MEXIKO: Spiel ohne Grenzen

Erlebnispark mit Echtheitszertifikat: Im mexikanischen Örtchen El Alberto können Touristen in einer Simulation die illegale Einreise in die USA miterleben.

Fiktiver Grenzgang bei Nacht: Carlos Bautista geht voran.

Wie im echten Leben: Zwei Grenzgänger werden von der “Migra” festgenommen.

Hektisch springt das Scheinwerferlicht von Baum zu Baum. Von den Kronen hastet der grelle Strahl die Böschung hinunter ins dunkle Unterholz. Polizeisirenen dröhnen. „Stehenbleiben! Sie dürfen den Fluss nicht überqueren“, krächzt ein Lautsprecher in holprigem Englisch. Auf der Brücke bremst ein weißer Jeep, zwischen den Bäumen blinkt das Rot- und Blaulicht eines Streifenwagens. Schüsse fallen. „Hinlegen! Zusammenbleiben!“, sagt ein Mann, der sein Gesicht hinter einer schwarzen Wollmaske versteckt. „Nicht bewegen!“ Der Lichtkegel des Suchscheinwerfers tastet sich knapp über den Körpern durch die Dunkelheit. „Lauft runter bis zum Ufer, aber schnell“, befiehlt der Maskierte. Von dort aus geht es weiter, auf die andere Seite – „al otro lado“, wie Mexikanerinnen und Mexikaner das Land jenseits des Rio Bravo schlicht nennen.

In Wirklichkeit liegen Texas, Kalifornien und Arizona allerdings viel weiter entfernt, als die nächtliche Szene vermuten lässt. Mindestens tausend Kilometer trennen den kleinen Fluss und das nahe gelegene Dörfchen El Aberto von den Ufern des Rio Bravo und damit von den Pforten zu den USA. Doch die indigenen Einwohner der Gemeinde wollen auf eine etwas eigentümliche Weise über die Gefahren der Migration informieren: Mit einer Nachtwanderung, die einen illegalen Grenzübertritt simuliert, locken die Indígenas Woche für Woche Touristen aus dem etwa drei Autostunden entfernten Mexiko-Stadt in den Erlebnispark „Eco Alberto“.

Auch Carlos Bautista und Jenny Collin haben den Wochenendtrip gebucht. Ihr erster Abstieg ans Flussufer endet ziemlich feucht: bis zu den Waden stehen die beiden Medizinstudenten im Schlamm, und noch immer fahndet das Scheinwerferlicht nach der etwa 30 Personen starken Gruppe. Ganze Familien haben sich auf den Weg gemacht, in festen Schuhen und mit Regenkleidung stapfen sie voran. Carlos hat die Sache nicht so recht ernst genommen und ist in Badelatschen angetreten. Nun muss er sich barfuß durch den Matsch kämpfen, denn mit seinen Plastikschuhen kommt er kaum voran. Meter für Meter stapft er am Flussufer entlang, und mit jedem Schritt versinkt Carlos mehr im feuchten Dreck. Warum er sich diese nächtliche Schlammschlacht freiwillig antut? „Aus Abenteuerlust“, meint der 24-Jährige, „aber vor allem will ich einmal erleben, was es für unsere Migranten heißt, illegal die Grenze zu passieren.“

„Lauft runter bis zum Ufer, aber schnell“, befiehlt der Maskierte. Von dort aus geht es weiter, auf die andere Seite – „al otro lado“, wie MexikanerInnen das Land jenseits des Rio Bravo nennen.

Carlos` Freundin Jenny denkt zuerst an ihren Vater, der lange in Chicago gelebt hat. „Aber der hatte eine Arbeitserlaubnis und konnte deshalb legal einreisen.“ Anders ist es zwei ihrer Onkel ergangen. „Die mussten sich auch durchschlagen. So wie wir jetzt. Oder noch schlimmer“, sagt die 23-Jährige und blickt einen Moment nachdenklich vor sich hin. Doch für längere Gespräche bleibt keine Zeit. „Los, los, wir müssen weiter“, drängt der Maskierte. Hinter den Bäumen heult ein Motor auf, und wieder erscheint das rot-blau blinkende Licht. Oberhalb der Böschung, auf der Straße, taucht der weiße Jeep auf. „Kommen sie heraus, wir wissen, dass sie hier sind“, dröhnt der Lautsprecher. „Taschenlampen aus!“, flüstert der Vermummte, der sich später unter dem Namen „Poncho“ zu erkennen gibt.

