Seit zehn Jahren ist die Dublin-II-Verordnung in Kraft. Nun soll das Asylrecht in Europa vereinheitlicht werden. Für Asylsuchende wird sich dadurch kaum etwas verbessern.
Julien Konaté* kennt Europa und sein Asylsystem. Er kennt italienische Aufnahmelager und Polizeireviere, Schweizer Aufnahmeeinrichtungen, französische Grenzpolizisten, deutsche Asylheime und Abschiebegefängnisse, und er kennt das Leben der „Illegalen“ in verschiedenen europäischen Städten. Seit er 2009 Lampedusa mit einem Boot von Libyen kommend erreichte, kämpft der junge Mann aus der Côte d’Ivoire um ein Bleiberecht in Europa. Mehr noch als die Angst vor einer Abschiebung in sein Herkunftsland belastet ihn sein Status als „Dublin-II-Fall“: Seit seiner Ankunft in Italien wurde er viermal dorthin „rückgeführt“, einmal aus der Schweiz und dreimal aus Deutschland. In Italien lebte er zunächst auf der Straße und war dann als „illegaler“ Erntehelfer in Rosarno extremer rassistischer Gewalt ausgesetzt. Heute sagt er: „Alles ist besser als das Leben, das ich in Italien hatte.“
Die vor zehn Jahren in Kraft getretene Dublin-II-Verordnung schreibt vor, dass Asylsuchende nur in dem europäischen Land Asyl beantragen können, in das sie als erstes eingereist sind. Ländern im Zentrum der Europäischen Union bietet diese Regelung die Möglichkeit, zahlreiche Asylanträge wegen Nichtzuständigkeit ohne weitere Prüfung abzulehnen und die Betroffenen in andere EU-Länder auszuweisen. In Deutschland beispielsweise waren 2011 einer Statistik des Flüchtlingsrats zufolge 2.902 Menschen davon betroffen.
Seit ihrem Inkrafttreten sorgt die Verordnung aber auch für Spannungen zwischen den Staaten des Schengen-Raums. Im September 2009 entschied das Bundesverfassungsgericht, Abschiebungen nach Griechenland bis 2014 auszusetzen, da menschenrechtliche Mindeststandards dort nicht erfüllt seien. Wissenschaftler vom Netzwerk für kritische Migrationsforschung sprechen von einer „Krise Schengens“. Die Aufnahme von Flüchtlingen und die Durchführung von Asylverfahren werde zum Großteil von Ländern am südlichen Rand der EU getragen, die seit Beginn der europäischen Schuldenkrise zudem mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert sind.
Bisher weigerten sich Länder ohne eigene EU-Außengrenze wie Deutschland, Frankreich und Luxemburg, Konsequenzen aus der Lage von Asylsuchenden in diesen Ländern zu ziehen und mehr Menschen aufzunehmen. Gleichzeitig versuchten Länder wie Italien in besonders angespannten Situationen, den Druck auf die nördlichen Staaten der EU zu erhöhen. Migration werde so zu einem „Unterpfand“ bei Verhandlungen zwischen EU-Staaten, urteilt das Netzwerk für kritische Migrationsforschung.
Als Reaktion auf die Krisenerscheinungen wurden von der Europäischen Kommission 2012 insgesamt fünf Richtlinien auf den Weg gebracht, die für eine „Harmonisierung“ der Asylverfahren in den Mitgliedstaaten sorgen sollen. So wurden im vergangenen Jahr Änderungen der Dublin-II-Verordnung beschlossen und eine „Aufnahme- und Qualifizierungsrichtlinie“ im Ausschuss vorab abgestimmt, wodurch die Aufnahme- und Anerkennungsbedingungen von Asylsuchenden vereinheitlicht werden sollen. Darüber hinaus wird über eine gemeinsame Verfahrensrichtlinie für den Ablauf von Asylverfahren verhandelt und über die Nutzung der Eurodac-Datenbank. In dieser Datenbank werden Fingerabdrücke aller Asylsuchenden und sich „irregulär“ in der EU aufhaltenden Menschen über 14 Jahren erfasst. Sie dient der Kontrolle, ob eine Person bereits in einem anderen als dem Ersteinreiseland Asyl beantragt oder zuvor gegen Aufenthaltsrichtlinien verstoßen hat. Verhindert werden soll, dass Asylanträge in mehreren EU-Mitgliedstaaten gestellt werden.
Die anstehenden Entscheidungen im Europa-Parlament sind weit von den Ideen der Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung entfernt.
