Vergangenen Sommer haben die EU und der „sichere Drittstaat“ Ukraine in Luxemburg die Rückführung von Flüchtlingen vereinbart. Nun tritt das Abkommen in Kraft. Doch in dem Land jenseits der EU-Außengrenze ist man schon jetzt mit Asylsuchenden völlig überfordert.
Andijon 2005. „Es waren so viele Schuhe auf dem Platz“, erinnert sich Nadir. „Überall Soldaten mit Maschinengewehren, Panzer. Und zwischen all dem Blut auf dem Asphalt: Tausende Schuhe“. Nadir hat Leichen weggeräumt, sie in einen von Kugeln durchsiebten Opel Vectra geladen und zu den Friedhöfen am Rand der Stadt gebracht. Dass sein Telefon abgehört wurde, war damals ebenso Teil seines Alltags wie die Blicke ein und der selben Person im Nacken, die ihm überall hin folgte, in welche Stadt auch immer er später in Usbekistan kommen sollte.
Es war Mitte Mai 2005, als die Armee in der nordusbekischen Stadt Andijon nach wochenlangen Protesten einen Demonstrationszug oppositioneller Kräfte einfach niedermähte. Nadir war dem Blutbad mit bis zu 600 Toten durch einen Zufall entronnen. Aber er war aktiv in einer Menschenrechtsgruppe, die Verbindungen zu internationalen Gruppen in den USA und Großbritannien hatte, und das war sein Verbrechen. Als dann die Leute vom Geheimdienst kamen, Freunde verhafteten, manche von ihnen verschwanden oder kurz nach Verhören an inneren Verletzungen starben und er plötzlich ohne einen Grund seinen Job verlor, packte Nadir seine Sachen und tauchte unter – der Beginn einer Odyssee durch Kirgisien, Kasachstan und Russland, die noch lange nicht zu Ende ist.
Heute sitzt der schweigsame 32-Jährige mit den leicht ergrauten Haaren und dem nervösen Blick in Kiew. Hier war zunächst einmal Schluss mit dem Vorwärtskommen. Sein Ziel war die Ukraine nie, so meint er. Ein Land in der EU oder die USA, dort wäre er sicher, dort hätte er auch Bekannte. Aber die legalen Wege, dorthin zu kommen und auch bleiben zu dürfen, die sind sehr beschränkt. Und so steht der studierte Fernmeldetechniker heute ab und zu in einer Imbissbude auf einem Straßenmarkt irgendwo am Rande Kiews und hobelt für ein paar Griwna zwölf Stunden pro Tag gegrilltes Fleisch von einem Eisenspieß. Ansonsten geht er kaum vor die Tür. In der Ukraine, so meint Nadir, fühle er sich nicht sicher. Es gibt eine usbekische Gemeinde in Kiew, erzählt er, und dort hätten Leute von der Botschaft nach ihm gefragt. Und erst vor wenigen Wochen hatten die ukrainischen Stellen zwei Freunden von ihm Asyl verweigert und sie nach Usbekistan abgeschoben. Nadir selbst wartet noch auf einen Beschluss der Behörden. Deren Entscheidungen sind aber sogar für altgediente Juristen oft nicht nachvollziehbar. Gestrandet sei er hier irgendwie eben, sitze hier fest, so sagt er. Wie er tun das viele in der Ukraine, dem Vorhof zum Schengen-Raum.
Und in Zukunft werden es noch mehr werden: Denn laut einem im Juni 2007 in Luxemburg unterzeichneten und Mitte Januar auch vom ukrainischen Parlament ratifizierten Vertrag zur EU-Nachbarschaftspolitik haben sich Brüssel und Kiew über die Rückführung von Asylwerbern geeinigt. Für Migrationsströme aus dem Osten ist die Ukraine das Transitland schlechthin. De facto bedeutet das Abkommen, dass sich die Ukraine im Gegenzug für Visa-Erleichterungen für die eigenen Bürger als Drittland andient und Asylwerber, die über die Ukraine in den Schengen-Raum gelangt sind, von nun an aus dem EU-Raum dorthin abgeschoben werden können. Zunächst gilt der Vertrag nur für Staatenlose und für Angehörige von Drittstaaten, mit denen Kiew bereits ein Rückführungsabkommen abgeschlossen hat. In zwei Jahren dann wird die Ukraine alle Flüchtlinge aufnehmen müssen, die über das Land illegal in die EU eingereist sind.
