GESELLSCHAFTSKRITIK: Revolution auf Samtpfoten

Theodor W. Adorno habe Marx nicht begriffen, lautet ein gängiges Gerücht. Eine neue Studie zeigt:
Wer so spricht, hat meist weder von Marx noch von Adorno viel verstanden.

Sagen, was sich nicht sagen lässt:
Der Philosoph Theodor W. Adorno.

Als im Jahr 2003 der hundertste Geburtstag von Theodor W. Adorno begangen wurde, nutzten zahllose Laudatoren die Gelegenheit, um die kritische Gesellschaftstheorie des Philosophen zu erledigen, zu entsorgen, so weit als möglich um ihren kritischen Gehalt zu bringen.

Adorno zählte zu einem Kreis kritischer Theoretiker, die man nach ihrer Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil an ihre frühere Wirkungsstätte nicht zufällig häufig als „Frankfurter Schule“ betitelt hat. Das Wort von der Schule verrät nichts über den Geist der unter ihr subsumierten ?Lehrer‘. Es zeigt aber an, wie man sich auch an den Universitäten in Deutschland (es gab dort der „Schulen“ viele) nach dem Krieg den Modus der Vergesellschaftung allein vorzustellen im Stande war: dezisionistisch, gemäß der Unterscheidung von Freund und Feind, organisiert in Cliquen, unter Berufung auf Gesinnung statt auf kritische Reflexion.

Das Feld war also bereits recht gut bestellt, als man 2003 Theodor W. Adorno von links wie rechts einmal mehr als „Musiktheoretiker“ (SWR), als „braven Sohn“, „Dauer-Pessimist“ und „Bordellbesucher“ („Spiegel“) etc. zu desavouieren begann. Dieses Engagement hatte vor allem einen Grund: Man wird es dem Philosophen nicht verzeihen, dass er nach 1945 den Satz formulierte, jegliches Denken und Handeln sei fortan „so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe“. Einen kategorischen Imperativ also, dem Adorno beinahe entschuldigend hinzufügte, er sei den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit von Hitler „aufgezwungen“ worden; was man, wiewohl sich der Satz an die gesamte Gattung richtet, als Wohlwollen gegenüber der deutschen Gesellschaft interpretieren mag. Hätte man den kategorischen Imperativ tatsächlich als solchen akzeptiert und begriffen – er allein hätte das Potenzial gehabt, an dessen Entfaltung der Masse der Deutschen nach dem Krieg kaum je etwas lag: Index einer gelingenden Aufarbeitung der Vergangenheit zu sein.

Adorno hat damit auch die Geschäftsgrundlage der Linken in Deutschland bis heute empfindlich gestört. Dort wird „Klassenbewusstsein“ nämlich viel zu häufig nicht als Modus der Kritik, sondern als Aufruf zur Kumpanei begriffen, nicht selten mit Antisemitismus gewürzt.

Ein Rezept mit Tradition, denn es hatten sich „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ in ihrem Gros statt für den Klassenkampf für Nationalsozialismus und Volksgemeinschaft entschieden, wie unter anderem eine gleichnamige Studie von Erich Fromm belegt. Das wirft Fragen auf, denen man sich lieber nicht stellen will und wollte. Und so kann sich Adorno selbst nach seinem Tod der Wut aller sicher sein, die Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie weiterhin für die „Befreiung der Arbeit“ vom Kapital (und nicht für deren Abschaffung) oder für apokalyptische Visionen von antiimperialistischen Völkerschlachten, vom letzten Gefecht etc., zurechtbiegen wollen.

