TÜRKEI: Weihnachten in Istanbul

Nicht nur für die Armenisch-apostolische Kirche, die größte christliche Gruppe der Türkei, geht ein schwieriges Jahr zu Ende. Mit Erfolg versuchen Ultranationalisten, die Beziehungen des Landes zu Europa zu stören.

An Heiligabend wird die St. Antuan-Kirche auf dem Istiklal-Boulevard im Innenstadtviertel Beyoglu vor Besuchern aller Religionszugehörigkeiten überquellen. Die christliche Minderheit achtet tunlichst darauf, ihrer Religion dezent nachzugehen. Unter etwa 70 Millionen Türken nehmen sich schätzungsweise 100.000 Christen recht bescheiden aus. Dabei erlebte das Christentum seine erste Blüte auf dem Gebiet der heutigen Türkei. In Antiochia nannte man die Jünger von Jesus von Nazareth erstmals „Christen“. Ephesus bei Izmir, das alte Smyrna, gilt als Sterbeort seiner Mutter Maria. Die ersten Konzile tagten in Städten auf heute türkischem Boden: Nizäa, Konstantinopel, Ephesus und Chalzedon. Zur großen Spaltung zwischen Ost- und Westkirche, Orthodoxen und Katholiken, kam es im Jahr 1054 durch gegenseitige Exkommunikation. Insbesondere die Plünderung von Konstantinopel beim Vierten Kreuzzug im Jahr 1204 durch westliche Söldner und die folgende vorübergehende Errichtung des Lateinischen Königreichs von Konstantinopel vertieften die Kluft. Bemühungen um eine Kirchenunion scheiterten, am 29. Mai 1453 fiel Konstantinopel an die Türken.

Etwa 70.000 Gläubige zählt die größte christliche Gruppe des Landes, die Armenisch-apostolische Kirche, deren Patriarch Mesrop II. seinen Sitz in Istanbul hat. Der Patriarch gewährt Journalisten kaum noch Audienzen. Er will keinen Ärger, und viel Gutes hätte er von diesem Jahr auch nicht zu berichten. Der Patriarch persönlich hielt die Messe für den am 19. Januar in Istanbul von einem ultranationalistischen Jugendlichen erschossenen Journalisten Hrant Dink. Dabei waren beide zu Lebzeiten Dinks durchaus unterschiedlicher Meinung gewesen in Hinblick auf die Thematisierung des Schicksals der Armenier im Osmanischen Reich.

Dinks Sohn Arat wurde vor sechs Wochen als Nachrichtenchef der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Angeklagt wurde er wegen eines Interviews, das sein Vater der Nachrichtenagentur Reuters zum Thema Völkermord gegeben hatte. Obwohl der Patriarch dieses Thema nicht liebt, forderte er nach Dinks Ermordung die türkische Regierung nachdrücklich auf, das Verbrechen aufzuklären.

Es ist vom „Tatbestand der christlichen Propaganda“ die Rede. Die Tatsache, dass ein solches Delikt im türkischen Strafrecht nicht existiert, legt es sehr nahe, dass es sich hier um Alleingänge der Sicherheitskräfte handelt.

Fethiye Cetin blickt traurig in ihre Akten. Die Anwältin betreut immer noch die Prozesse, die Hrant Dink hinterlassen hat. Die beiden waren gut befreundet. Fethiye Cetin hatte über Agos ihre armenischen Verwandten in Amerika gesucht und tatsächlich auch gefunden. Ihre Großmutter Heranus Gadaryan hatte ihr kurz vor ihrem Tod erzählt, dass eine türkische Offiziersfamilie sie adoptiert habe, nachdem ihre Eltern im Dorf Kovancilar in der Provinz Elazig 1915 vor ihren Augen getötet worden waren. Ihr Leben lang hatte die Großmutter dieses Geheimnis gehütet und erst der Enkelin ihre Herkunft anvertraut. Hrant Dink hatte damals eine Anzeige bei Agos veröffentlicht und die Nachfahren von Heranus Gadaryans Bruder in den USA gefunden.

