TRANSGENDER: „Ist die Erde eine Scheibe?“

In einem wissenschaftlichen Kolloquium über Zweigeschlechtlichkeit wird über Geschlechterdiversität und Gender diskutiert. Erik Schneider von „Transgender Luxemburg“ (TGL) stellt normative Vorstellungen in Frage und erklärt, wieso TGL seine Berechtigung hat.

Mann oder Frau – kulturelle Vorstellungen und klassische Zuschreibungen sind fest in den Köpfen verankert.

woxx: Was meint ?Transidentität‘, bzw. können Sie die Lebenssituation erläutern, die mit diesem Begriff beschrieben werden soll?

Erik Schneider: Wir verstehen unter transidenten Personen Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht und der Geschlechterrolle identifizieren, die ihnen bei der Geburt qua Anatomie zugewiesen worden sind. In dem Moment, wo Uneindeutigkeit vorliegt, wird dies als „Katastrophe“ erlebt, also muss zwanghaft Eindeutigkeit hergestellt werden, was meistens die Folge hat, dass die Leute mindestens Hormone einnehmen, möglicherweise operiert werden, was einige dann im Erwachsenenalter als Genitalverstümmelung bezeichnen. Transidente Menschen können sehr unterschiedlich sein, es können Intersexuelle dazu gehören aber auch transsexuelle Menschen, die ganz klassisch dem Bild entsprechen, sich „im falschen Körper“ zu befinden, die sagen „ich möchte von dem einen zugewiesenen Geschlecht in das andere“. Und es gibt Personen, bei denen man den Begriff „Transgender“ wählen könnte, obwohl dieser inzwischen auch als Überbegriff verwendet wird. Dabei hinterfragen die Leute sehr gezielt die normativen Vorstellungen und sagen „ich wechsle die soziale Rolle“ und ob ich mich operieren lasse oder ob ich Hormone nehme, das geht niemanden etwas an.

An welchen Punkten der Sozialisation bzw. des Lebens wirkt Ihrer Meinung nach der Zwang, sich eine ? vorwiegend noch heterosexuelle ? Identität geben zu müssen? Im Babyalter wohl noch nicht …

Die Sozialisierung beginnt mit der Schwangerschaft. Sobald entschieden ist, ob ein Junge oder ein Mädchen gewünscht wird, und spätestens an dem Punkt, wo das Geschlecht im Ultraschall erscheint. Die Prägung trägt der Mensch eigentlich lebenslang. Er wird permanent in etwas reingeschubst und kommt dann entweder, wenn er Glück hat, damit klar, oder er reflektiert schon früh, dass da irgend etwas nicht stimmt. Ab drei, vier Jahren findet die Identitätsbildung des Geschlechts statt und manifestiert sich etwa bis zum achten, neunten Lebensjahr; da fangen dann für die Kinder die Probleme an. Einige versuchen, es innerhalb der Familie zu thematisieren, und es gibt Eltern, die damit sehr offen umgehen, aber natürlich auch welche, die sehr restriktiv sind. Dementsprechend beginnt an diesem Punkt die Leidensgeschichte der Individuen. Intersexuellen wird oft vorenthalten, dass sie in der Kindheit operiert worden sind. Sie merken es häufig später an Symptomen, wie Schmerzen im Genitalbereich, Einschränkungen, die sie sich nicht erklären können, und wenn sie dann nachforschen, tritt eine intersexuelle Genese hervor.

Sowohl die Schwulen/Lesben- als auch die feministische Bewegung verfolgt das Ziel, diese heterosexuelle Zwangsgeschlechtlichkeit in einer bestimmten Richtung durchlässiger zu machen, wenn nicht gar aufzulösen. Hat TGL seinen Platz bei diesen Bewegungen, oder würden Sie ihre Eigenständigkeit betonen?

Wir sind eine Gruppe transidenter sowie transnationaler Menschen und Teil der Rosa-Lëtzebuerg asbl, also kein eigener Verein, sondern die Transgendergruppe von Rosa Lëtzebuerg. Transgender Luxembourg ist die erste Gruppe Luxemburgs, die die Interessen transidenter Menschen formuliert und unterstützt hat. Wir wollen die Lebenssituation Transidenter in Luxemburg verbessern. Dazu bieten wir auf individueller Ebene Beratung und Begleitung an und unterhalten eine Selbsthilfegruppe, die sich einmal monatlich trifft. Die Menschen sind unterschiedlich weit auf ihren Wegen. Manche wollen den Weg von „dem einen“ in „das andere“ Geschlecht gehen, andere bleiben androgyn. Die Ausdruckweisen von Geschlechterbinarität sind sehr vielschichtig.

Sie sind in das Schwulen und Lesben-Netzwerk eingebettet und kämpfen denselben Kampf?

Jein. Die Diskriminierungswege und die Strategien gegen Diskriminierung sind sehr ähnlich. Die Diskriminierungsmechanismen überlappen sich einmal mit jener der „Homos“, aber auch mit den Feministinnen. Das heißt, wir haben Überschneidungen, wir haben aber auch eigene Themen, die wir selber vertreten, sodass wir Überlappung und Eigenheiten sehen. Es geht darum, Synergien und Kooperationen zu schaffen, um diese Form der Diskriminierung aufzudecken, sie sichtbar und damit veränderbar zu machen. Daher kämpfen wir beim diesjährigen GayMat-Festival zusammen mit Lesben, Schwulen und Bisexuellen gegen die gesellschaftliche Benachteiligung und haben ein Programm geschaffen, das die Menschen in unterschiedlicher Weise anspricht. Das Festival ist divers, wie die Menschen es sind. Daher das vielschichtige politische, wissenschaftliche und soziokulturelle Programm.