Bis heute sind zahllose Marx-Adepten leidenschaftlich bemüht, Adorno als bourgeoisen Ästhetizisten zu denunzieren, der vom Genuss großbürgerlicher Kultur viel, von Marx’scher Kritik und Klassenanalyse dagegen fast gar nichts verstanden habe. Eine jüngst veröffentlichte Arbeit tritt dieser weithin kolportierten Lüge nun entgegen. Anschaulich arbeitet deren Autor Dirk Braunstein heraus, worin Adornos, darin vielen Philosophen gleich, nur selten explizit benanntes Zentrum der Reflexion besteht: in der Ökonomiekritik.Leider versäumt es der Autor zu präzisieren, dass es Adorno spätestens ab den Vierzigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts insbesondere um die Möglichkeit und Notwendigkeit der Ökonomiekritik nach Auschwitz ging: Fortan ist der Mord an den europäischen Juden die historische Erfahrung, die das Zentrum von Adornos Denken bildete, wobei jeder Versuch, das Unfassbare zu begreifen, neben der Psychoanalyse notwendig auf die Ökonomiekritik verwiesen bleibt.

Die Konsequenz aus Adornos Denken ist die Vermittlung von Theorie und Praxis in der Form der Kritik.

Dirk Braunstein ist nicht in erster Linie daran interessiert zu zeigen, dass Adorno die Marx’sche Kritik begriffen hat. Vielmehr ist er um die Darstellung einer „genuin Adornoschen Fassung der Kritik der politischen Ökonomie“ bemüht. Diese sei eine meta-ökonomische Kritik, denn Ökonomie meine bei Adorno „nicht bloß Kapitalismus, auch nicht gesellschaftliche Produktion als solche“. Das kritische Moment seiner Philosophie ziele auf die „Möglichkeit des menschlichen Zusammenseins angesichts der Unmöglichkeit unmittelbarer Einigkeit“. Ein emphatischer Begriff von Versöhnung also, dessen Entfaltung durch Adorno Dirk Braunstein in seiner Arbeit nachzeichnet.

Zunächst referiert Braunstein ausführlich über Adornos Auseinandersetzung mit Marx‘ Kritik. Reichhaltige Zitate aus unveröffentlichten Texten und Vorlesungsprotokollen Adornos machen die Mühe beim Lesen dieser etwas langatmigen Passagen wett. Die Lektüre von Georg Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“, so Braunstein, sei für Adorno „wie für viele andere Intellektuelle seiner Zeit, ein zentrales Bildungserlebnis“ gewesen. Schon nach wenigen Jahren wendet er sich aber von Lukács ab, woran ein Zusammentreffen der beiden im Frühjahr 1925 wohl keinen geringen Anteil hat: „Im Gespräch zwischen Adorno und Lukács“, so Braunstein, „mischen sich bereits persönliche Aversionen und theoretische Differenzen beider Theoretiker, die nie wieder überwunden werden.“

Adornos Begriff des Nichtidentischen ist gegen die Herrschaft in all ihren Formen gerichtet.

Wie Braunstein anhand von Adornos Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1931 zeigt, ist dieser bereits damals in der Lage, aus dem „Kapital“ jene erkenntniskritische Konsequenz zu ziehen, die vielen, die sich auf Marx berufen, selbst nach intensiver Kapitallektüre verschlossen bleibt: „Der Annahme, der absolute Geist Hegels oder das Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte wie bei Lukács seien im Idealfall in der Lage, die Totalität zu begreifen, hält Adorno entgegen, daß das zu Begreifende“, also der Kapitalismus, „gar nicht nach Maßgabe der Vernunft eingerichtet sei.“ Nicht eine „Ökonomie-Theorie“ mit dem Anspruch, dem Irrationalen Rationalität einzuhauchen, sondern kritisch und auf die Abschaffung des unter die Kritik befassten Gegenstandes zielend, hat also die Beschäftigung mit dem Kapitalverhältnis zu sein.

