LATEINAMERIKA: „Morales ist auf dem richtigen Weg“

In Südamerika dreht die Geschichte wieder, und zwar in Rot. Luxemburgs Außenminister, der Sozialist Jean Asselborn, erklärt uns seine Ansicht zu Morales und Chávez, den Stellenwert von Lateinamerika und macht sich Überlegungen zu den verschiedenen Linken.

„Wir haben keine Lektionen zu erteilen, nicht einmal, wenn Petrobras oder YPFB nationalisiert werden. Das ist nicht nur linke Politik, dass ist Menschenrechtspolitik!“,
so der Außenminister zur bolivianischen Energiepolitik.

woxx: Luxemburg ist Kandidat für einen Sitz im Weltsicherheitsrat. Sie haben auf Ihrer Reise für diese Kandidatur geworben. Haben Sie Bolivien und Paraguay überzeugen können?

Jean Asselborn: Die Kandidatur war Thema auf meiner Besuchsreise, sie war aber nicht die Hauptsache. Ich hatte schon 2005 eine Einladung aus Bolivien und auch aus Paraguay erhalten. Ich dachte, dass es gut sei, sich noch vor dem Gipfel in Madrid im Mai mit den LAC (Latin America and Caribbean) zu treffen, um zu zeigen, dass die EU nicht nur nach Osten schaut, sondern auch auf den sehr wichtigen Kontinent Lateinamerika. Mit meiner Reise wollte ich auch zeigen, dass kleine Länder sich für diesen Kontinent interessieren und nicht nur mit den regionalen Großmächten Brasilien und Mexiko reden wollen.

Als Europäer haben wir in Lateinamerika sehr viel zu gewinnen – nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Es gibt einen Unterschied zwischen Afrika und Lateinamerika: In Lateinamerika kommen ? mit der einen Ausnahme Honduras ? keine Staatsstreiche mehr vor. Das ist die große Errungenschaft der letzten 20 Jahre. Aber dieser Embryo von demokratischen Ansätzen kann nur überleben, wenn die Armut bekämpft wird, wenn etwa reiche Länder wie Bolivien ihre Bodenschätze selbst verwerten können. Das ist eigentlich das Hauptziel. Bolivien ist, was seine Entwicklung angeht, ein sehr interessantes Land. Die Demokratie hat sich erst seit den 80er Jahren entwickelt. Vor Morales waren in der Politik allein die Interessen der Elite maßgeblich. Luxemburg, als Land der europäischen Union, bietet seine Unterstützung an, vor allem für die Festigung der Demokratie. Natürlich hat das auch etwas mit Wirtschaft zu tun, aber eben nicht ausschließlich.

Vor zwei Jahren waren Sie schon einmal mit einer Delegation in Chile und Brasilien. Verstärkt sich die Präsenz Luxemburgs in Lateinamerika?

Luxemburg hat in Chile und Brasilien natürlich direkte Interessen. Mit Brasilien haben wir eine langjährige Beziehung durch die Stahlindustrie. Die Werke in Belo Horizonte wurden Jahrzehnte hindurch von Luxemburgern geführt. Zu Chile besteht, dank der zahlreichen Chilenen, die sich während der Pinochet-Diktatur in Luxemburg angesiedelt haben, eine emotionale Verbindung.

Bei Ihrer Reise nach Chile ging es aber auch um die Akquisition von Rentenfonds für den Luxemburger Finanzplatz.

Es werden Pensionsfonds aus Lateinamerika, genauer aus Chile, in Luxemburg in der so genannten Fonds-
industrie verwaltet, das stimmt. Chile und die meisten Länder in Lateinamerika haben nicht die Möglichkeit gehabt, die Renten so auszubauen wie in Europa. Die Renten basieren dort eben auf Versicherungen. Unser Ziel ist es, dass dieses Kapital in einem Land gemanagt wird, in dem es gut angelegt ist. Und es ist ja auch tatsächlich ohne große Verluste durch die Krise gekommen. Es hat sich also bewährt, dass hier nicht um jeden Preis alle Spekulationen mitgemacht wurden. Wir sind ja auch nur ein Platz, der Finanzort, an dem das Geld verwaltet wird, es handelt sich bei den beteiligten Instituten nicht um Luxemburger Banken.

