BRASILIEN: „Weniger Fußball, mehr Politik“

Zwei Wochen lang wurde die brasilianische Sozialrevolte weit aufmerksamer von der Weltöffentlichkeit verfolgt als der Confed-Cup. Eine Auf- und Nachlese von den Zentren des Protests.

Nicht nur Fußball ist ein Teamsport: Demonstration während des Confederations Cup in Brasilien

Es scheint die Zeit der großen Worte zu sein. „Ich denke, das sind keine Proteste. Das ist eine Revolution.“ Der Flaggenverkäufer, der anonym bleiben will, blickt über seine Clownsnase hinweg auf die Praça Alencastro mitten in Cuiabá. Die Hauptstadt des Bundessstaats Mato Grosso füllt sich zur Stunde, an diesem 20 Juni, mit Menschenmassen. „Im ganzen Land finden heute Kundgebungen statt.“ Auch er selbst ist nicht bloß hier, um seine Fahnen los zu werden. „Ich demonstriere auch – gegen alles, was hier verkehrt läuft: Politiker, die sich die Taschen vollstopfen, das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung.

Zwei Stunden später setzt sich ein Zug aus 50.000 Menschen in Bewegung: die größte Demonstration in der Geschichte Cuiabás. Die Protestwelle, die zwei Wochen zuvor im 1.500 Kilometer entfernten São Paulo mit Kundgebungen gegen Fahrpreiserhöhungen begann, hat den dünn besiedelten Westen Brasiliens erreicht. Der heutige Tag ist der bisherige Höhepunkt: in 100 Städten folgen mehr als eine Million Menschen der Parole der Demonstrationen: vem na rua – kommt auf die Straße – der jetzt auch durch Cuiabá schallt.

Von solchen Zuständen haben die jungen Frauen in roten T-Shirts immer geträumt, die mit ein paar Genossen den Platz verlassen. Jordânia Chagas und Kamila Terres, beide 20 Jahre alt, gehören der sozialistischen Studentenorganisation „Alternativa Estudantil Pela Base (AEB)“ an. Erstmals seit dem Ende der Militärdiktatur 1985, sagt Kamila Terres, gehen so viele Menschen in Brasilien auf die Straße. Wie schnell sich die Welle der Proteste ausgedehnt hat, überrascht auch sie. Ihr Fazit ist deutlich: „Das Land ist erwachsen geworden.“ Bei der Frage nach ihren Motiven muss Jordânia Chagas nuancieren. „Eigentlich ist der Sozialismus das Ziel. Aber der Ansatzpunkt ist nun der Kampf gegen die Korruption.“

Ein Blick über das Meer der Transparente und Slogans zeigt, warum dieser Kampf das Amalgam der heterogenen Bewegung ist. „Wir wollen Qualität bei den Öffentlichen Dienstleistungen“, heißt es dort, und „Game Over: Gesundheit und Bildung? oder „Einheitliches Gesundheitssystem: 100 Prozent öffentlich“. Auch ein „Privatisierung Nein“ ist zu sehen, und immer wieder Schilder mit der rot umkreisten, durchgestrichenen Aufschrift „PEC 37“. Dieses umstrittene Gesetzesvorhaben soll die investigativen Befugnisse der Staatsanwaltschaft einschränken. Aktivisten beurteilen das Vorhaben als Erleichterung der Korruption.

Das geflügelte Wort vom „pais do futuro“ wurde bislang gerne mit dem ironischen Zusatz versehen, dass Brasilien für immer das „Land der Zukunft“ bleiben würde.

Der Menschenstrom, der sich jetzt über die breiten Avenidas der Stadt ergießt, ist das Recken und Strecken eines Riesen. Schon in der Nationalhymne feiert sich Brasilien als „gigante“, und das Bild des „schlafenden Riesen“ wurde lange bemüht, wenn es um das Potenzial des fünftgrößten Landes der Welt ging. Genau daran knüpfen Spruchbänder und Plakate an. „Der Gigant ist erwacht und wird nicht mehr schlafen“, verkünden sie, und: „Der Gigant manifestiert sich.“ Akustisch greift er dabei zu Gashupen, die in einem anarchischen Orchester von überall her klingen.

