NINE-ELEVEN: Nach dem Kollaps

In Don DeLillos 9/11-Roman „Falling Man“ verwandelt sich der Anschlag auf das World Trade Center in ein therapeutisches Problem privater Traumata.

In den Augen der antisemitisch motivierten Attentäter ein Symbol der vermeintlich jüdisch beherrschten USA: Ein Tower des World Trade Center in New York.

„Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt, Zeit und Raum fallender Asche und nahezu Nacht. Er ging nordwärts durch Trümmer und Schlamm, und Menschen rannten an ihm vorbei, hielten sich Handtücher ans Gesicht oder Jacken über den Kopf.“ Don DeLillos neuer Roman beginnt mitten im Chaos der brennenden Türme des World Trade Center. „Falling Man“ schildert den 11. September 2001 aus der Sicht von Keith Neude-cker, einem Anwalt, der in einem der Twin Towers sein Büro hatte und der sich in letzter Minute vor dem Kollaps des Südturms über das Treppenhaus ins Freie retten kann.

Dem Grauen entronnen, kehrt Keith zu seiner von ihm getrennt lebenden Frau Lianne und ihrem gemeinsamen Sohn Justin zurück. Der Schock und die Verzweiflung lassen die beiden zunächst einen Neuanfang wagen – doch Keith schafft es nicht mehr, sich im Alltag zurechtzufinden. Er beginnt ein Verhältnis mit einer anderen Frau, kündigt seinen Job und zieht in immer länger werdenden Zeiträumen als professioneller Pokerspieler durchs Land, verfällt der Apathie der Kunstwelt der Kasinos. Während Lianne zunächst Halt in der erneuerten Beziehung zu ihrem Mann findet, wendet sie sich in ihrer Einsamkeit zunehmend der Religion zu, aus der sie schließlich wieder die Kraft zum Alleinleben schöpft. Parallel zum Schicksal der Neudeckers schildert DeLillo die Geschichte Hammads, der sich von einem weltlich orientierten Moslem in einen fanatischen Terroristen verwandelt und am Ende in einem der beiden Flugzeuge sitzt, die in das WTC einschlagen.

Beginnt der Roman mit der Flucht aus den Türmen, endet er mit dem Einschlag der Flugzeuge. In diesen Abschnitten zeigt DeLillo sein sprachliches Können. Temporeich und pa-ckend schafft er es, den Schrecken und die Gewalt der Ereignisse darzustellen. Dem Chaos stellt DeLillo die teilweise fragmentarisch anmutenden Sequenzen entgegen, in denen das Leben nach dem Anschlag geschildert wird. Sie sind bewusst lakonisch und knapp erzählt, vermitteln einen Eindruck von der Lethargie und Fassungslosigkeit der unter Schock Stehenden.So eindrücklich DeLillo die Stimmung nach dem Anschlag darstellt, so klischeehaft fällt die Beschreibung der psychischen Mechanismen aus, mittels derer die Hauptpersonen des Buches versuchen, ihre Traumata zu verarbeiten. Gerade so, als ob der Autor unter dem Stichwort „posttraumatische Störungen“ nachgeschlagen und die wichtigsten Symptome auf seine Protagonisten verteilt hätte.

Auch um eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Terror ist DeLillo nur wenig bemüht. Lediglich im Streit zwischen Liannes Mutter Nina und deren Lebensgefährten Martin findet überhaupt ein solcher Versuch statt. Während Martin, ein Deutscher mit linksradikaler Vergangenheit, Amerika Überheblichkeit vorwirft und der Politik die Mitschuld an den Anschlägen gibt, die bloß eine Reaktion der Dritten Welt auf die Ausbeutung durch den Westen seien, plädiert Nina vehement dafür, dass jeder das Subjekt seines Handelns sei und daher für dieses Handeln auch die Verantwortung trage.

Um eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Terror ist DeLillo nur wenig bemüht.

Die Szenen aus dem Leben der Neudeckers sind, obwohl scheinbar beliebig herausgegriffen, kompositorisch immer so gewählt, dass sie eine abgeschwächte Version entsprechender Episoden in der Geschichte Hammads darstellen. Dadurch wird der Eindruck vermittelt, das eine unterscheide sich nur graduell vom anderen und das Umschlagen in Schlimmeres sei jederzeit möglich: In der Zeit vor den Anschlägen unterwirft sich Keiths Pokerrunde freiwillig immer strikteren Regeln, während Hammad durch seine Kameraden eine zunehmend strengere Lebensweise aufgezwungen wird; Lianne wird religiöser, Hammad radikaler Islamist. „Du willst jemanden umbringen“, unterstellt Lianne Keith, Hammad im Anschlagsflugzeug tötet wahllos.

Trotz einiger starker Passagen des Buches hat Don DeLillo so sein Ziel, einen wichtigen Roman zum Thema 9/11 zu schreiben, letztlich verfehlt. Zu sehr verharrt er in seiner Darstellung der Katastrophe im Privaten und lässt dadurch den Auslöser der geschilderten Traumata beliebig erscheinen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der ideologischen Seite des Terrors bleibt leider weitgehend aus.

Don DeLillo – Falling Man. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten.


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