MALEREI: Herausschälen

Vor einigen Jahren schuf der schottische Landschaftsmaler Joe Allen eine Serie mit Portraits berühmter Künstler, die ihn interessiert und durch sein künstlerisches Leben begleitet haben. In dem 2007 von der Galerie Clairefontaine herausgegebenen Ausstellungskatalog „A Special Selection“ beschreibt er das auslösende Moment für dieses plötzlich erwachte Interesse an diesem für ihn eigentlich ungewöhnlichen Motiv. Die Serie sei nicht geplant gewesen, sondern eher als Geschenk praktisch über ihn gekommen. Nach dem Auftrag von zwei, drei Farbtönen habe sich plötzlich Edouard Manet auf seiner Leinwand abgezeichnet, den er danach nur noch aus den Schatten habe herauslösen müssen. Auf die gleiche Art habe sich ihm auf einer frischen Leinwand die Malerin Mary Cassett gezeigt; bei einem erneuten Versuch Chaïm Soutine.

Die Anekdote erinnert an die häufig kolportierte Herangehensweise eines Bildhauers an seinen Rohling, aus dem dieser nur noch das sich ihm aufdrängende Motiv herauszuschälen braucht. Auch wenn dieses Vorgehen für den Außenstehenden nur schwer nachvollziehbar ist und schon fast metaphysische Züge trägt, zeichnet es sich doch auch in Allens Landschaften deutlich ab, ist sogar die philosophische Grundlage seiner Arbeitsweise. Jedem Menschen stellt sich die Realität anders dar, und so spielt Allen durch seine Gemälde, die sich schon hart an der Grenze zum Gegenstandslosen bewegen, mit den Erfahrungen des Betrachters. Aktuell werden im Espace 1 der Galerie Clairefontaine unter dem Titel „Secret Places“ Bilder des 1955 in der Nähe von Glasgow geborenen Schotten gezeigt. Dabei würdigt die Galerie ihn bereits zum siebten Mal in etwas mehr als zwanzig Jahren mit einer Einzelausstellung – offensichtlich auch Ausdruck der Begeisterung der Galeristin Marita Ruiter für Allens Arbeiten.

Präsentiert werden Landschaften, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind, und es zeigt sich, dass Allen nicht nur zaghaft seine Farbpalette erweitert hat, sondern sich auch mutig und mit Erfolg an großformatige Gemälde heranwagt. Bis dato hat er solche Formate auch gemeistert, allerdings zumeist – schon aus pragmatischen Gründen – in kleinere Segmente unterteilt. Dennoch überwiegen Bilder kleinerer Größe mit Kantenlängen von weniger als sechzig Zentimetern. Freilich ändert das nichts, es erleichtert dem Betrachter aber die Konzentration, führt leichter zu einem Versinken, dem unbewussten Wühlen in Erinnerungen und Erfahrungen, die einem das Bild für sich selbst zu erschließen helfen. Der Vergleich mag despektierlich erscheinen, aber es ist fast wie mit den marmorierten Kacheln und Fliesen, aus deren chaotischer Struktur sich während längerem Betrachten plötzlich Ansichten auftun, die nur der eigenen Phantasie entspringen. Allen malt seine Bilder aus dem Gedächtnis, aus der Erinnerung, geprägt von den dabei erfahrenen Eindrücken, und dementsprechend unscharf fallen sie aus. Doch gerade dadurch gibt er dem Betrachter den notwendigen Freiraum sich selbst ein Bild zu machen. Das kann soweit gehen, dass sich eine gewisse Enttäuschung breit macht, wenn man sich unvorsichtig nach dem Titel erkundigt und so aus seiner eigenen Realität auf den Boden von Allens Tatsachen geholt wird. So mag der Titel eine Richtung vorgeben, sollte aber nicht als Grenze verstanden werden.Auf diese Weise öffnen sich innere Landschaften: die der Ausstellung den Titel gebenden geheimen oder geheim gehaltenen Orte, die sonst so oft angekündigt doch nicht gefunden werden können. Joe Allens Landschaften fesseln die Vorstellungskraft, und quasi nebenbei zeigt die Leichtigkeit, mit der ihm dieses Kunststück gelingt, die harte Arbeit, die hinter seiner und im Prinzip jeder ernst zu nehmenden Malerei steckt.

In der Galerie Clairefontaine I, bis zum 2. Juni.


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