Auch in Argentinien waren Juden zur Zeit des „Dritten Reiches“ unerwünscht. Einige gelangten dennoch ins Land. In „Die versteckten Kinder“ erzählt Diana Wang von jüdischen Kindern, die dem Holocaust entkamen und dort Zuflucht fanden.
Kati ist privilegiert. „Und zwar deshalb, weil meine Cousinen und Cousins bereits 1938 nach Argentinien gingen, so dass ich nicht nur Einzelkind, sondern von da an auch die einzig verbliebene Enkelin war.“ Kati wird 1933 in Budapest geboren. Wie viele ungarische Juden in den Dreißigerjahren lassen sie ihre Eltern taufen. Die Familie legt den Nachnamen Hartenstein ab und nennt sich Hantos. Obwohl sie nicht reich ist, wird Kati verwöhnt. „Zu jener Zeit besaß ich hundert Puppen, meine Kindheit war sehr schön“, sagt sie später im Interview für das Buch „Die versteckten Kinder. Aus dem Holocaust nach Buenos Aires“.
Lange Zeit wiegen sich die Juden in Ungarn in Sicherheit – bis die deutschen Truppen im März 1944 das Land besetzen. Sie können sich nicht vorstellen, wie die jüdische Bevölkerung in den anderen Ländern deportiert zu werden. Dann geht alles sehr schnell. Allein bis Juli 1944 werden 430.000 ungarische Juden in die Vernichtungslager deportiert. Dieses Schicksal drohte auch dem vierjährigen Pedro: „Meine Mutter und ich sollten auf den Transport nach Auschwitz verladen werden. Doch dank des Zufalls konnten wir uns in den Wirren des Be- und Umladens zwischen den Waggons verstecken und so der Deportation entkommen.“ Pedro und seine Mutter werden von einem befreundeten Arzt in einem Sanatorium für an Tuberkulose Erkrankte versteckt.
Kati hält sich derweil in einem Kloster auf. Hanka und Abraham gelingt die Flucht vor den Nazis aus Polen, Michel und Cris Marie kommen von Paris nach Buenos Aires; die siebenjährige Dina legte wohl den weitesten Fluchtweg zurück – über Japan nach Argentinien. Unter anderem aus Ungarn, Polen, Rumänien, Frankreich und Belgien, insgesamt sind es zehn Länder, aus denen die 30 Personen kommen, deren Schicksal die argentinische Autorin in „Die versteckten Kinder“ beschreibt. Das Buch, das vor einigen Monaten auf Deutsch erschienen ist, handelt von jenen Menschen, denen es gelang, als Kinder oder Jugendliche vor den Nazis zu fliehen – und die in Argentinien Zuflucht fanden.
In dem 2004 im spanischen Original veröffentlichten Buch erzählen die 30, die die Shoah überlebten, von der Flucht durch Europa, die sie schließlich nach Südamerika führte. Denn „Flucht war die einzige Möglichkeit“, wie es darin heißt. Es sind Menschen verschiedenen Alters, ihre Erfahrungen sehr unterschiedlich – wie die der Auschwitz-Überlebenden Elsa, die mit 20 Jahren deportiert wurde, oder jene von Claudia, die fünf Jahre alt war, als sie sich in Rom versteckt hielt.
Einige Kinder wie Kati verbrachten noch eine ungestörte Kindheit vor der Judenverfolgung. Als letztere ihren Anfang nahm, begann für sie ein Leben im Verborgenen und mit falscher Identität. Denn nur versteckt konnten sie überleben. „Die versteckten Kinder“ berichten von ihren Erlebnissen während der Kriegsjahre, ihrem Überlebenskampf in den Ghettos, Konzentrationslagern sowie in Verstecken wie Brunnen, Dachböden und in Wäldern, wie zum Beispiel die achtjährige Hanka, die dem Lubliner Ghetto entkam und sich einige Zeit im Wald versteckte. Einige lebten bei Familien, sowohl jüdische als auch nichtjüdische Retter, die sie als ihre eigenen Kinder ausgaben und damit selbst ihr Leben riskierten. Von den Helfern ist die Rede und von Widerstandsnetzen, aber im Mittelpunkt stehen die Kinder selbst. Mit ihren Stimmen sind die einzelnen Geschichten geschrieben, wahre Geschichten.
