FAKTEN & FIKTION: Balsam der Frustrierten

Mit seinem neuen Roman will Umberto Eco zeigen, wie Verschwörungstheorien entstehen und worin ihre Wirkungsmacht besteht.

Will sich mit seinem neuesten Werk gegen die Verschwörer verschwören: der italienische Schriftsteller und Semiologe Umberto Eco.

Für die italienischen Rechtsextremen ist die Wirtschafts- und Finanzmisere das Werk einer internationalen Verschwörung: „Der wahre Grund für die Krise ist die weltweite Freimaurerei!“, ist auf Plakaten in den Straßen von Rom zu lesen. Ministerpräsident Mario Monti gilt den Neofaschisten aufgrund seiner Teilnahme an den geheimnisumwölkten Bilderberg-Konferenzen und seiner Beratertätigkeit für die US-Investmentbank Goldman Sachs als „gefährlicher Geheimbündler“ und professioneller „Spekulant“. Während er sich als Retter Italiens inszeniere, betreibe er in Wahrheit ein „doppeltes Spiel“ und organisiere den Ausverkauf staatlicher Unternehmensanteile zugunsten seiner „anglo-jüdisch-amerikanischen Logenbrüder“.

Die Hetze der Rechten enthält typische Versatzstücke jener im 19. Jahrhundert populär gewordenen Verschwörungstheorien, deren Entstehung Umberto Eco in seinem jüngsten Roman „Der Friedhof in Prag“ der Kunstfigur Simone Simonini zuschreibt. Doch der gegenwartspolitische Bezug des historischen Romans, die anhaltende Wirkungsmacht von Verschwörungstheorien, blieb in den Rezensionen zur deutschen Übersetzung, die im Oktober im Hanser Verlag erschien, unbeachtet. Die Aufmerksamkeit galt dem Einzeltäter Simonini.

Dabei ist der Protagonist die einzig erfundene Figur der Geschichte. Zu Beginn des Romans ist er sich seiner Identität nicht gewiss und beginnt ein Tagebuch zu schreiben, um über die Bestimmung der eigenen Leidenschaften dem verlorenen Ich auf die Spur zu kommen. Doch weil dem Schreiber außer der guten Küche nichts lieb zu sein scheint, bleibt ihm nur die Darstellung seines Hasses. Als erstes fallen ihm die Juden ein, wohl auch deshalb, weil er die Introspektion auf Anraten eines gewissen Dr. Froïde beginnt. Neben den Juden hasst er die Deutschen, Franzosen und Italiener, die Katholiken, insbesondere die Jesuiten, ebenso die Freimauerer, Sozialisten und Kommunisten. Frauen hasst er sowieso.

Wie es sich für eine psychoanalytische Rekonstruktion gehört, sucht Simonini in seiner Kindheit nach dem traumatisierenden Element, infolgedessen er sich, nach dem Urteil seines Autors, zum „schauerlichsten Protagonisten der Weltliteratur“ entwickelt. Er erinnert sich an die Urszene, in der ihn sein erzkatholischer Großvater mit dem antiaufklärerischen Werk des Abbé Barruel bekanntmacht und ihm die „jüdische Sekte“ als Drahtzieher einer freimaurerischen Weltverschwörung offenbart. Doch der junge Simonino lässt sich nicht nur von den großväterlichen Verschwörungstheorien unterhalten. Heimlich liest er die von seinem republikanisch gesinnten Vater abonnierten Fortsetzungsromane von Alexandre Dumas und Eugène Sue, in denen gegen die Jesuiten konspiriert wird. Er lernt früh, dass Verschwörungen eine Form bieten, die nach Belieben mit Inhalt gefüllt werden kann: „Jedem sein Komplott.“

Je mehr die Hauptfigur in den Sog ihrer eigenen Verschwörungstheorien gerät, desto verworrener wird auch der Roman.

Entsprechend dieser Maxime verfolgt er seine Karriere als junger Jurist in einer Turiner Kanzlei. Er lernt falsche notarielle Akte zu fabrizieren und lässt sich von den piemontesischen Geheimdiensten zur Spionage gegen Garibaldis Truppen engagieren. Eco erzählt zum 150. Jahrestag der italienischen Einheit die staatstragende Befreiungsbewegung als konspiratives Unternehmen. Er enthüllt damit längst Bekanntes: Die Wahrheit über Garibaldis Logenmitgliedschaft ist in die Sockel der überall im Land aufgestellten Heldenstatuen in Stein gehauen. Dennoch propagieren die selbsternannten Nachfahren der Kreuzfahrer, die separatistische Partei Lega Nord, noch heute ihren Hass auf Garibaldi als Aufdeckung einer „Freimaurerverschwörung“, die den „gesunden“ Norden zur Einheit mit dem „parasitären“ Süden zwang.