Auf Schlepper angewiesen

Ohne Männer wie Poncho geht auch an der echten Grenze nichts. Die „Kojoten“ bringen ihre Klienten sicher über die Grenze. Sie wissen, wo eine seichte Stelle im Rio Bravo eine Überquerung möglich macht und zu welchen Uhrzeiten die US-Migrationspolizei weniger Patrouillen fährt. Praktisch alle Dörfer der armen Bundesstaaten Mexikos sind an eine der Schleuserorganisationen angeschlossen: in der Sierra Sur von Oaxaca ebenso wie an der Pazifikküste von Michoacán oder dem Umland von Acapulco. Jede Gemeinde hat ihren Ansprechpartner, mindestens 1.000 Dollar kostet die illegale Einreise in den reichen Norden. Ganze Familien sparen über Monate hinweg, um das Geld für den Sohn oder den Vater zusammenzukratzen. Oft genug geht die Sache trotzdem schief: die Migranten werden gefasst und abgeschoben, überfallen oder von Schleppern im Stich gelassen.

„Wenn wir uns auf diesen Weg machen, müssen wir immer auf Menschen vertrauen, die wir nicht kennen und die für uns kein Gesicht haben“, erklärt Poncho. Deshalb verstecke er sich hinter der schwarzen Maske. Auch er hat schon mehrmals diese mühselige Reise hinter sich gebracht, wie so viele aus El Aberto. Insgesamt zählt die indigene Gemeinde 2.125 Einwohner, doch nur ein gutes Drittel lebt hier, im kargen Hochland des zentralmexikanischen Bundesstaates Hidalgo. Manche hat es nach Mexiko-Stadt oder an die Grenze, nach Tijuana verschlagen, doch die meisten sind auf die andere Seite migriert. Vor allem nach Las Vegas, Salt Lake City oder Phoenix. Einige zweistöckige Häuser, meist unverputzt oder noch im Rohbau, verweisen darauf, dass so mancher Ausgewanderte im Norden tatsächlich nicht schlecht verdient. Ihre „Remesas“, also das aus den USA überwiesene Geld, verhilft ihnen zu einem Alterswohnsitz in der alten Heimat. Doch die Kinder und Enkel werden wohl in Kalifornien oder Arizona bleiben. El Alberto ist für sie nur noch das Dorf in der armen mexikanischen Provinz, aus dem die Eltern stammen. Darüber hinaus verbindet sie nur noch wenig mit dem Geburtsland ihrer Väter und Mütter. Zuwenig jedenfalls, um sich dort niederzulassen.

Praktisch alle Dörfer der armen Bundesstaaten Mexikos sind an eine der Schleuserorganisationen angeschlossen: in der Sierra Sur von Oaxaca ebenso wie an der Pazifikküste von Michoacán oder dem Umland von Acapulco.

Auswandern? „Nein, das steht für mich überhaupt nicht an“, sagt Carlos. „Als Mediziner haben wir in unserem eigenen Land eine Zukunft.“ Der Pulk von Kindern, Männern und Frauen ist mittlerweile an einer kleinen Straße angelangt. Nach bald zwei Stunden nächtlichem Marsch zwischen Kakteen, schlammigen Flussufern und steinigen Aufstiegen sind sie erschöpft. In einer dunklen Ecke stehen vier Pickups bereit, um die Wanderer ein paar hundert Meter weiter zu bringen. Auf den Ladeflächen der Wagen bleibt ein Moment Zeit zum Verschnaufen. Und zum Reden. Carlos lebt zwar in der Hauptstadt, aber wie viele sind auch seine Eltern vom Land in die Metropole gezogen. Sie kamen aus Oaxaca, jenem Bundesstaat, in dem im vergangenen Jahr ein Aufstand von Lehrern, Indigenen und Linken von Polizisten und paramilitärischen Gruppen blutig beendet wurde (woxx 874). Der angehende Arzt hat die Kämpfe miterlebt, weil er dort gerade ein Praktikum machte. Auch er musste Verletzte versorgen. „Die Situation in Oaxaca ist grausam“, sagt er. „Aber trotzdem würde ich nie in die USA gehen, überall hin, aber nie in die USA. Nicht einmal, um Urlaub zu machen.? Warum? „Der Irak-Krieg, die internationale Politik der Regierung, der Rassismus.“