Der Vergleich mit dem Riesen, der sich nach langem Ruhen nun aufmacht Geschichte zu schreiben, gefällt auch der Regierung in Brasilia. Nur, dass sie dabei etwas ganz anderes im Sinn hat. Seit Jahren verbreiten sich die Geschichten vom Aufschwung, vom Boom gar, auch jenseits des Atlantik. Wachstumszahlen, von denen Europa nur noch träumen kann, sollen belegen, dass Brasilien längst mehr ist als ein Schwellenland. Vielleicht schickt man sich gar an, das Versprechen vom „pais do futuro“ endlich einzulösen? Das geflügelte Wort wurde bislang gerne mit dem ironischen Zusatz versehen, dass Brasilien für immer dieses „Land der Zukunft“ bleiben würde.

Mit wahrlich gigantischen Paukenschlägen wollte man diese Entwicklung auf internationalem Parkett unterstreichen: mit den beiden weltgrößten Sportevents innerhalb von zwei Jahren, mit der Fußball-WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016. Diese sollten das Land endgültig in den globalen Fokus rücken. Stattdessen jedoch gerieten die milliardenschweren Projekte für Bau- und Infrastruktur in den Fokus der Protestbewegung; zu einer Zeit, als die Augen der Welt sich auf Brasilien zu richten begannen. Wenige Tage nach den ersten Kundgebungen begann der Confederations-Cup, ein sportlicher und organisatorischer WM-Testlauf.

Bald schon hatte die „Copa das Confederações“ daher ihren Spitznamen weg: Copa das Manifestações. Das steht auch auf dem Plakat eines jungen Demonstranten in Cuiabá zu lesen. Zwar ging das Turnier an der Stadt vorbei, doch bei der WM wird sie vier Gruppenspiele ausrichten, wofür eigens ein zwei Millionen-Euro-Stadion gebaut wird, viel zu groß für die lokalen Dritt- und Viertligisten. Und so sieht man auf der Praça Alencastro also eine Frau mittleren Alters, die ein Schild hochhält mit den Worten: „Ich will keine Arena, ich will Bildung.“ Wenige Meter daneben zählt ein Display auf einer langen, roten Säule die Tage herunter, bis die „FIFA-WM“ nach Cuiabá kommt: noch 357.

In den Metropolen im Osten Brasiliens entwickelten die Proteste eine andere Dynamik: in São Paulo kam es zu Plünderungen, Rio de Janeiro erlebte einen exzessiven Tränengaseinsatz, und in Ribeirão Preto wurde ein junger Demonstrant von einem wütenden Autofahrer überrollt und starb. Dass die Fahrpreiserhöhungen in mehreren Städten rückgängig gemacht wurden, dass Präsidentin Dilma Rousseff in einer TV-Ansprache verbale Zugeständnisse machte, konnte den Protesten nichts von ihrer Schärfe nehmen. Das galt auch für die Abstimmung über das Gesetzesvorhaben PEC 37, das Ende Juni im Parlament beinahe einhellig abgelehnt worden war.

„Ich will keine Arena, ich will Bildung.“

Kurz zuvor war es rund um das letzte Vorrundenspiel in Belo Horizonte zu schweren Straßenkämpfen gekommen. Die Polizei griff zu Pfefferspray und Gummigeschossen, Demonstranten zu Steinen. Es gab 15 Verletzte.

Ausgerechnet hier soll das brasilianische Team wenige Tage später, am 26. Juni, im Halbfinale gegen Uruguay antreten. Nicht nur Stürmer Fred, der lange in Belo Horizonte spielte und wie mehrere Kollegen aus der Seleção den Demonstranten seine Solidarität erklärt hat, macht sich Sorgen. Vor dem Spiel haben die Zeitungen seinen Appell für „eine friedliche Kundgebung ohne Konfrontation“ ausgedruckt. Eine weitere Randnotiz vor dem Halbfinale: aus Sicherheitsgründen lässt die FIFA vor Ort die offiziellen Kennzeichen von ihren Dienstwägen entfernen.