Ecos Protagonist ist auf seiner ersten Mission nicht sehr geschickt, er muss in Frankreich untertauchen. Im Paris der Belle Epoche dient Simonini den französischen, preußischen und russischen Diensten, ist an jedem reaktionären Verbrechen beteiligt. Er fingiert ein Komplott gegen Napoleon III., verrät die Aufständischen der Pariser Kommune und fälscht das Bordereau, das die Dreyfus-Affäre auslösen wird. Vor allem aber ersinnt Simonini die folgenschwerste Fälschung der Geschichte: die „Protokolle der Weisen von Zion“. Er erkennt, dass er nicht nur in katholischen Kreisen mit judenfeindlichen Fälschungen Geld machen kann, sondern dass es auch unter den Republikanern und Sozialisten einen „antijüdischen Markt“ gibt. Es bedarf nur einer Erweiterung des Materials. Die neue Kundschaft fordert „etwas Genaueres über die Beziehung zwischen den Juden, der Akkumulation des Kapitals und den britischen Weltherrschaftsplänen“. Simonini registriert den Übergang vom traditionellen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus. Aus frühen Skizzen und gelegentlichen Aufzeichnungen entwickelt sich im Laufe der Jahre die Struktur der „Protokolle“, mit dem er jedes antijüdische Ressentiment zu befriedigen weiß.

Die Historikerin Lucetta Scaraffia ereiferte sich im „L`Osservatore Romano“, der Tageszeitung des Vatikan, über die Darstellung der Katholiken als „monströse Karikaturen“ und stumpfsinnige Gegner alles Progressiven. Tatsächlich enthüllt Eco, dass die antimodernistischen Positionen, die zu Simoninis Zeiten von Papst Leo XIII. und heute von Pontifex Ratzinger gepredigt werden, ein wesentliches Element des modernen Antisemitismus ausmachen.

Simonini berauscht sich zunehmend an seinen eigenen Fälschungen, sein Groll auf die Juden verwandelt sich von einer kalkulierten Geschäftsidee zu einer unbezähmbaren Leidenschaft. Je mehr die Hauptfigur in den Sog ihrer eigenen Verschwörungstheorien gerät, desto verworrener wird auch der Roman: Simonini wird nicht nur zum Doppelagent, er tritt auch noch als Abbé Dalla Piccola in einer Doppelrolle auf. Jede Verschwörung kann jederzeit neu inszeniert, jedes Material in ein altes Dokument mit aktuellen Bezügen verwandelt werden. Simonini ist unsterblich: „Ja, um es offen zu sagen“, warnt Eco am Ende seine Leser, „er ist immer noch unter uns.“ Doch was den Fälscher so gefährlich macht, ist die kollektive Wirkmacht seiner Fälschungen. Das Komplott, lernt Simonini bei Dumas, „bietet allen Frustrierten – den einzelnen wie den Völkern – eine Erklärung für ihr Scheitern.“

Eco hat sich als Professor für Semiologie in zahlreichen literaturkritischen Essays mit der Wirkung von Fiktion beschäftigt. Er kennt den Vorteil der guten Erzählung, wahrscheinlicher zu klingen als jede historische Realität. Nachdem er bereits vor einigen Jahren für ein akademisches Publikum in einem Aufsatz die „Fiktion der Protokolle“ wissenschaftlich aufarbeitete, versucht er sich nun an einer für ein Massenpublikum wirksamen Rückverwandlung der Historie in ein illustriertes Feuilleton.

Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sind eine Fiktion, ein Plagiat aus unterschiedlichen Texten, ein erfolgreiches Kapitel aus einem endlosen antisemitischen Fortsetzungsroman. Simonini weiß, dass Verschwörungstheorien „außerordentlich, überwältigend, romanhaft“ sein müssen, um glaubhaft zu wirken. Was für die gefälschten Enthüllungen gilt, muss auch für die enthüllte Wahrheit gelten. Deshalb präsentiert Eco den Fälscher als Romanfigur. Doch sein Vorhaben misslingt: Aufgeklärten Lesern, die sich für die historischen Zusammenhänge der Entstehungsgeschichte der „Protokolle“ interessieren, genügt die Lektüre seiner früheren, essayistischen Texte, weniger aufgeklärte Leser werden sich von seiner eigenen, ebenso komplizierten wie langatmigen Fälschung nicht überzeugen lassen. „Der Friedhof in Prag“ taugt nicht für eine Verschwörung gegen die Verschwörer.

Wenige Monate nach der Erstveröffentlichung erschien in Italien eine Schmähschrift über „Die Protokolle des Weißen von Alessandria“, in der die „Protokolle“ als eine Fälschung anerkannt werden, die die Wahrheit über die Existenz eines „jüdischen Komplotts“ enthielten. Gianluca Casseri, der Verfasser des Pamphlets gegen Eco, erschoss Mitte Dezember in Florenz zwei Straßenhändler aus dem Senegal und richtete sich danach selbst. Er war kein „verrückter“ Einzelgänger wie Simonini, sondern ein bekannter rechtspopulistischer Journalist, ein bekennender Verschwörungstheoretiker und ein aktiver Anhänger der rechten Häuserkampfbewegung Casa Pound, die für die Verwirklichung des „Faschismus des 3. Jahrtausends“ kämpft.

Umberto Eco – Der Friedhof in Prag.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, 528 Seiten.


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