Die Konsequenz aus diesem Denken ist die Vermittlung von Theorie und Praxis in der Form der Kritik: „Die Deutung der vorgefundenen Wirklichkeit und ihre Aufhebung sind auf einander bezogen. Nicht zwar wird im Begriff die Wirklichkeit aufgehoben; aber aus der Konstruktion der Figur des Wirklichen folgt allemal prompt die Forderung nach ihrer realen Veränderung.“ Adorno folgt 1931 noch den Marx’schen Feuerbach-thesen und der darin ausgedrückten Forderung nach verändernder Praxis, wenn er formuliert: „In der Vernichtung der Frage bewährt sich erst die Echtheit philosophischer Deutung und reines Denken vermag sie von sich aus nicht zu vollziehen: Darum zwingt sie die Praxis herbei.“ In der 1966 veröffentlichten „Negativen Dialektik“ findet sich der Bezug auf die Feuerbachthesen dann nur mehr gebrochen wieder ? ein Bruch, der dem Denken nach Auschwitz aufgezwungen ist: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Die Nötigung zur Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse besteht nach dem Mord an den europäischen Juden nicht minder, denn es sind diese Verhältnisse, aus denen die Mörder hervorgegangen sind. Doch Praxis als Fetisch, die so außerhalb des Modus der Kritik verbleibt, „ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation“, sondern trägt als Vorwand, um „den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen“, selbst zum Fortbestand des schlechten Ganzen bei.

Um eine chronologische theoriegeschichtliche Darstellung bemüht, arbeitet Braunstein diesen Bruch im zweiten Teil seiner Arbeit nicht explizit heraus. Er widmet sich vor allem der Rekonstruktion der Auseinandersetzungen am mittlerweile von Frankfurt ins Exil gegangenen Institut für Sozialforschung um das Wesen des Nationalsozialismus. Außerdem stellt er die Bedeutung der Kritik der politischen Ökonomie für die gemeinsame Arbeit Adornos und Horkheimers an der „Dialektik der Aufklärung“ dar, dem wohl bekanntesten Werk der Kritischen Theorie.

Erst im dritten, lesenswertesten Teil seiner Arbeit macht sich der Autor daran, wie angekündigt den meta-ökonomischen Ökonomiebegriff Adornos nachzuvollziehen. Es handelt sich dabei um einen Ökonomiebegriff, innerhalb dessen die politische Ökonomie des Kapitalverhältnisses, gegen welche Marx‘ Kritik sich wendet, gewissermaßen einen Sonderfall, eine bestimmte historische Phase der Herrschaft darstellt. Im Zentrum dieser meta-ökonomischen Kritik steht das Bemühen, „Tausch und rationale Logik beide aus der Äquivalenz und damit aus der Identität zu entwickeln“. Der Begriff des Tausches wird von Adorno also „nicht nur im Marxschen Sinne als ökonomische Kategorie kritisiert, die der kapitalistischen Gesellschaft als Strukturprinzip zugrunde liegt; sondern er will den Tausch auch als meta-ökonomisches Prinzip bestimmen, dessen Urgeschichte mit der von Ab-
straktion, Identität, Begrifflichkeit, d.h. mit der Urgeschichte von Vernunft selbst zusammenfällt“.

Begreift man wie Adorno Aufklärung nicht als „Epochenbegriff, sondern als Versuch, die Herrschaft der Natur über die Menschen mittels menschlicher Herrschaft über die Natur zu überwinden“, so konnte die Natur nur mittels instrumenteller Vernunft, also durch begriffliche wie sachliche Zurichtung durch den Menschen beherrscht werden. Ihre Aneignung erfolgte bloß unter dem Aspekt ihrer Fungibilität.

Dieses Verhältnis zur Natur ist im Kapitalverhältnis total geworden, alles, selbst der Mensch als Teil der Natur wie als Träger der Ware Arbeitskraft wird innerhalb der negativen Totalität des Kapitals als identisch gesetzt, unter dem Aspekt seiner Verwertbarkeit subsumiert.

In der Schrift „Negative Dialektik“ setzt Adorno diesem Zwang zur Identität seine Philosophie des Nicht-
identischen entgegen. Für ihn geht jedes ?Ding‘, der Mensch einbegriffen, „will man ihm erkennend Gerechtigkeit widerfahren lassen, gerade nicht in der ?Summe seiner möglichen Nutzanwendungen‘ auf; im Gegenteil bezeichnet das Nichtidentische bei Adorno doch das Moment, das sich der Fungibilität entzieht“. Der Begriff des Nichtidentischen ist daher gegen die Herrschaft in all ihren Formen gerichtet.