Mit der Trägheit eines Feiertags ist die Hauptstadt des Bundesstaats Minas Gerais an diesem Morgen aufgewacht. Zu einem solchen Tag hat die Stadt den 26. Juni spontan erklärt, um den Effekt der erwarteten Eskalation abzufedern. Am späten Vormittag deuten die ockerbraunen Uniformen der Policia Militar an, dass es mit der Ruhe bald vorbei sein könnte. In kleinen Gruppen stehen sie an Kreuzungen und Straßenecken auf dem Weg ins Zentrum. Ein junger Mann, der seine Anonymous-Maske um den Hals gehängt hat, weckt ihren Verdacht. Es sind solche Accessoires, die Brasiliens Demonstranten mit globalen Protestbewegungen verbinden. Erst nach einer warnenden Ansprache lassen die Polizisten den Mann und seine Freundin gehen.

Vander Miguel und Marianna Martins, so heißen die beiden, ziehen weiter zur Praça Sete, wo am Mittag die Kundgebung beginnt. Unterwegs erzählen sie von einem Bewusstseinswandel bei der Jugend des Landes, den Vander Miguel so beschreibt: „Weniger Fußball, mehr Politik.“ Nicht ganz zufällig wählt er diese Worte. Unterhalb der Anonymous- Maske nämlich flattert eine brasilianische Fahne um die Schultern des Studenten der Verwaltungswissenschaft. „Verliebt in Fußball“ ist auch er. Was ihn aber nicht davon abhielt, ein Plakat zu malen: „Japan, ich tausche unseren Fußball gegen deine Bildung ein“, steht darauf. Im Eröffnungsspiel gewann Brasilien gegen den Asien-Meister mit 3:0.

Marianna Martins, die Architektur studiert, geht es ähnlich. Doch das Halbfinale heute interessiert sie nicht. „Das Leben der Menschen ist wichtiger.“ Genau diese Akzentsetzung hat bei der Architekturstudentin eine Politisierung im Zeitraffer verursacht. Während ihr Freund sich bereits länger in kritischen Kreisen aufhielt, gehört sie zu den „Achtzig, neunzig Prozent“, denen die Proteste in diesem brasilianischen Winter zur Initiation wurden – und die damit gleich mitten im Fokus der internationalen Öffentlichkeit gelandet sind. Sie fordern „dringend nötige Reformen, und zwar in allen Bereichen: Transport, Gesundheit, Bildung und Sicherheit“. Und Vander Miguel merkt an: „Die FIFA ist nur die Spitze des Eisbergs der Probleme hier.“

Doch einige Geschäfte in der Avenida Alfonso Pena sind an diesem kurzfristig ausgerufenen Feiertag nicht nur geschlossen, sondern auch regelrecht verbarrikadiert. In Betrieb sind nur zwei Buden, die brasilianische Trikots und allerlei grün-gelbe Fan-Devotionalien anbieten. Ein paar Skater nutzen den ungewohnten Freiraum auf einer der Hauptverkehrsadern der Stadt, sie kreuzen zwischen ankommenden Demonstranten und Getränkeverkäufern, die schwitzend ihre Karren auf den Platz schieben. Spannung hängt über der Praça Sete, um deren Monument sich bereits ein paar hundert Menschen mit Spruchbändern tummeln. Darüber kreisen schon seit dem späten Vormittag die Polizeihubschrauber in der Luft.

Und dann sind da wieder diese langgezogenen Vokale, „ve-eem, ve-eem, vem pra rua, ve-eem!“, tönt es Passanten und Schaulustigen entgegen. Die Stimmung ist eine andere als vor einer Woche in Cuiabá, wo die Menge vor allem aus Schülern und Studenten bestand. Mehr rote Fahnen gibt es, mehr linke Gruppierungen wie die „Mulheres em Luta“, „Frauen im Kampf“, deren Protest sich gegen „Kapitalismus und Machismus? richtet. Aber auch hier ist die Speerspitze die Forderung nach einem Ende der Korruption und dafür, dass öffentliche Gelder gerecht verwendet werden. Und immer wieder wird die Fahne gezeigt, schwenkend, um Schultern gehüllt, zusammen mit den Trikots von Ronado, Ronaldinho und Neymar.