„Die Ukraine ist kein sicheres Drittland“, urteilt Simone Wolken, Chefin der Vertretung des Hochkommissariats für Flüchtlinge der UNO in Kiew.
Dass die EU mit dem Abkommen die Ukraine als sicheres Drittland anerkennt, wird nicht nur von Menschenrechtsaktivisten massiv kritisiert. „Die Ukraine ist kein sicheres Drittland“, urteilt Simone Wolken, Chefin der Vertretung des Hochkommissariats für Flüchtlinge der UNO (UNHCR) in Kiew. Grund sind eine ganze Reihe von Missständen: So erkennen etwa die ukrainischen Behörden jene Papiere nicht an, die das UNHCR an Flüchtlinge ausstellt. Oft sind das über Wochen aber die einzigen Ausweise, die Asylwerber zur Verfügung haben, ehe sie ukrainische Dokumente erhalten. Und Menschen, die ohne gültige Personalien in der Ukraine aufgegriffen werden, landen in Verwahrung, wo sie oft in überfüllten Lagern zum Teil Monate verbringen.
Den ukrainischen Behörden fehlt es häufig auch schlicht an Mitteln: So hatte etwa die ukrainische Migrationsbehörde im Vorjahr zum Teil kein Geld, um Ausweise zu drucken. Mehrere Monate wurden deshalb keine Papiere ausgestellt. Es gibt auch keine Übersetzer, die chinesischen, afrikanischen oder arabischsprechenden Migranten helfen könnten. In vielen Bereichen widersprechen sich zudem die Gesetze des Landes. Und abgeschoben wird zum Teil in Diktaturen wie Usbekistan, wo Menschen wie Nadir möglicherweise die Todesstrafe erwartet. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dabei mangle es aber, so Simone Wolken, weniger am Willen der Behörden, als oft einfach nur an deren Möglichkeiten.
Die Ukraine habe genug eigene Probleme, so Leonard Terlitsky, ein Anwalt, der sich mit dem Themenbereich beschäftigt. Der Befund des Juristen der Nichtregierungsorganisation Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS), die allen Asylwerbern in der Ukraine kostenlosen rechtlichen Beistand bietet, fällt bitter aus: Migrations- und Asylfragen hätten im politischen Leben sehr geringe Priorität. Seit 1991, seit der Unabhängigkeit der Ukraine, habe sich in der Asylgesetzgebung nichts geändert, und schon gegenwärtig habe der Staatsapparat nicht im geringsten mehr die Kapazität zur Aufnahme, rechtlichen Handhabe, geschweige denn zur Integration von Flüchtlingen. Das Abkommen mit der EU, so sagt Leonard Terlitsky, bedeute, Asylwerber in ein Vakuum abzuschieben.
Eine Reform der Asylgesetzgebung wurde jetzt zwar von der neuen Regierung unter Julia Timoschenko angekündigt, aber noch gibt es keinerlei Anhaltspunkte, wie diese aussehen soll. Zugleich gibt es kein funktionierendes Rückführungsabkommen mit Russland ? seinerseits das Transitland in die Ukraine. Das Land muss also zum großen Teil selbst mit einerseits Abgeschobenen, andererseits ankommenden Asylbewerbern fertig werden.
Seitens der EU gibt es finanzielle Unterstützung für den Grenzschutz sowie zum Auf- und Ausbau von Auffanglagern. Juristen wie Leonard Terlitsky befürchten jedoch, dass die von der EU als Übergangslager gedachten Einrichtungen, in denen Asylwerber nur sehr kurze Zeit untergebracht werden sollten, letztlich zu Dauereinrichtungen werden. So, wie schon jetzt zum Teil: Eines dieser Camps befindet sich nahe der westukrainischen Stadt Mukatschewo. Das Lager – eine ehemalige Kaserne – befindet sich unter der Kontrolle der Grenztruppen. Die hatten jedoch über die vergangenen Jahre für die Verwaltung und Instandhaltung der chronisch überbelegten Einrichtung sowie zur Versorgung der Migranten von der Regierung in Kiew kein Budget zugewiesen bekommen. Verpflegt wurden die Insassen des Lagers mit Nahrungsrationen der Grenzer, sowie durch die Hilfe von NGOs. Manche Asylwerber verbrachten hier bis zu zehn Monate. Ohne das Lager verlassen zu dürfen.
