DEUTSCHLAND: Wahrheit, verzweifelt gesucht

Noch einmal wird in einem Gerichtsverfahren untersucht, unter welcher Beteiligung Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977 von einem RAF-Kommando erschossen wurde. Doch während bei früheren Prozessen die politische Dimension noch deutlich wurde, sind heute die Perspektiven von Täter und Opfer zentral. Der gesellschaftliche Kontext der Ereignisse kommt nicht mehr in den Blick.

Verblasst, aber nicht vergessen:
Ein Plakat erinnert an
die getöteten Mitglieder der
Roten Armee Fraktion.

Während einer kurzen Prozesspause steht Michael Buback im ersten Stock des Stuttgarter Oberlandesgerichts auf dem Flur. Er versichert seinem Gesprächspartner mit lauter Stimme, es ginge ihm nicht um eine Verurteilung Verena Beckers, bloß „weil sie ein paar Briefmarken abgeleckt haben könnte“. Letztlich sei die Frage einer Verurteilung überhaupt ohne Bedeutung. „Was aber nicht ohne Bedeutung ist, ist zu wissen, wie es war.“

Der Sohn möchte die Wahrheit wissen über den 7. April 1977, an dem sein Vater, der damalige Generalbundesanwalt Siegried Buback, von einem Kommando der Roten Armee Fraktion (RAF) erschossen wurde. Nachdem in den Achtzigerjahren Knut Folkerts, Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt wegen des Attentats in Karlsruhe angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren, muss sich seit September 2010 auch Verena Becker wegen des gemeinschaftlichen Mordes an Buback und seinen zwei Begleitern vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, an der Planung und Organisation der Ermordung mitgeholfen und die Bekennerbriefe verschickt zu haben.

Siegfried Bubacks Sohn, der als Nebenkläger auftritt, hat jahrelang selbst Ermittlungen angestellt. Ihnen zufolge hält er es für erwiesen, dass die drei verurteilten RAF-Mitglieder nicht an der Ausführung der Tat beteiligt waren. Die von ihm gesammelten und in einem Buch dokumentierten Indizien deuten auf Becker als mögliche Todesschützin. Da sie trotz verschiedener Verdachtsmomente nie wegen des Attentats angeklagt wurde, gebe es für seine Familie „keinen vernünftigen Zweifel“ daran, dass Becker von „staatlichen Stellen“ gedeckt worden sei.

Für diesen „zweiten Tod“ an seinem Vater macht Buback auch die Bundesanwaltschaft verantwortlich. Sein Verhältnis zu den Karlsruher Richtern, die sich wohl nicht zuletzt aufgrund seiner Nachforschungen veranlasst sahen, ein neues Ermittlungsverfahren einzuleiten, ist deshalb zerrüttet. In Stuttgart führt nun ausgerechnet Bundesanwalt Walter Hemberger die Anklage, dem Buback in seinem Buch unterstellt, „dass er eine Front halten wollte, vielleicht halten musste“, die nach der Faktenvorlage nicht zu halten war.

Im Verlauf der Verhandlung entluden sich die Spannungen zwischen Ankläger und Nebenkläger gelegentlich in offenem Streit. Gleichzeitig ließ die Gereiztheit zwischen Hemberger und Buback die seltsame Einigkeit zwischen Anklage und Verteidigung umso deutlicher hervortreten. Während Beckers Anwälte daran interessiert sind, die Zeugen des Nebenklägers zu widerlegen oder wenigstens ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen, will sich die Staatsanwaltschaft keine Versäumnisse oder Fehlurteile in den früheren Verfahren nachweisen lassen. Und offensichtlich sind weder die Ankläger noch die Verteidiger an Spekulationen über geheimdienstliche Verstrickungen von Verena Becker interessiert.

Nach über 80 Verhandlungstagen und mehr als 150 Zeugenvernehmungen sind für Ende April die Schlussplädoyers angekündigt. Buback wird noch einmal seine Hypothesen darlegen, wenngleich absehbar ist, dass das Gericht Becker allenfalls wegen Beihilfe, nicht aber wegen Mittäterschaft zur Rechenschaft ziehen wird. Unabhängig vom Ausgang des Urteils will Buback nicht in Berufung gehen. Er scheint eingesehen zu haben, dass kein Prozess aufklären kann, „wie es war“. Was ihm bleibt, ist die Hoffnung, Becker werde außerhalb des Gerichtssaals ihr Schweigen brechen und „die Wahrheit sagen“.