Wer an Chile denkt, denkt an Militärputsch. Vor kurzem gab es wieder einen, und zwar in Honduras. Hatte Luxemburg in Bezug auf diesen Putsch eine offizielle Position?

Nein, die Position Luxemburgs war die allgemeine europäische. Brasilien hat ja versucht zu beschwichtigen. Wenn Sie mich fragen, ob die Wahlen, die die Putschisten organisiert haben, regulär waren, so habe ich meine Zweifel. Wichtig ist, dass das nicht Schule macht. In Honduras gibt es jetzt einen neuen Präsidenten, es ist ruhiger geworden. Ich hoffe nur, dass auch das Volk davon profitiert.

Hat Lateinamerika grundsätzliche Probleme? Und wenn ja, könnten Sie diese an etwas Konkretem deutlich machen?

Das größte Problem in Lateinamerika ist meiner Ansicht nach das Nicht-Kooperieren der Länder. Ich habe einem meiner Kollegen gesagt „Wir hatten nach 1945 in Europa den Willen, etwas aufzubauen, weil es überhaupt keine Alternative gab“. Aber es muss nicht unbedingt einen großen Krieg geben, damit eine solche Situation ohne Alternative entsteht.

„Wenn Sie mich fragen, ob die Wahlen, die die Putschisten in Honduras organisiert haben, regulär waren, so habe ich meine Zweifel.“

Ist die Alba (Bolivarianische Allianz für Amerika) nicht ein institutioneller Versuch, den Kontinent zusammenzuschließen?

In Lateinamerika müsste Brasilien der Motor der Integration sein. Ich finde, dass das Land auf diesem Gebiet mehr tun könnte. Zwischen Argentinien, dem zweiten großen Land, und Bolivien und Paraguay sind die Beziehungen eigentlich gut, aber die Infrastruktur ist zum Teil miserabel ? zwischen Bolivien und Paraguay eine einzige Flugverbindung nachts um drei! Dann gibt es Probleme wie etwa die, dass Peru Bolivien den Zugang zum Meer versperrt, oder dass Chile und Bolivien bis heute keine diplomatischen Beziehungen unterhalten, obwohl beide Länder in der Praxis gut miteinander können. Und nun kommt Alba, um die Zahl der schon bestehenden Organisationen – Andengemeinschaft, Riogruppe, Mercosur – um noch eine weitere zu vermehren. Man findet sich da kaum noch zurecht! Von den fundamentalen politischen Unterschieden z.B. zwischen Chávez und Morales gar nicht zu reden. Morales stammt aus einer Bauerngewerkschaft und Chávez aus dem Militär.

Ging die „Nelkenrevolution“ in Portugal nicht auch vom Militär aus?

Ja, aber Chávez möchte in seinem Land die Reichtümer autoritär, von oben nach unten, umverteilen. In Bolivien, da spürt man, dass es von unten kommt. Morales ist nach meiner Überzeugung authentisch, ebenso der Außenminister Choquehuanca, der einer der Ideologen der Bewegung ist. Diese Leute leben auch wirklich so, wie sie reden. Das sind keine Korrupten! Sie wollen, dass dieses enorm reiche Land Bolivien seinen Reichtum entwickeln kann, und dass, zweitens, dieser Reichtum nach unten verteilt wird. Chávez und Morales werden oft in einen Topf geworfen, aber das ist falsch. Die Systeme sind in den beiden Fällen auch ganz verschieden.

Was schätzen sie an Präsident Evo Morales?

Alles, was Morales gemacht hat, kann ich hundertprozentig nachvollziehen und unterstützen. Wir haben keine Lektionen zu erteilen, nicht einmal, wenn Petrobras oder YPFB nationalisiert werden. Das ist nicht nur linke Politik, dass ist Menschenrechtspolitik! Und wenn man einerseits den Aufbruchswillen im Lande sieht und andererseits die Bedingungen, unter denen die Menschen dort leben, dann versteht man, dass es überhaupt keine Alternative dazu gibt, dass der Reichtum anders verteilt werden muss.