Von den Fallen, den Tücken und der Schwerfälligkeit des ukrainischen Staatsapparates kann Nadir ein Lied singen – wobei er es mit seinen Sprachkenntnissen und dem Pass eines Landes der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten noch verhältnismäßig leicht hatte, wie er meint. Aber auch wenn er kein Visum für die Ukraine benötigte, die Einreise kostete ihn sein letztes Geld. Die Zöllner erkannten seine Herkunft, sie hätten ihn sonst mit dem nächsten Zug direkt zurück nach Russland geschickt – ganz ohne behördlichen Aufwand. Für die Weiterreise in den EU-Raum fehlten ihm schließlich Kraft und Geld. So stellte er in Kiew mit Hilfe von Freunden einen Antrag auf Eröffnung eines Asylverfahrens, um zunächst einmal bleiben zu können. Der wurde auch akzeptiert – was an sich schon eine Seltenheit ist. Gerade einmal 15 Prozent der Anträge werden einem Verfahren zugeführt. Der Rest blitzt ab, ein Teil wird abgeschoben, der Großteil der Menschen mit der Anordnung, das Land zu verlassen, in die Illegalität entlassen. Wie viele tatsächlich ausreisen, ist nicht bekannt. Manche, so vermutet Leonard Terlitsky, versuchen, sich in Richtung Westen durchzuschlagen, andere bleiben einfach im Land, versuchen irgendwie mit Hilfe ihrer ethnischen Communitys über die Runden zu kommen und nicht aufzufallen.
So auch Nadir. Er hat zwar Papiere, aber seine nicht-slawische Herkunft fällt auf und die ständigen Kontrollen der Miliz sind mühsam. Er hat Angst vor dem usbekischen Geheimdienst und vor Attacken Rechtsradikaler. Angriffe vor allem auf Afrikaner und Araber mehren sich. Es ist ein Dasein zwischen der Ein-Zimmer-Wohnung, in der er gemeinsam mit vier weiteren Migranten lebt, und seinem Arbeitsplatz in der Imbissbude, wo ihn besser auch niemand erwischen sollte. Denn arbeiten darf er nicht. Er hat keinen gültigen Pass, bekommt somit keine Steuernummer.
Aber alles in allem, so meint Nadir, habe er Glück gehabt. Er hat es geschafft aus Usbekistan zu fliehen, ist den Leuten in Russland entkommen, die ihn für Bauarbeiten angeheuert, ihm den Pass abgenommen und ihn zusammen mit 20 anderen in eine Wohnung gesperrt hatten. Und schließlich, so meint er, habe er es geschafft in der Ukraine mehr oder weniger Fuß zu fassen. Dass dieses, sein jetziges Leben, schon Morgen vorbei sein kann, dessen ist er sich bewusst. Das hat er am Beispiel seiner Bekannten gesehen, die vor wenigen Wochen abgeschoben worden waren. Von ihnen hat er nichts mehr gehört. Er hebt die Schultern: „Vermutlich sind sie in Haft.“ Auch sie stammen aus der Gegend um Andijon, hatten sich im Mai 2005 an den Protesten gegen den Machthaber Islom Karimov beteiligt, der das Land mit eiserner Hand bis heute führt. Eines ist Nadir völlig klar, wenn er an seine Heimat denkt: „Zurück werde ich nicht gehen.“ Auch wenn ihm bei diesem Satz die Tränen kommen, auch wenn dort seine Familie lebt. Dort oder hier, sagt er, das sei die Frage von Tod oder Leben. Eher würde er untertauchen und sich nach Polen, in die Slowakei oder nach Ungarn durchschlagen, als sich einfach abschieben zu lassen. Auch wenn das vielleicht bedeutet, letztlich wieder in der Ukraine zu landen.
Stefan Schocher arbeitet als freier Journalist und lebt derzeit in Kiew.