Wolfgang Kraushaar, der als „RAF-Experte“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung, dem „absurd anmutenden Verwirrspiel“ zwischen Verena Becker und dem Verfassungsschutz eine eigene Studie widmete, macht auf einen entscheidenden Unterschied zwischen der akribischen Ermittlungsarbeit des Sohnes und der RAF-Fahndung des Vaters aufmerksam: Der ehemalige Bundesanwalt habe durch die Befürwortung der Einführung des §129a dazu beigetragen, dass die bloße RAF-Mitgliedschaft ausreichte, um strafrechtlich belangt zu werden. Buback junior gehe es dagegen um die individuelle Verantwortung. Er will wissen, wer geschossen hat.

Wiederholt beschreibt der Sohn, wie „unsagbar bitter“ und wie „unerträglich bedrückend“ es für ihn sei, dass die Mörder seines Vaters nicht ermittelt und zur Rechenschaft gezogen worden seien. Er ist ein „Geschädigter“. Der Schmerz über den Verlust des Vaters und die Beschädigung, die seine Familie dadurch erfuhr, ist in seinem Buch spürbar. Doch wenn Buback als „Angehöriger“ gegenüber den Strafverfolgungsbehörden einen privilegierten Informationsaustausch beansprucht oder als „Terroropfer“ vor Gericht eine besondere Rücksichtsnahme einfordert, dann übernimmt er eine bestimmte Rolle in der deutschen Geschichtspolitik. Die Frage nach der individuellen Schuldzuweisung verdrängt dann die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die zur Entstehung des bewaffneten Kampfs geführt haben. Wenn die Täter als einfache Kriminelle und unmoralische Verbrecher dargestellt werden, kann über die politischen Motive der militanten Linken geschwiegen werden. „Von einigen, die zu unterschiedlichen Zeiten in der RAF waren“ gab es im Juni 2010 eine entsprechende Stellungnahme zum Stuttgarter Prozess: „Worum es hier wirklich geht, ist, die Auseinandersetzung mit der Geschichte bewaffneter Politik auf die Ebene von Mord und Gewalt runterzuziehen.“

Stefan Wisniewski trug bei seinem Zeugenauftritt Siegfried Bubacks NSDAP-Mitgliedsnummer auf dem Rücken seiner Jacke. Damit war das postnazistische Kontinuum in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft angedeutet. Doch die Anspielung blieb plakativ, die Provokation des ehemaligen RAF-Mitglieds verpuffte. Die Funktion, die der einstige Parteigänger der Nationalsozialisten beim Aufbau des staatlichen Repressionsapparats in den Achtzigerjahren innehatte, kam im Prozess überhaupt nicht zur Sprache.

Stefan Wisniewski trug bei seinem Zeugenauftritt Bubacks NSDAP-Mitgliedsnummer auf seiner Jacke.

Gegen die Individualisierung der RAF-Geschichte wehrten sich die Ehemaligen auch dadurch, dass sie sich geschlossen auf ihr umfassendes Aussageverweigerungsrecht nach §55 der Strafprozessordnung beriefen. „Wenn von uns niemand Aussagen gemacht hat“ – erklärten sie in ihrer späteren Stellungnahme – „dann nicht, weil es darüber besondere ?Absprachen` in der RAF gegeben hätte, sondern weil das für jeden Menschen mit politischem Bewusstsein selbstverständlich ist.“

Diese Haltung provozierte insbesondere den Vorsitzenden Richter Hermann Wieland. Gegenüber der Zeugin Brigitte Mohnhaupt drohte er mit einer höheren Gerichtsbarkeit, vor der sie im „Übergang vom Leben zum Tod“ stehen und sich für ihr Leben rechtfertigen müsste. Als seine Einschüchterungsversuche fehlschlugen, schimpfte er: „Also auch diese Chance haben Sie vergeben!“ Wiederholt warf er den Zeugen „Gewissenlosigkeit“ vor und wo immer er das Zeugnisverweigerungsrecht in Frage gestellt sah, drohte Wieland mit Beugehaft. Obwohl der Bundesgerichtshof alle diesbezüglichen Anträge ablehnte, wurde im Dezember letzten Jahres auch an das ehemalige RAF-Mitglied Christa Eckes eine „Ladung zum Beugehaftantritt“ verschickt. Dem Gericht war bekannt, dass sie an Leukämie erkrankt und in stationärer Behandlung war, doch erst nachdem ein ärztliches Attest bescheinigte, dass der Ausfall ihrer Therapie durch eine Verlegung in ein Gefängniskrankenhaus unmittelbar lebensbedrohlich sein würde, wurde die sofortige Vollstreckung der sechsmonatigen Zwangsmaßnahme ausgesetzt.