Ist eine dritte Kategorie wie ein „drittes Geschlecht“ eine Ihrer Forderungen?

Mit dem dritten Geschlecht haben wir insofern unsere Probleme, als es wiederum nicht die Realität abbildet. Es führt erneut zu Ausschlussphänomenen. Eine Alternative besteht darin, die Option „andere“ vorzugeben, also zuzugestehen, dass jemand sich nicht zwangsweise zuordnen muss. Ich könnte mir vorstellen, dass sich dann wesentlich mehr Menschen melden würden, die sich dem hetero-normativen Zwang entziehen wollen. Auch sogenannte Männer und Frauen, die sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren und das andere Geschlecht begehren, leider unter den eingeengten Vorstellungen von Geschlecht und sozialer Rolle. Auch auf ihnen lasten die Menge und die Macht kultureller Vorstellungen davon, was „der Mann“ oder „die Frau“ zu sein hat. Es wäre nicht verwunderlich, wenn ein Teil dieser Gruppe von Menschen, die ebenfalls sehr reflektiert mit dem Thema Soziale Rolle umgehen, bei einer Option „andere“ diese als Geschlecht ankreuzen und für sich beanspruchen würden. Auf der anderen Seite ist es illusionär, auf eine Auflösung sämtlicher Kategorien abzuzielen. Es wird immer Menschen geben, die auf Strukturen dieser Art angewiesen und von derartigen Kategorien abhängig sind. Wenn man ihnen das Gerüst einer „Identität“ nimmt – egal, ob Geschlecht oder etwas anderes – dann bricht etwas für sie zusammen, das ihnen bisher Halt und Sicherheit gegeben hat. Wir folgen einem pragmatischen funktionsorientierten Ansatz insofern, als wir wollen, dass Kategorien, die gewählt werden, nicht zu Diskriminierung führen, und dass die, die zu Diskriminierung führen, abgeschafft werden.

Gibt es sichtbare Erfolge?

Wir messen Erfolg an spürbaren Veränderungen der Lebenssituation. Die sind noch nicht zufriedenstellend. Aber dass da eine Bereitschaft ist, sich auseinanderzusetzen, zu diskutieren und sich zumindest das Problem anzuhören ? darin gibt es einen deutlichen Unterschied zu Deutschland oder Frankreich. Eine stärkere finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite würden wir uns in Luxemburg allerdings wünschen. Was wir innerhalb der Szene der Transidenten merken, ist, dass eine größere Offenheit der Medien und der Politik Einfluss auf das Selbstwertgefühl und das Selbstverständnis transidenter Menschen hat. Wenn transidente Menschen wissenschaftliche Kolloquien leiten oder in leitenden Positionen sichtbar werden, ändert dies die Art, wie sie gesehen werden. Es gibt plötzlich „positive“ Identifikationsmöglichkeiten.

Worum wird es in dem Kolloquium gehen?

Es geht erneut um das Thema Geschlechtervielfalt. Die Nichtanerkennung transidenter Menschen vor dem Gesetz steht symbolisch für die gesellschaftliche Nichtanerkennung. Lediglich Personen, die sich bestimmten Prozeduren unterworfen haben, sich beispielsweise für „psychiatrisch krank“ erklären und sich operieren lassen, werden anerkannt und können den Zivilstand und den Namen geschlechtsspezifisch ändern lassen. Wer sich dem entzieht, also etwa kein psychatrisches Attest über ?Transsexualismus‘ vorlegt oder sich nicht operieren lassen kann oder will, ist gezwungen, in rechtlicher Inexistenz zu verharren. Eine Argumentationsweise für die Exklusivität der Zweigeschlechtlichkeit Frau/Mann ist, vereinfacht dargestellt der Rückgriff auf die Vergangenheit „es war schon immer so“, die Religion „es ist von Gott gegeben“ und die Biologie bzw. Anatomie „es ist schon in den Genen zu erkennen“. Beim letzten Kolloquium haben wir versucht, Fakten aus historischer und theologischer Sicht darzustellen. Diesmal ist es uns gelungen, eine Biologin und eine Anthropologin zu gewinnen, die das Problem aus biologisch-genetischem Blickwinkel betrachten. Es wird gezeigt, dass anatomische Vorstellungen einen kulturellen Hintergrund haben. Das heißt, das Hauptargument, „Das ist doch natürlich“, wird in allen Vorträgen hinterfragt. So stabil, wie man glaubt, ist die Zweigeschlechtlichkeit definitiv nicht. Fasst man sie in ein Bild, dann könnte man sagen, man hat lange geglaubt, dass die Erde eine Scheibe ist ? jetzt wäre es an der Zeit zu erklären, dass das ein Irrtum ist. Heute ist geschlechtliche Identität noch nicht „messbar“ im klassischen Sinn, was nicht bedeutet, dass es sie nicht gibt. Aber da wir wissen, wie es Galileo Galilei ergangen ist, haben wir noch ein einiges an Aufklärungsarbeit
vor uns.

Das Kolloquium „Alle Geschlechter sind in der Natur…, aber nicht gleich vor dem Gesetz findet am 15. Juli in
Esch-sur-Alzette statt.
„Gaymat op Esch“ LGTB-Festival vom 14. Juli bis zum 23. Juli 2010.


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