologisch fragwürdige – Elektromobilität ohne gewaltige Arbeitsplatzverluste bewältigen kann. Marktwirtschaftlicher Klimaschutz läuft darauf hinaus, mittels Preiserhöhungen eine Pleitewelle zu bewirken, der unternehmerischer Druck auf die Beschäftigten vorausgehen wird, niedrigere Löhne und Mehrarbeit hinzunehmen. Es ist offensichtlich, dass eine staatskapitalistische Lenkung den Beschäftigten bessere Chancen der sozialen Absicherung bietet.

Dafür wäre eigentlich die am wenigsten marktwirtschaftlich orientierte Partei zuständig. Doch „Die Linke“ stellt zwar sozialpolitische Forderungen wie „Nulltarif im ÖPNV“, hat aber keinen umfassenden Klimaschutzplan, der erkennen ließe, wie die genannten Ziele erreicht werden können (siehe woxx 1638: Punkten beim Klimaschutz). Die im Wahlprogramm vorgesehenen „insgesamt 40 Milliarden Euro, um die Einkommen aller zu sichern und notwendige Übergänge in klimaschonende Wirtschaftszweige fair zu gestalten“, dürften nicht annähernd ausreichen. Die SPD nimmt das Problem gar nicht erst zur Kenntnis und behilft sich mit Wunschdenken: „Den Klimaschutz machen wir durch gezielte Investitionen in Infrastruktur und Innovationen auch in unseren großen Industriebranchen zum Jobmotor.“

Dieses Ziel propagierte bereits ab 2007 die sich damals als „Klimakanzlerin“ gerierende Angela Merkel: Deutschland sollte führende Exportnation im „grünen“ Kapitalismus werden. Doch man schaffte es nicht einmal, die deutsche Solarindustrie zu erhalten. Stärker noch als die SPD propagieren Union und FDP dennoch weiterhin unverdrossen die realitätsferne Vorstellung, mit nicht näher benannten „Innovationen“ die Klimakrise bewältigen und Exporterfolge feiern zu können.

Standortpolitik war auch das einzige Thema, bei dem Außenpolitik – insbesondere mit Blick auf China – im Wahlkampf wenigstens gestreift wurde, obwohl das afghanische Desaster hinreichend Anlass zur Debatte geboten hätte. Das mag wahltaktisch verständlich sein, da globale Demokratieförderung und Armutsbekämpfung keine populären Themen sind. Doch ernstzunehmende Klimapolitik ist notwendigerweise transnationale Politik. Zahlreiche Autokratien und Diktaturen wie Russland, Saudi-Arabien und Venezuela sind abhängig vom Export fossiler Brennstoffe, auf den sie freiwillig nicht verzichten werden, was auch immer sie versprechen. Dieses Problem wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, ist die Voraussetzung dafür, Lösungen zu entwickeln. In anderen Bereichen sind die Lösungen offensichtlich, aber unpopulär, weil unprofitabel für Deutschland. Wer etwa verhindern will, dass afrikanische Staaten chinesische Kohlekraftwerke in Betrieb nehmen, muss ihnen erneuerbare Energien zu einem günstigeren Preis anbieten.

Klimaschutz erfordert keinen puritanischen Verzicht, ist aber mit Unbequemlichkeiten und sozialen Risiken verbunden. Der personalisierte Wahlkampf und der Streit über eine vermeintliche grüne Verbotskultur entsprachen daher vielleicht auch den Wünschen großer Teile der Öffentlichkeit, die Prokrastination vorziehen und sich deshalb auf dem Nebenkriegsschauplatz der Moral tummeln. Am Ende der kommenden Legislaturperiode wird aber die Hälfte des für die Begrenzung der Erderwärmung entscheidenden Jahrzehnts verstrichen sein. Allenfalls von einer rot-grün-roten Koalitionsregierung wären einige ernstzunehmende Klimaschutzmaßnahmen zu erwarten, und auch das wohl nur, wenn sie unter dem Druck einer Klimabewegung steht, die sich mehr für die Kritik am Kapitalismus interessiert als für das individuelle Konsumverhalten.

Jörn Schulz ist Redakteur der in Berlin erscheinenden Wochenzeitung Jungle World, mit der die woxx seit vielen Jahren eine Partnerschaft hat.

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