Haben die Europäer überhaupt eine Verantwortung was die Entwicklung in Südamerika anbelangt?

Unsere europäische Kultur hat denen so viel genommen, wir haben da alles kaputt geschlagen. Wir haben Kokain dorthin gebracht, nicht Koka. Koka kauen die dort seit 4.000 Jahren; es gibt uralte Steinskulpturen, die Koka-
blätter kauende Menschen darstellen. Und dann kommen wir und sagen „ihr dürft kein Koka mehr essen“!

Kann die europäische Sozialdemokratie etwas von der lateinamerikanischen Linken lernen?

Man muss ja auch darauf hinweisen, dass Chávez gewissermaßen ein Produkt von Bush ist. Ich rede jetzt mal von Bush, der provokativ immer von der „Achse des Bösen“ gesprochen hat. Jetzt mit Obama ist das, glaube ich, ein wenig anders. Also, wenn ich verneinen würde, dass wir etwas von der lateinamerikanischen Linken lernen könnten, dann wäre ich wohl ein ziemlicher Idiot. Was ich weiß, ist, dass viele Länder in Lateinamerika enge Kontakte zur Sozialdemokratie in Europa haben oder haben wollen. Jetzt erlauben Sie mir aber den Einwand, dass es nicht einfach ist, die Sozialdemokratie in Europa zu definieren. Durch sie ist in Europa in den 80er und 90er Jahren, ohne dass wir es bemerkt haben, ein großer Keil getrieben worden, nämlich die sogenannte „Liberalisierung“. Und das habe ich auch ein bisschen mitempfunden. Die skandinavischen Sozialdemokratien, angefangen bei den Schweden, haben die These vertreten, dass ohne Liberalisierung die Wirtschaft einsacken würde. Schauen sie nach Finnland, da gibt es keine öffentliche Bahn mehr. Während in Mittel- und Südeuropa, da brauche ich euch ja nichts vorzumachen, hat die Liberalisierung die Sozialdemokratie wirklich in eine Ecke getrieben, wo es schwierig geworden ist einen Unterschied zu machen mit den Parteien aus der Mitte. Ich glaube aber, dass der gesellschaftspolitische Trieb, etwas zu verändern, in der Sozialdemokratie immer noch lebendig ist. Aber dann kam diese unheimliche Geschichte vom „Dritten Weg“. Da wurde die Identität der Sozialdemokratie angegriffen. Dennoch lässt sich die Sozialdemokratie in Europa nicht mit der in Lateinamerika oder Asien oder Afrika gleichsetzen. Präsidenten wie Bachelet in Chile, Lula in Brasilien, Garcia in Peru oder Mujica in Uruguay kann man zur Sozialdemokratie zählen. Links von ihnen haben wir Morales und Chávez. Die Linke ? und das sieht man ja auch in Luxemburg ? konnte nie im Laufe des 20. Jahrhunderts ein gemeinsames Projekt definieren. So wie es aussieht, wird das wohl auch nicht im 21. Jahrhundert stattfinden. Es gibt eben einen Graben zwischen Sozialdemokraten und der Linken. Dieser Graben ist nicht unbedingt gesellschaftspolitisch, da kann man sich verständigen, sondern in der Auffassung wie die Wirtschaft den Menschen dienen soll und wie ihre Ausrichtung auszusehen hat. Es gibt gesellschaftspolitische Affinitäten zwischen den beiden Kontinenten, aber die Herausforderungen, mit denen wir hier in Europa konfrontiert sind, sind andere als in Lateinamerika.

 

Der Globetrotter aus Steinfort
Der Luxemburger Außenminister und Vize-Premier Jean Asselborn hat vor kurzem Bolivien und Paraguay besucht, um für einen Sitz Luxemburgs im UN-Weltsicherheitsrat zu werben. Es ist nicht seine erste Reise ins dynamische Südamerika. Eine Gelegenheit für die woxx, um über das Verhältnis Luxemburgs zu diesem Kontinent zu reden und sich über die Ansichten des sozialistischen Spitzenpolitikers zu den linken Bestrebungen von Lula, Morales und Chávez zu informieren. 


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