Fethiye Cetin hat Tränen in den Augen, wenn sie diese Geschichte erzählt. Dieselben Augen blitzen vor Zorn, wenn sie von ihren Bemühungen, die Hintergründe des Mordes an Hrant Dink aufzuklären, spricht. „Die Videoaufnahmen von der Bank, vor der er erschossen wurde, zeigen nur, wie Ogün Samast flieht. Die Aufnahmen von den Stunden davor sind mysteriöserweise gelöscht worden.“ Cetin lacht ein freudloses Lachen. Tatsächlich gibt es Zeugen, die von einem zweiten Mann sprechen. Das wäre plausibel, denn auch wenn Samast geschossen hat, so kam er doch aus Trabzon an der Schwarzmeerküste und kannte sich in Istanbul nicht aus.

Fethiye Cetin ist auch Nebenklägerin im Prozess gegen die Mörder der drei Gemeindemitglieder der Protestantischen Freiheitskirche in Malatya. Eines der Opfer war der Deutsche Tilman Geske. Auch in diesem Prozess sind für die Ermittlungen wichtige Videoaufnahmen verschwunden. Eine Pistole, die von der Polizei einen Tag vor den Morden beschlagnahmt worden war, gelangte auf ungeklärte Weise in den Besitz der Angeklagten zurück. Mit dieser Waffe soll der 19-jährige Emre Günaydin den Pastor der Gemeinde Malatya, Necati Aydin, sowie den deutschen Bibelforscher Tilman Geske und den erst vor zwei Jahren zum Christentum konvertierten Ugur Yüksel am 18. April im Büro des religiösen Zirve-Verlags bedroht und seine Komplizen Abuzer Yildirim und Salih Gürler veranlasst haben, die Christen zu fesseln und zu knebeln.

Was dann genau geschah, soll der Prozess klären. Die Polizei fand die Opfer am Nachmittag mit durchschnittenen Kehlen. Ihre Körper waren durch Messerstiche verstümmelt worden. Der mutmaßliche Anführer, Emre Günaydin, versuchte, aus dem Fenster des dritten Stocks zu fliehen, stürzte auf die Straße und verletzte sich schwer. In seinem Krankenhauszimmer wurde eine Überwachungskamera installiert. Dies diente als Sicherheitsmaßnahme. Die Aufnahmen könnten allerdings beim Prozess auch wichtige Hinweise auf Hintermänner liefern. Ein Teil der Aufnahmen verschwand jedoch, der Rest ist ohne Ton. Angesichts der Tatsache, dass Günaydin zehn Tage lang im Krankenhaus lag, ist ein Bedienungsfehler höchst unwahrscheinlich. Ein anonymer Brief, der den Dachverband der protestantischen Freiheitskirche in Ankara erreichte, benennt drei mutmaßliche Anstifter des Mordes an den Mitarbeitern des Verlags. Alle drei stammen aus dem Kreis der türkischen Sicherheitskräfte. Einer davon ist der für die Kameraüberwachung im Krankenhaus zuständige Leutnant Hüseyin I. Ein Zweiter ist dessen Vorgesetzter, Mehmet Ü., Kommandant der paramilitärischen Jandarma von Malatya, die auch für polizeiliche Ermittlungen im Antiterrorkampf zuständig ist. Der Tatverdächtige Abuzer Yildirim sagte bereits kurz nach seiner Festnahme aus, Günaydin habe gute Kontakte zum Polizeiapparat unterhalten und von dort auch Informationen über die christliche Gemeinde erhalten.

Tatsächlich haben Polizeidienststellen ganze Aktenordner voller Informationen über die christliche Gemeinde gesammelt, die im Prozess nun auch als Beweismaterial dienen. Die Ordner beweisen, dass die Protestanten jahrelang bespitzelt wurden. Es ist vom „Tatbestand der christlichen Propaganda“ die Rede. Die Tatsache, dass ein solches Delikt im türkischen Strafrecht nicht existiert, legt es sehr nahe, dass es sich hier um Alleingänge der Sicherheitskräfte handelt.

Fethiye Cetins Stirn kräuseln Sorgenfalten. Sie weiß, dass beide Prozesse eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung der Türkei spielen. „Die Mehrheit der Türken verabscheuen diese Morde zutiefst“, sagt sie entschieden. „Meine Großmutter wurde von einer türkischen Familie aufgenommen und so vor der Deportation gerettet.“

Tatsache ist, dass die Hintermänner derzeit ultranationalistische Jugendliche instrumentalisieren, um die Beziehungen zu Europa zu stören. Mit Erfolg, denn die EU führt seit Anfang Dezember keine Beitrittsverhandlungen mehr mit der Türkei, sondern nur noch „Gespräche“.

Sabine Küper-Büsch arbeitet als freie Journalistin und lebt in Istanbul.


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