Die Abstimmungen wurden mehrmals vertagt und sollen nun als „Gemeinsames europäisches Asylsystem“ (GEAS) vor Mitte des Jahres dem Europa-Parlament vorgelegt werden. Grund für die Verzögerung sind nach Aussage von Steeve Peers von „Common European System Statewatch“ Verhandlungen über Zugeständnisse einzelner Staaten.
In der Neufassung der Dublin-II-Verordnung (Dublin III) sollen Schwangere, unbegleitete Minderjährige und andere „besonders schutzbedürftige Personen“ von Abschiebungen in EU-Mitgliedstaaten ausgenommen werden, wenn sie dort keine Familienangehörigen haben. Außerdem soll es für Asylsuchende künftig möglich sein, gegen ihre Abschiebung in einen EU-Mitgliedstaat zu klagen. In der Aufnahmerichtlinie sollen soziale Mindestbedingungen für die Aufnahme von Flüchtlingen geregelt werden, die die Sozialleistungen und den Zugang zu legaler und bezahlter Arbeit ebenso betreffen wie die Unterbringung und eine mögliche Inhaftierung. Vor allem wegen des letzteren Aspekts wird die Aufnahmerichtlinie kritisiert. Pro Asyl weist darauf hin, dass die sechs dort aufgeführten Haftgründe eine drastische Erweiterung der bisherigen Möglichkeiten bedeuten, Asylsuchende zu inhaftieren. Außerdem soll auch die Inhaftierung Minderjähriger möglich sein.
Insbesondere Deutschland möchte die Neuregelungen in einem „Gesamtpaket“ abstimmen lassen, um durch Zugeständnisse in einzelnen Punkten, beispielsweise bei der Herabsetzung der Frist für den Zugang zum Arbeitsmarkt von zwölf auf neun Monate, abweichende Vorstellungen in anderen Punkten durchsetzen zu können. Dem deutschen Bundesinnenministerium geht es vor allem um die rechtliche Absicherung des Eilasylverfahrens an Flughäfen und den erweiterten polizeilichen Zugriff auf die in der Eurodac-Datenbank gespeicherten Fingerabdrücke. Im jüngsten Entwurf der Europäischen Kommission sollen die Fingerabdrücke aller ohne formale Einreiseerlaubnis eingereisten Personen automatisch auch der Strafverfolgung dienen.
Wenn Konaté auf die vergangenen Jahre zurückschaut, überkommt ihn ein Gefühl von Sinnlosigkeit. Es waren Jahre, in denen sich der Kampf ums Überleben in überfüllten Camps und auf der Straße abwechselte mit Zeiten der Stagnation in Sammelunterkünften und im Abschiebegefängnis. Schon alltägliche Dinge, etwa sich in einer Umgebung zurechtzufinden, Kontakte zu knüpfen und anwaltliche Unterstützung zu organisieren, seien unter solchen Bedingungen unglaublich schwierig, sagt er.
Das Netzwerk „Welcome to Europe“ organisierte im vergangenen Jahr eine Kampagne gegen Dublin-II-Abschiebungen. „Es geht uns darum, dass der Wunsch der Flüchtlinge, ihren Asylantrag dort zu stellen, wo ihnen dies sinnvoll erscheint, respektiert wird. Das Dublin-System wird historisch nur einer der vielen untauglichen Versuche sein, Migration zu regulieren und Menschen an bestimmte Orte zu fesseln“, formuliert Bernd Kasparek die Ziele der Kampagne.
Die nun anstehenden Entscheidungen im Europa-Parlament sind allerdings weit von Ideen der Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung entfernt. Die Entscheidung Asylsuchender, wie und wo sie ihr Leben führen möchten, wird in den Kriterien der Migrationsgesetzgebung weiterhin nicht berücksichtigt. Zwar werden kleinere materielle Verbesserungen versprochen, doch statt der Gewährung von Rechtssicherheit werden bei der „Harmonisierung“ der europäischen Asylgesetzgebung vor allem Repressionsmittel vereinheitlicht, die den Handlungsspielraum der Betroffenen weiter reduzieren. Vor diesem Hintergrund ist auch der nächste Vorstoß der Europäischen Kommission in Sachen Grenzschutz zu sehen: „Smart Borders“, eine Datenbank, in der die Fingerabdrücke aller in den Schengenraum einreisenden Nicht-EU-Bürger gespeichert werden sollen.
* Name von der Redaktion geändert.
Lena Müller schreibt Features, Hörspiele und kulturjournalistische Texte. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Timult – Récits, analyses et critiques.