In der Öffentlichkeit fanden die Schikanen des 6. Stuttgarter Strafsenats nur einen kurzen Widerhall. Die Berichterstattung über den Prozess folgte ansonsten dem kulturindustriellen Drehbuch: Die ehemaligen RAF-Mitglieder wurden anlässlich ihrer Auftritte vor Gericht so beschrieben, wie man sie aus den Kinofilmen der letzten Jahre kennt: Die Herren „lässig mit breitem Schritt“, in „Lederjacke“ oder „Kapuzenpulli“, „die Stiefelletten auf Hochglanz gebürstet“. Brigitte Mohnhaupt blieb die Rolle der „eisernen Lady der RAF“, der man heute wie damals eine „Führungsrolle“ zuordnete. Die „Sympathisantenszene“ übernahm in diesem Spektakel auch einen Part: sie demonstrierte zum Besuch der alten Helden „Solidarität mit den 10 ehemaligen Militanten aus der RAF“.

Für weite Teile der radikalen Linken gehört die Geschichte des bewaffneten Kampfs zu einer Vergangenheit, die man aufgearbeitet hat. Der Antisemitismus in der antiimperialistischen Politik der RAF ist offengelegt, die Strategie der „Stadtguerilla“ als „Rote Armee Fiktion“ entlarvt. Vor allem seit 1989 steht für viele Linke nicht mehr die Theorie und Praxis der revolutionären Befreiung des Volkes auf dem Programm, dringlicher ist seither die Analyse und Kritik der klassenübergreifenden Vereinigung zum deutschen Mob und die erinnerungspolitische Entsorgung der NS-Vergangenheit.

Doch zur neuen Geschichtsschreibung der Berliner Republik gehören eben auch die Erzählungen der Angehörigen von RAF-Opfern. Bei Michael Buback ist der Zusammenhang angedeutet in der Buchwidmung an seine Mutter, „die zwei für sie sehr wichtige Menschen durch Gewalt verloren hat: ihren Vater im Zweiten Weltkrieg und ihren Mann in scheinbarer Friedenszeit, und die bei beiden die genauen Umstände des Todes nicht kennt.“

Auch Corinna Ponto beschreibt, wie sich nach dem Mord an ihrem Vater Jürgen Ponto, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, für ihre Mutter „zwei deutsche Geschichtsachsen“ verschränkten. „Hitlers Naziterroristen“ hätten ihr die Eltern und beide Großelternhäuser in Schlesien genommen, dreißig Jahre später habe sie durch „Hitlers Kinder“ ihren Mann und damit zum zweiten Mal ihre Lebenssicherheit verloren.

Doch anders als das „kollektive Leid“ durch „Bombenkrieg“ und „Vertreibung“ ist die RAF-Zeit noch nicht als vergleichbar leidvolle Zeit im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verankert, „mitnichten gibt es ein kollektives Empfinden.“ „Die Bomben, die Russen, die Terroristen“ bleibt vorerst noch ein von der Mutter skizzierter persönlicher Leidensweg. Andererseits greift die Tochter einige Seiten später das Erzählmuster der Mutter auf und setzt die Verflechtung „zweier deutscher Terrorphasen“ fort. Der von Harald Welzer in seinen sozialwissenschaftlichen Studien zur Konstruktion von Vergangenheit im Familiengedächtnis vorgestellte Tradierungstyp der „Opferschaft“ verdoppelt sich in Pontos Erinnerungen. Eine andere Perspektive lässt das intergenerationelle Familiengespräch nicht zu. Der Vorfahre bleibt stets „der verschmitzt lächelnde Großvater im Bilderrahmen“. Bubacks Anstrengung, herauszufinden, „wie es war“ und Pontos Versuch, den Opfern „ihre eigene Geschichte“ wiederzugeben, trägt zur Emotionalisierung des Vergangenheitsdiskurses bei und verhindert jedes Verständnis für die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen nicht nur der bewaffnete Kampf hervorging, sondern jede Kritik an der postnazistischen Nachkriegsgesellschaft. Der Prozess gegen Verena Becker ist deshalb nicht nur ein Epilog auf die „bleierne Zeit“ der Bundesrepublik, sondern auch eine aktuelle Inszenierung der deutschen Ideologie.

Catrin Dingler ist freie Publizistin und arbeitet zwischen Stuttgart und Rom.


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