Unentlohnt arbeiten

Den Menschen aus El Aberto blieb bislang schlicht keine Wahl. „Es gab hier keine Bedingungen, um zu überleben. Alle sind abgehauen, sobald sie mit der Schule fertig waren“, sagt Poncho und hält einen Moment inne. Dann spricht er von seiner Jugend, von der Zeit, als er jahrelang barfuß gehen musste und in Lumpen gekleidet war. „El Alberto existierte bis vor kurzem nicht einmal auf der Landkarte. Wer hier geboren wurde, war zu einem würdelosen Leben verdammt.“ Doch das soll sich jetzt ändern. „Gestern war gestern und heute ist heute“, sagt er, und sein Optimismus ist trotz des verhüllten Gesichts zu spüren. Dann erzählt der Maskierte, wie vor zehn Jahren plötzlich Mineralwasser aus dem Boden sprudelte. Seither geht es bergauf in der Gemeinde der Hñahñu-Indígenas. Gemeinsam bauten sie den Erlebnispark auf: mehrere Schwimmbecken und Rutschbahnen, eine Restaurant, ein Zeltplatz, kleine Appartements für Wochenendurlauber. Am nächsten Tag will sich Poncho mit anderen aus dem Dorf treffen, um über eine weitere Vermarktung des frisch entdeckten Bodenschatzes zu reden: das Mineralwasser soll in Flaschen abgefüllt und verkauft werden.

Die Hñahñu aus El Alberto organisieren die Verwaltung des Dorfes nach traditionellen indigenen Regeln. Und so werden auch die ausgewanderten Angehörigen zur freiwilligen Arbeit herangezogen. Von der Gemeindeversammlung gewählt, kommen sie für bis zu drei Jahre ins Dorf zurück, um unentlohnt gemeinschaftliche Arbeiten zu übernehmen. So etwa der Bürgermeister Bernadino Bautísta und sein Stellvertreter Enrique Bolivar. Seit über 20 Jahren verdient Bolivar als Bauarbeiter sein Geld im Norden. Erst in Phoenix, und jetzt in Las Vegas. Regelmäßig kommt er nach El Alberto, um seine Familie zu besuchen. Er hat eine Greencard, kann also in die USA ein- und ausreisen, wann er will. Nun wird er ein Jahr bleiben und sich um sein Amt kümmern. Bereits ein Jahr zuvor informierten ihn die Dorfvertreter über die Entscheidung. So blieb ihm ein wenig Zeit, um Geld zu sparen. Schließlich muss er in den zwölf Monaten Frau, Kinder und sich selbst durchbringen. Und das, ohne einen Peso zu verdienen.

„Wir wollen Arbeitsplätze schaffen, damit die Menschen hier eine Zukunft haben und selbst entscheiden können, ob sie bleiben oder gehen“, wirft Bautista ein. Er verweist auf die neue Mauer, die derzeit zwischen Mexiko und den USA gebaut wird, und auf die jüngste Weigerung des US-Senats, den illegal lebenden Migranten einen rechtsmäßigen Status zu geben. „Die wollen uns sowieso nicht mehr“, meint er. Dann spricht er von den „Minutemen“, jenen bewaffneten Selbstschutzgruppen von US-Bürgern, die an der Grenze Streife fahren, um illegal einreisende Migrantinnen und Migranten zu denunzieren. „Nein, nein, wir müssen Alternativen schaffen, um uns nicht weiter demütigen zu lassen“, sagt Bautista. Dann zeigt der Bürgermeister auf die Maisfelder und Granatapfelplantagen zwischen den Kakteenhainen. „Das alles wird durch die neue Pumpstation bewässert.“

Am Straßenrand liegt ein leblos wirkender Mann – er soll an die Tausenden von Toten erinnern, die der Weg durch den Rio Bravo bereits gekostet hat. Keiner der nächtlichen Wanderer sagt ein Wort.

Arbeitsplätze schaffen

Auch die ungewöhnliche Nachtwanderung, die für 200 Pesos (etwa 13 Euro) zu haben ist, soll die heimische Entwicklung fördern. 68 Menschen arbeiten für das an jedem Wochenende stattfindende Spektakel: als „Kojoten“, „Grenzpolizisten“ oder in der Verwaltung. Vor drei Jahren sei man das erste Mal losgezogen, erinnert sich Poncho. Bei den Behörden stoße die Initiative jedoch bis heute nicht auf Wohlwollen. Der Vorwurf: Der Marsch solle die Teilnehmer für den illegalen Grenzübertritt trainieren. „Das ist völliger Quatsch“, meint Poncho. „Unser Training besteht darin, die Menschen zu stärken, damit sie hier bleiben. Wir wollen sie für die Risiken sensibilisieren, die der Weg auf die andere Seite mit sich bringt.“ Gerade die Erfahrungen der letzten Jahre in El Alberto bestärken den 42-Jährigen. „Wir müssen auf unsere eigene Kraft, auf unsere Leute, unser Land vertrauen – und viel arbeiten.“ Dann verweist er auf die für mexikanische Verhältnisse ungewöhnlich gut erhaltene Straße, die in das Dorf führt. Auch die habe man selbst gebaut.