Selbst der Begriff des Fortschritts ist deshalb nicht einfach zu affirmieren, sondern in seiner Dialektik zu sehen, legt Braunstein dar: „Fortschritt im Anwachsen der Produktionskräfte sowie des materiellen Reichtums zu begreifen, ist selbst noch Resultat einer Geschichtsauffassung, der Adorno nicht folgt. Solange die Menschen die Natur beherrschen müssen, werden sie von ihr beherrscht, denn im Versuch, sich über sie zu erheben, verstricken sich die vergesellschafteten Individuen nur immer weiter in Natur. Müßte Natur nicht mehr beherrscht werden, wäre die Menschheit nicht mehr ohnmächtig der Natur ausgeliefert; [?]. Die von Adorno erhoffte Versöhnung von Subjekt und Objekt affizierte als Resultat bestimmter Negation nicht nur die Subjekte. Versöhnung bedeutet nicht ein Zurück zur Natur, sondern ein Fortschreiten über die Dichotomie von Natur und Gesellschaft bzw. ?erster‘ und ?zweiter Natur‘ hinaus.“

Dem Nichtidentischen beizustehen, ist für Adorno nach Auschwitz die Bedingung jeder Möglichkeit zur Revolution: „Daß es aber gleichwohl des nicht unter die Identität zu Subsumierenden [?] bedarf, damit Leben überhaupt, sogar unter den herrschenden Produktionsverhältnissen, fortdauere, ist das Ineffabile der Utopie.“

„Wäre Kritik der Gesellschaft nur das Interesse einer Klasse und nicht das konkrete der Menschheit,
so wäre sie keinen Schuß Pulver wert.“

Das Nichtidentische ist jedoch zugleich das Ungeschützte, denn es gehört zu seinem Wesen, dass es nicht von der Herrschaft gedeckt ist. Aus diesem Gedanken entwickelt Adorno implizit einen Begriff von Revolution, der mit dem, was realgeschichtlich als Kommunismus firmierte, unvereinbar bleibt. Von dem ebenso klassenkämpferischen wie klassenübergreifenden Einverständnis, dass wo gehobelt wird, auch Späne fallen müssen, setzt er sich mit seiner Dialektik der Zartheit ab. „Wäre Kritik der Gesellschaft nur das Interesse einer Klasse und nicht das konkrete der Menschheit, so wäre sie keinen Schuß Pulver wert“, schreibt Adorno. Sehr schön arbeitet Dirk Braunstein im Folgenden das Motiv heraus, das Adorno von Walter Benjamin übernommen hat: Die Revolution meine, ein jedes werde nur um ein Geringes von seinem Ort verrückt. Anhand der Sensibilität, mit welcher der Autor sich diesem Gedanken widmet, wird deutlich, wie genau er das dialektische Verhältnis von Bruch und Kontinuität im Denken Adornos nachvollzogen hat.

„Adornos philosophische, soziologische und kunsttheoretische Arbeiten, und das gilt ebenso für seine musikalischen und literaturtheoretischen Schriften und seine Aufsätze zur Psychoanalyse“, schließt Braunstein sein Buch ab, „sind demnach vor allem als Modelle einer gesellschaftstheoretisch entfalteten Kritik der politischen Ökonomie zu begreifen.“ Ihnen allen ist die Nötigung zur Philosophie des Nichtbegrifflichen eingeschrieben, oder, wie Adorno in einer Vorlesung festhält: „sagen, was sich nicht sagen läßt.“

Gesagt werden muss allerdings auch, dass das Buch vor Tippfehlern wimmelt. Der transcript-Verlag hat sich mit diesem vom Autor selbst besorgten, also quasi nicht vorhandenen Lektorat einmal mehr als bloße Abwurfstelle für akademische Texte empfohlen. Und das wird zumindest dem Format des besprochenen Buches nicht gerecht.

Dirk Braunstein ? Adornos Kritik der politischen Ökonomie. Transcript Verlag, 444 Seiten.


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