Die 30 „Kinder“, die „Niños de la Shoa“, sind heute Frauen und Männer im Alter von 63 bis 80 Jahren. Sie sind Mitglieder der argentinischen Vereinigung „Generaciones de la Shoá en Argentina“, deren Vorsitzende Diana Wang ist. Die 1945 als Tochter von Holocaust-Überlebenden in Polen geborene Argentinierin lebt seit 1947 am Rio de la Plata. Sie wurde Psychologin und spezialisierte sich auf Familientherapie. Sie weiß, dass Flucht und Verfolgung bei vielen Betroffenen seelische Spuren hinterlassen haben – wie ein „Steinchen im Schuh“, so der Titel eines Kapitels.
Wangs Buch handelt davon, wie die Kinder auf unterschiedlichen Wegen nach Argentinien gelangten und dort versuchten, ein neues Leben aufzubauen sowie eine neue Heimat zu finden. Doch auch in dem südamerikanischen Land waren sie mit Antisemitismus konfrontiert. Denn Judenfeindlichkeit gab es in Argentinien bereits vor dem Krieg. Radikale Antisemiten wie Santiago Peralta, Leiter der Einwanderungsbehörde, waren in einflussreichen Positionen. Nach der geheimen Verordnung „Circular 11“ aus dem Jahr 1938 war es Juden verwehrt, einzuwandern. Wie viele dennoch ins Land gelangten, ist unbekannt. Viele mussten erneut ihre Identität verbergen und gaben sich daher als Katholiken aus, so auch Diana Wang. In dem vorliegenden Buch ist eine gefälschte Taufurkunde abgebildet, die von einem argentinischen Priester erstellt worden war.
Judenfeindlichkeit gab es in Argentinien bereits vor dem Krieg.
Dagegen duldete und förderte die argentinische Regierung von General Juan Domingo Peron nach dem Krieg die Einreise von Naziverbrechern und Kollaborateuren. Der Historiker Uki Goñi hat in seinem beeindruckenden Werk „Odessa“ diese so genannten Rattenlinien aufgezeigt. Ihnen lag weniger die Untergrundarbeit einer systematischen Organisation, sondern vielmehr ein loses Netzwerk aus mit den Nazis sympathisierenden Beamten, Fluchthelfern und Mitwissern zugrunde. Sie agierten in mehreren Ländern Europas und Südamerikas, vor allem in der Schweiz, aber auch besonders ausgeprägt in Italien und Spanien und mit häufiger Mithilfe der katholischen Kirche – des Vatikans. Die bei ihrer Einreise neunjährige Dina spricht von antisemitischen Lehrern.
Trotzdem hatten die jüdischen Flüchtlinge das Gefühl, in Argentinien sicher zu sein. In dem Land gibt es die größte jüdische Gemeinschaft ganz Lateinamerikas.
Dennoch befanden sich unter den Opfern der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 überproportional viele Juden. Einige Überlebende des Holocaust hatten Kinder, die zu den „Desaparecidos“, den so genannten Verschwundenen der Diktatur gehörten. „Mit der Rückkehr zur Demokratie schien der Alptraum 1983 zu Ende zu sein“, schreibt Wang. Doch nicht zuletzt wurden in den Neunzigerjahren in Buenos Aires zwei der schwersten antisemitisch motivierten Attentate seit dem Ende des Nationalsozialismus verübt: Bei den Bombenanschlägen auf die israelische Botschaft 1992 und auf das jüdische Kulturzentrum AMIA 1994 starben insgesamt 114 Menschen, mehr als 500 wurden verletzt.