Gegen ein Uhr macht sich die Demonstration auf den Weg. Zehn Kilometer sind es bis hinaus ins brandneue Stadion Mineirão, wo drei Stunden später das Halbfinale beginnen wird. Die Konstellation ist klar: während dieses Confederation Cup ist es zum Ritual der Protestierenden geworden, möglichst nahe an die Spielstätten zu kommen und wenn möglich den Zugang dorthin zu versperren. Genau dies wiederum wollen die Hundertschaften der Policia Militar in voller Kampfmontur verhindern, die sich unterhalb des Stadions in Position bringen. Über eineinhalb Kilometer haben sie die Zufahrtsstraße in Richtung Innenstadt mit einem wahren Gitterwald abgesperrt.

„Die FIFA ist nur die Spitze des Eisbergs der Probleme hier.“

Hoch darüber thront das Stadion. Die Formel „wie eine Festung“ trifft die Sache nicht: Das Mineirão ist an diesem Nachmittag eine Festung im genauen Sinn. Als die ersten von mehr als 50.000 Demonstranten bei den Barrikaden eintreffen, hält der joviale Einsatzleiter eine politische Rede, die irgendwie wenig Gutes verheißt: Er appelliert an „eine friedliche und demokratische Demonstration?, spricht davon, „zusammen eine neue Demokratie aufzubauen“.

Im Stadion werden derweil die Kinder ausgepfiffen, die mit der Flagge der FIFA einlaufen. Ansonsten sieht man dort nichts von den Protesten. Als knapp 60.000 Menschen zwei Stunden später aus der Arena in die Dunkelheit treten, merken sie bloß an den abgesperrten Zufahrtswegen und ausgefallenen Bussen, dass die allseits befürchtete Eskalation eingetreten ist: Straßenkämpfe um das Stadion und im Zentrum, Einbrüche in Geschäfte und Autohandlungen, ein Demonstrant stürzt von einer Brücke und stirbt.

Abends treffen Marianna Martins und Vander Miguel wieder im Stadtzentrum ein. „Es war Krieg?, stoßen sie hervor. Sie sind gezeichnet von dem, was sie gesehen haben, aber unversehrt. Zurück zur Praça Sete wollen sie heute nicht mehr. Dort halten die letzten hundert Demonstranten das Monument besetzt. Brasilianische Flaggen sind jetzt nicht mehr zu sehen, stattdessen rüsten sich einige mit Gasmasken für einen Tränengasangriff. Dazu kommt es nicht mehr: mit einer massiven Übermacht riegelt die Policia Militar die Gegend ab. Bis in den späten Abend dröhnen die Hubschrauber am Himmel von Belo Horizonte, der seinem Namen heute keine Ehre macht.

Vander Miguel lässt sich immerhin den Sinn für Poesie nicht nehmen. Er zitiert ein berühmtes Gedicht von Carlos Drummond de Andrade: „In der Mitte des Weges lag ein Stein. Ein Stein lag in der Mitte des Weges.? Dann grinst er. „Wir haben die Zeilen geändert: Mitten auf dem Weg lag eine Copa. Mitten in der Copa fanden wir einen Weg.

Entscheidend für die Bewegung wird, was sich jetzt entwickelt, nun da am Sonntag die Copa das Manifestações mit einem von einer relativ kleinen Demonstration begleiteten Finale zu Ende gegangen ist. Der Confederations Cup ist vorbei, doch die sozialen Probleme bleiben, auch nachdem die Augen der Welt nicht mehr ständig darauf gerichtet sind, wie die Policia Militar sich ihre „neue Demokratie“ vorstellt, die sie an diesem Nachmittag in Belo Horizonte beschwor. Doch spätestens zum Beginn der WM am 12. Juni nächsten Jahres wird man sich wohl auch international wieder für die sozialen Verhältnisse in Brasilien interessieren – zumindest, solange das Turnier währt.

Tobias Müller berichtet regelmäßig für die woxx aus Belgien und den Niederlanden. Zurzeit ist er allerdings in Brasilien unterwegs, von wo aus uns diese Reportage erreicht hat.


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