Nach den Wahlen preist der siegreiche Präsident Putin die gesteigerte Legitimität des Parlaments. Doch von einer demokratischen Abstimmung kann kaum die Rede sein.
Ist man einmal ganz oben angelangt, kann es eigentlich nur noch abwärts gehen. Ob der Höhepunkt erreicht oder bereits überschritten wurde, lässt sich aber meist erst nachträglich feststellen. Erfolg ist gelegentlich aber auch eine Frage der Interpretation. Der russische Präsident Wladimir Putin jedenfalls war nach seinem Sieg bei den Dumawahlen vom 2. Dezember der Ansicht, dass die Legitimität des neuen Parlaments deutlich zugenommen habe. Schließlich hätten ganze 90 Prozent der Wähler ihre Stimme jenen Parteien überlassen, die nun im neuen Parlament vertreten sein werden.
Kremlnahe Politologen wie Gleb Pawlowskij unterstützen diese Sichtweise. Als Putins „Imagemaker“ berühmt geworden, bezeichnet er das Ergebnis der zu einem Plebiszit für den ersten Mann im Staat umfunktionierten Dumawahlen als überwältigende Unterstützung für Putins Kurs: alle Parteien, mit Ausnahme eines Teils der kommunistischen Partei KPRF, stünden letztlich hinter dem Präsidenten.
Laut den vorläufigen Endergebnissen erhielt Putins Hauspartei „Einiges Russland“ insgesamt 64 Prozent, die KPRF blieb knapp unter zwölf Prozent, die Rechtspopulisten von der Liberaldemokratischen Partei erreichten acht Prozent und das „Gerechte Russland“ meisterte die Siebenprozenthürde mit dem geringsten Puffer. Mit 315 von insgesamt 450 Sitzen verfügt das „Einige Russland“ damit über die für etwaige Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit. Das Zugpferd Wladimir Putin hat also sein angestrebtes Ziel erreicht und einen wichtigen Etappensieg im Kampf um seinen Machterhalt nach dem März 2008 errungen. Dann nämlich läuft seine zweite und, nach der geltenden Verfassung, letzte Amtszeit als Staatspräsident aus.
Dem Sieg gingen langfristige aufwendige Planungen voraus. Jeder im weitesten Sinne der Opposition zugerechneten und nicht von der Regierung kontrollierten Partei wurde eine Konkurrentin mit ähnlicher Programmatik an die Seite gestellt, um Wählerstimmen abzufangen. Die Siegerpartei verfügt außerdem über den Vorteil ständiger medialer Präsenz und kann auf wertvolle administrative Ressourcen zurückgreifen. Aber Angesichts der Notwendigkeit, nicht nur einen einfachen Wahlsieg, sondern einen Triumph zu erzielen – denn nur ein solcher ist geeignet, Putins Machterhalt den Schein der Legitimität zu verleihen -, durfte nichts dem Zufall überlassen werden. Zumal die Popularität der Jedinorossy (Einheitsrussen) paradoxerweise nach der Anfang Oktober verkündeten Entscheidung Putins, auf dem obersten Listenplatz zu kandidieren, einen Einbruch erlebte. Insbesondere die horrenden Preissteigerungen für Lebensmittel im Oktober sorgten für Missstimmung in der Bevölkerung. Wohl deshalb griff man zu rabiateren Maßnahmen, als gemeinhin von russischen Wahlen gewohnt.
In Folge gab es landesweit zahlreiche öffentliche Sympathiebekundungen für die Person des Präsidenten, sowohl von Seiten kremltreuer Kulturschaffenden als auch aus der Bevölkerung. An Universitäten, in Schulen und Kindergärten, in staatlichen und selbst in vielen privaten Unternehmen ? die jeweiligen Vorgesetzten ließen nichts unversucht, um in ihrem Einflussbereich für ein Maximum an Stimmen für die Jedinorossy zu sorgen. Die Wahl geriet zu einer Aktion, in deren Verlauf Staatsdiener und regionale Eliten ihrer Führung einen Loyalitätsbeweis zu erbringen hatten.
Die Wahl geriet zu einer Aktion, in deren Verlauf Staatsdiener und regionale Eliten ihrer Führung einen Loyalitätsbeweis zu erbringen hatten.
Die Ergebenheit beispielsweise der Kommunalverwaltungen beruht auf einer direkten Abhängigkeit vom jeweiligen Budget der zuständigen Regionalverwaltungen. Diese wiederum werden vom „Einigen Russland“ dominiert. Ohne direkte finanzielle Zuschüsse wäre beispielsweise im Moskauer Umland keine Kommune in der Lage, auch nur ein Minimum ihrer Aufgaben wahrzunehmen. Gennadij Gudkow, der den ersten Listenplatz der Partei „Gerechtes Russland“ im Moskauer Umland innehatte, klagte gegenüber der Zeitung „Novaya Gazeta“, dass sich unter seinen Parteigenossen kein einziges Kommunaloberhaupt befände, weil diese alle gezwungen seien, sich politisch umzuorientieren. Laut seinen Worten haben alle Kommunalchefs in der Moskauer Region einen Umschlag mit Zahlenangaben zwischen 70 und 75 erhalten. Dies sei auf die Prozente bezogen gewesen, die die jeweilige Kommune bei den Dumawahlen zugunsten der „Einheitsrussen“ zu liefern hatte.