Was die berüchtigte Verordnung „Circular 11“ betrifft: Sie wurde offiziell erst 2005 annulliert, und der damalige Präsident Nestor Kirchner entschuldigte sich bei der jüdischen Gemeinde in Argentinien. Diana Wang stellte den Antrag, den Eintrag ihrer Religionszugehörigkeit in ihren Einreisedokumenten von 1947 von „katholisch“ in „jüdisch“ zu ändern. Dem Antrag wurde schließlich stattgegeben.
„Die versteckten Kinder“ basiert vor allem auf vor rund zehn Jahren geführten Interviews, besteht aber auch aus eigenen Texten und Notizen, die die einstigen „Niños de la Shoa“ zur Verfügung gestellt hatten. Das Buch ist also mehr als eine reine „Oral History“. Manche der Personen kennen ihre Flucht nur noch aus den Erzählungen anderer. Umso wenig einheitlich ist das Buch, was die Vielfalt der einzelnen Schicksale unterstreicht.
Die einzelnen Berichte sind chronologisch gegliedert: Auf das Leben vor dem Krieg folgen das Ende der bekannten Welt und Kapitel, die mit „Im Ghetto“, „Im Lager“ oder „Fluchten“ überschrieben sind. Im Anhang ist auch die Geschichte von Zenus aus Polen zu finden. Erzählt hat sie sein Bruder, der 1945 zur Welt kam und der immer noch hofft, dass sich Zenus einmal melden wird. Er gibt die Mail-Adresse von Diana Wang an.
Jedes Kapitel behandelt einen bestimmten Zeitabschnitt, was einen ständigen Perspektivenwechsel bedeutet und die Geschichten besonders lebendig macht, weil es eine monotone Vereinheitlichung des Erzählten verhindert. Vor jedem Bericht ist das Alter der jeweiligen Person zum Zeitpunkt des Erlebten angegeben. Mittels eines Verzeichnisses im Anhang kann der Leser jedes Schicksal verfolgen. So auch das von Kati, die zuerst in Ungarn als Katholikin aufwuchs, ihre jüdische Identität in den ersten Jahren in Argentinien noch verbarg und heute ein aktives Mitglied der jüdischen Gemeinschaft ist.
Vieles mussten die „Kinder“ aufgeben, nicht nur ihr altes Leben. Von einigen starben die Eltern oder der Großteil der Familie. In einem „Fotoalbum“ in der Mitte des Buches wird daran ebenso erinnert wie an die Ankunft und die ersten Jahre in Argentinien. Warum von den 30 Personen 22 weiblich sind, hat einen einfachen Grund: Die jüdischen Jungen waren beschnitten. Damit trugen sie ein Merkmal am Körper, das es erschwerte, sich hinter einer christlichen Identität zu verstecken. Um ihrer Entdeckung zu entgehen und dem Genozid zu entkommen, mussten sich einige Jungen den ganzen Krieg über als Mädchen verkleiden.
Die Berichte der „Kinder“ sind persönlich und nicht selten intim. Eine weiter gehende Analyse hat die Autorin vermieden. Dies kann als Manko ausgelegt werden. Andererseits erhebt Diana Wang an keiner Stelle diesen Anspruch. Ihre Arbeit ist nicht gleichzusetzen mit dem Historiker Uki Goñi, der mit „Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Verbrecher“ einen Meilenstein gelegt hat. Aber ihr Buch ist ein lebendiges Mahnmal unterschiedlicher, wahrer Erzählungen.
Diana Wang hat gut daran getan, sich nicht als Wissenschaftlerin zu präsentieren, denn zu Beginn in der Einleitung versucht sie sich kurz als Historikerin, die behauptet, der Zweite Weltkrieg hätte aus zwei Kriegen bestanden – aus dem eigentlichen Krieg einerseits und der Judenverfolgung andererseits. Doch das sind zu vernachlässigende Eigentümlichkeiten, die den wenn auch nicht literarisch, aber zumindest informativen und zum Nachdenken anregenden Gehalt des Buches kaum schmälern.
Diana Wang – Die versteckten Kinder. Aus dem Holocaust nach Buenos Aires. Übersetzt aus dem Spanischen von
Sylvia Carmen Degen. Hentrich & Hentrich, 348 Seiten.