Die „Migra“, wie die US-Grenzschützer genannt werden, ist indes erheblich näher gerückt. Im letzten Moment schaffen es die meisten der nächtlichen Wanderer, ins Unterholz zu springen. Gebückt sitzen sie da, keiner spricht ein Wort. „Duck dich!“, flüstert Carlos seiner Freundin Jenny zu, gibt ihr schnell einen Kuss und zeigt dann mit dem Finger nach vorne. Vor dem Gebüsch leuchten zwei in Tarnuniform gekleidete Beamte wie wild mit ihren Taschenlampen. Plötzlich dringen Schreie durch die Stille der Nacht. Zwei Männer knien auf dem Boden, werden geschlagen, gefesselt und abgeführt. Wenig später gibt Poncho Entwarnung. In kleinen Gruppen geht der Marsch weiter: erst die Kinder, dann die Männer, dann die Frauen. Am Straßenrand liegt ein leblos wirkender Mann – er soll an die Tausenden von Toten erinnern, die der Weg durch den Rio Bravo bereits gekostet hat. Keiner der nächtlichen Wanderer sagt ein Wort.

Geschafft! Völlig ermattet sitzen sie nachts um halb vier bei einer Tasse Kaffee: Carlos, Jenny und die anderen. Sehr viel Angst habe sie gehabt, sagt Emma Hernández und ist trotzdem zufrieden. „Ich habe mich getraut“, sagt die zierliche Mexikanerin und streift mit den Händen durch ihr langes dunkles Haar. Die 24-Jährige hat mit ihrem fünfjährigen Sohn teilgenommen. „Der Vater des Kindes lebt in den USA, und ich wollte dem Kleinen zeigen, was mit seinem Papa passiert ist.“ Auch Carlos Bautista ist zufrieden. „Eine einmalige Erfahrung“, findet der Student. Er habe sein Ziel erreicht: „Auch ohne Schuhe habe ich bis zum Ende durchgehalten.“ Für ihn geht es morgen früh gleich weiter. Auf dem Programm des Erlebnisparks steht ein Bootsausflug. Bei Tageslicht. Und ganz ohne Verfolger.

Wolf-Dieter Vogel ist freier Journalist und lebt in Mexiko-Stadt.
Fotos: Andrés Ramos Saslavsky

 

Migration Mexiko-USA
Rund 400.000 Mexikanerinnen und Mexikaner migrieren jedes Jahr in die
USA. Etwa 400 bis 500 Menschen sterben jährlich bei dem Versuch, die
Grenze illegal zu überqueren. Für das erste Halbjahr 2007 meldete die
staatliche mexikanische Migrationsbehörde 210 Tote. Ein Netz von
Schleuserorganisationen bringt die Menschen aus ganz Mexiko auf die
andere Seite des Rio Bravo.
Laut einer in der mexikanischen Tageszeitung „El Universal“
veröffentlichten Analyse von 2006 leben in den USA 35,3 Millionen
Menschen lateinamerikanischer Herkunft, 25 Millionen von ihnen (66,9
Prozent) haben einen mexikanischen Familienhintergrund. 9,8 Millionen
dieser „Mexikaner“ sind in Mexiko geboren. Etwa zwölf Millionen
Migrantinnen und Migranten halten sich illegal in den Vereinigten
Staaten auf, mindestens die Hälfte von ihnen stammt aus Mexiko.
Die Geldüberweisungen der Ausgewanderten sind neben den Erdöleinnahmen
die größte Devisenquelle Mexikos. Diese so genannten „Remesas“ schaffen
die Lebensgrundlage für ganze Regionen in der mexikanischen Provinz.
Aus vielen Dörfern sind praktisch alle Menschen im arbeitsfähigen Alter
ausgewandert.
3.000 Kilometer lang ist die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Ein
Teil wird durch einen mit Nachtsichtkameras und Hightech-Sensoren
ausgerüsteten Stahlzaun geschützt. Ende Juni lehnte der US-Senat ein
Gesetz ab, das den illegalisierten Einwanderern einen sicheren
Aufenthaltsstatus verschaffen sollte. Die Mauer soll indes weiter
ausgebaut werden.


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