Unzählige Verstöße am Wahltag waren die logische Konsequenz dieser Vorgeschichte. Von den kandidierenden Parteien delegierte Wahlbeobachter sowie gesetzlich nicht zugelassene unabhängige Beobachter vermittelten ein wenig ermutigendes Bild. Besonders großer Beliebtheit erfreute sich die einmalige oder mehrmalige Abgabe eines Stimmzettels außerhalb des eigenen Wahllokals ohne die dafür nötigen Unterlagen. Vorgesetzte schoben Sonderschichten, um die Wahlaktivität ihrer Untergebenen zu fixieren. Studenten, sofern sie ihren Platz im Wohnheim nicht riskieren wollten, war das Verlassen des Wohnortes am Wahltag untersagt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Das kriegserfahrene und mit harter Hand regierte Tschetschenien lieferte das wohl eindrucksvollste Ergebnis. Bei einer Wahlbeteiligung von sage und schreibe 99,5 Prozent erhielt das „Einige Russland“ eine fast hundertprozentige Zustimmung. Die Wahlleiter sollen der Einfachheit halber Stimmzettel selbst ausgefüllt haben. Der Vorsitzende der zentralen Wahlkommission Wladimir Tschurow findet indes ausgerechnet diese sagenhaft hohe Beteiligung „absolut ehrlich, transparent und rechtmäßig“. Die OSZE, die eigene Beobachter nach Russland entsendet hatte, kritisierte dagegen die unfairen Rahmenbedingungen der Wahl. Tschurow kann das nicht nachvollziehen und stempelt die Bewertung der internationalen Organisation als „private Meinung“ einzelner Beobachter ab, die rein politisch motiviert sei.
Die Tageszeitung „Moskowskij Komsomolets“ stuft das mit Mühe erreichte Ergebnis indes als eine herbe Niederlage für Putin ein. Nach ihren Berechnungen verlor er im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen von 2004, während der sich bei einer gleich hohen Wahlbeteiligung über 70 Prozent für Putin ausgesprochen hatten, ganze sechs Millionen Stimmen. Mit insgesamt über 44 Millionen Wählerstimmen kann er zwar auf einen großen Rückhalt in der Bevölkerung verweisen. Geht man allerdings von der Gesamtzahl der Wahlberechtigen von 109 Millionen aus, bleibt er damit unter 50 Prozent.
In Bezug auf ihre politische Zusammensetzung ähnelt die neue Duma im Übrigen der alten. Und es deutet nichts darauf hin, dass sich an der unter Putin eingeführten Praxis, wonach die Aufgabe der Abgeordneten einzig und allein im Abnicken von aus dem Kreml lancierten Gesetzesinitiativen besteht, etwas ändern wird. Neuerungen stehen allerdings hinsichtlich der dort vertretenen Abgeordneten an. Das erstmals bei Parlamentswahlen angewandte reformierte Wahlrecht sieht keine Direktmandate mehr vor, sondern allein die Kandidatur nach Parteilisten. Neben der Fehleinschätzung diverser Politiker, mit dem Wechsel zum „Gerechten Russland“ automatisch die Eintrittskarte in die Duma erworben zu haben, hat dieser Umstand nun zur Folge, dass zahlreiche prominente Volksvertreter für mindestens vier Jahre pausieren müssen. Einzug in die Duma hielt als Kandidat der Liberaldemokratischen Partei dagegen der von Großbritannien des Plutoniummordes an dem abtrünnigen Ex-KGB-Kader Alexander Litwinienko verdächtigte Andrej Lugowoj.
Die KPRF sieht sich um etliche Stimmen betrogen und will traditionsgemäß das Wahlergebnis anfechten. Dabei kommt die Partei mit ihren 57 Sitzen im Gegensatz zu 47 in der vorigen Duma gar nicht so schlecht weg. Ganz anders die liberale Opposition um Jabloko und die Union der rechten Kräfte. Dort wird man zunächst einmal ein finanzielles Problem zu lösen haben, da aufgrund des unter drei Prozent gebliebenen Wählerzuspruchs Wahlkampfkosten an den Staat zurückerstattet werden müssen. Für eine Konsolidierung fehlen allerdings auch tragfähige Konzepte. Sollte sich das von Putin errichtete Regime früher oder später zersetzen, wird dies wohl eher aufgrund innerer Widersprüche geschehen als durch den Druck einer starken politischen Opposition.
Die für das kommende Jahr prognostizierten Preiserhöhungen könnten allerdings zu schwer kalkulierbaren Protesten in der Bevölkerung führen. Der Ablauf der Dumawahlen hat ebenfalls für einigen Unmut gesorgt, denn trotz der vielzitierten Obrigkeitshörigkeit möchte man auch in Russland als Wähler nicht völlig zum Narren gehalten werden.
Ohnehin geht die Operation um den Machterhalt des amtierenden Präsidenten und seines Clans erst jetzt in die kritische Phase über. Anfang März soll über Putins Nachfolger abgestimmt werden, vorausgesetzt, alles geht den gesetzlich vorgeschriebenen Gang. Wen Putin als politischen Erben sehen möchte, ist die spannende Frage, die alle seit geraumer Zeit beschäftigt. In Kürze wird das Geheimnis gelüftet werden: Auf dem Parteitag der Einheitsrussen am 17. Dezember erfolgt die Bekanntgabe des offiziellen Präsidentschaftskandidaten.
Ute Weinmann arbeitet als freie Journalistin und lebt in Moskau.